Landeszeitung Lüneburg: ,,Vollbeschäftigung nur unter bestimmten Bedingungen" -- Interview mit dem Arbeitsmarktexperten Prof. Dr. Uwe Blien (IAB)
Geschrieben am 06-08-2009 |   
 
    Lüneburg (ots) - Dem Arbeitsmarkt stehen harte Monate bevor. Die  Rezession hat schon im Juli deutliche Spuren hinterlassen. Nur dank  der Kurzarbeit konnte der Arbeitsmarkt stabilisiert werden. Mitten in diese Krisenstimmung hinein platzierte die SPD ihren  ,,Deutschland-Plan", in dem von bis zu vier Millionen neuen  Arbeitsplätzen bis 2020 ausgegangen wird und somit das Ziel  Vollbeschäftigung erreicht wäre. Der Plan ist ,,eher optimis"tisch  und nur unter bestimmten Bedingungen realistisch", sagt Prof. Dr. Uwe Blien im Gespräch mit unserer Zeitung. Es komme darauf an, die  Wirtschaft dort zu fördern, wo ,,die Nachfrage elastisch" ist, sagt  der Experte vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB).
     Die SPD hat in ihrem ,,Deutschland-Plan" Vollbeschäftigung als  Ziel ausgegeben. Wie ist Vollbeschäftigung eigentlich definiert? Prof. Dr. Uwe Blien: Es gibt keine Einigkeit unter den Experten. Aber man geht davon aus, dass eine gewisse Zahl an Arbeitslosen  unvermeidbar ist --- allein dadurch, dass Leute ihren Job wechseln  oder nach einem Abschluss auf Stellensuche sind. Demnach ist  Vollbeschäftigung bei einer Arbeitslosenquote von rund drei Prozent  gegeben. Ein Wert, der übrigens in der Vergangenheit in einigen  Regionen Deutschlands erreicht worden ist.
     Drei Prozent Arbeitslosenquote -- entspricht das ungefähr einer  Million Arbeitslosen? Blien: Ja, in etwa.
     Bundesarbeitsminister Scholz hat kürzlich gesagt, dass  Vollbeschäftigung erreicht wäre, wenn kein Erwerbsloser länger als  ein Jahr auf eine neue Stelle warten müsste. Blien: Bis zu einem Jahr Arbeitslosigkeit wäre eine sehr weite  Definition von Vollbeschäftigung. Die Definition ist meiner Meinung  nach enger zu fassen. Aber, wie bereits erwähnt, gibt es keine  Einigkeit über den Begriff Vollbeschäftigung.
     Laut Frank-Walter Steinmeier sollen allein zwei der vier Millionen neuen Jobs in der Industrie entstehen. Wie realis"tisch ist dieses  Ziel? Blien: Ich habe mir das Konzept von Herrn Steinmeier angesehen und  denke, dass es eher optimistisch ist und nur unter bestimmten  Bedingungen rea"listisch sein könnte. Zu diesen Bedingungen zählt,  dass man darauf achtet, die Wirtschaft dort zu fördern, wo die  Marktnachfrage elastisch ist. Elastisch bedeutet, dass eine  Preissenkung von einer starken Expansion der Nachfrage begleitet ist. Bei Preissenkungen als Konsequenz von technischem Fortschritt würde  die Nachfrage überproportional steigen und in der Folge Jobs  entstehen. Trifft technischer Fortschritt allerdings auf inelastische Nachfrage, würden Jobs abgebaut werden. Es kommt also darauf an,  Bereiche elastischer Nachfrage zu erschließen.
     Welche Bereiche sind das? Blien: Insbesondere innovative Bereiche, die in ihrem Produktzyklus  noch ganz am Anfang stehen. Hier gibt es übrigens ein Strukturproblem der deutschen Wirtschaft: Wir sind im Allgemeinen sehr  konkurrenzfähig bei Produkten, die bereits eingeführt sind. Andere  Ökonomien, insbesondere die USA, befassen sich aber stärker damit,  neue Produkte auf den Markt zu bringen, die eine große Nachfrage  auslösen können.
     Bundesumweltminister Sigmar Gabriel hat schon vor einem Jahr von  einem Jobwunder im Ökologie-Bereich gesprochen und prognostizierte  500000 neue ,,grüne? Jobs bis 2020. Ist das realistisch? Blien: Das kommt darauf an, wie die weitere Entwicklung gestaltet  wird. Wenn es etwa im Bereich erneuerbarer Energien gelingt, echte  Kostenvorteile für die Bürger zu schaffen, könnte die Nachfrage  schnell steigen. Dann könnte es in der Tat ein grünes Jobwunder  geben. Wenn es der Politik aber nur darauf ankommt, zum Beispiel neue Umweltstandards zu erreichen, könnten bis zur Umsetzung des Ziels  zwar einige hunderttausend Arbeitsplätze entstehen. Ist dieser  Standard aber erreicht, würde weiterer technischer Fortschritt zu  einem nachteiligen Effekt führen: Der Standard könnte mit deutlich  weniger Arbeitskräften gehalten werden, es käme also wieder zu einem  Stellenabbau. Nur wenn tatsächlich eine Nachfrage nach  umweltfreundlichen Produkten oder auf dem Feld der erneuerbaren  Energien induziert werden kann, könnte das Jobziel dauerhaft erreicht werden.
     Im Deutschland-Plan visiert die SPD auch eine Million neue  Arbeitsplätze im Gesundheitsbereich an. Ist das nicht unrealistisch? Blien: Ich glaube schon, dass der Gesundheitsbereich zu den Feldern  gehört, wo eine elastische Nachfrage zu erwarten ist. Mit höherer  Lebenserwartung, aber auch mit höheren Einkommen können die Bürger  von den Gebieten des täglichen Bedarfs umschalten auf anspruchsvolle  Leistungen im Bereich des Gesundheitswesens oder der Altenpflege.  Hier könnten also viele neue Arbeitsplätze entstehen.
     Deutschland soll laut der SPD zum Silicon Valley umweltschonender  Industrieproduktion werden. Gleichzeit fehlen aber schon heute rund  80000 Fachkräfte. Widerspricht sich das nicht ein bisschen? Blien: Das ist in der Tat ein Widerspruch. Es kommt darauf an, die  Qualifikation der nachwachsenden Kohorten auf dem deutschen  Arbeitsmarkt zu verbessern. Dieses Ziel ist auch im  Steinmeier-Konzept genannt.
     Grundsätzlich kann die Politik nur den Rahmen für ein Jobwunder  vorgeben. Wo besteht noch Verbesserungsbedarf? Blien: Es muss eine abgestimmte Vorgehensweise zwischen  unterschiedlichen Politikbereichen geben. Dazu zählt in erster Linie  eine starke Technologie- und Bildungsförderung für jene Teile der  Wirtschaft, bei denen die bereits genannten Bedingungen erfüllt sind. Auch hier finden sich übrigens Andeutungen im Steinmeier-Konzept.
     Ist der Handlungsspielraum des Staates angesichts der hohen  Verschuldung nicht schon zu stark eingeengt? Blien: Das ist der Tat ein gravierendes Problem, das auf jede neue  Regierung zukommen wird. Im Herbst und Winter steht der Arbeitsmarkt vor schweren Zeiten, die  Erwerbslosenquote soll deutlich steigen und damit auch das Defizit  der Bundesagentur für Arbeit, dass sich dann auf mehrere Milliarden  Euro belaufen dürfte. Gehen Sie von steigenden Arbeitslosenbeiträgen  im kommenden Jahr aus? Blien: Das ist in erster Linie eine Frage der  Finanzierung. Entweder wird es zu einer Erhöhung kommen, oder das  Defizit wird aus Mitteln des Staates gedeckt, das heißt, die  Bundesgarantie würde greifen.
     Bei einem Jobwunder käme auch auf die Bundesagentur für Arbeit  viel Arbeit zu. Ist die BA dafür gut gerüstet? Blien: Die Bundesagentur hat schon in den vergangenen Jahren enorme  Anstrengungen unternommen und es wird laufend weiter verbessert. Ich  glaube, es bestünden gute Chancen, den Bedarf erfüllen zu können.
     Was ist dran an den Meldungen dass der BA die Vermittler  davonlaufen? Blien: Das Problem besteht in der Tat bei den großen Jobcentern, die  sich um Arbeitslosengeld II-Bezieher kümmern. Hier hat die Politik  versäumt, den Beschäftigten eine klare Perspektive zu geben, wie es  künftig weitergehen wird. Weil die Mitarbeiter nicht wissen, ob die  Arbeitsgemeinschaften von Arbeitsagenturen und Kommunen aufgelöst  werden, sehen sich viele nach anderen Jobs um. Außerdem gibt es bei  den Jobcentern viele befristete Arbeitsverträge auch dies erhöht die  Fluktuation.
     Die SPD hat vorgelegt. Gehen Sie davon aus, dass die anderen  Parteien nachziehen werden und es eine Art Wettbewerb um das  ehrgeizigste Ziel auf dem Arbeitsmarkt gibt? Blien: Unabhängig von einem derartigen Wettlauf gilt, dass es sehr  schwierig werden wird, das Ziel Vollbeschäftigung zu erreichen. Zum  einen lassen sich Konjunkturprobleme der Weltwirtschaft nicht von  heute auf morgen beseitigen. Es kann also sein, dass es bis 2020  wieder zu einer weltweiten Krise kommt, die sich nachteilig auf die  deutsche Wirtschaft auswirkt. Der zweite kritische Punkt ist, dass es eine regionale Problematik gibt: Einige Regionen vor allem in  Ostdeutschland weisen eine bestimmte Eigendynamik auf. Dort lässt  sich Arbeitslosigkeit nicht ohne weiteres derartig reduzieren. Die  Ökonomie von Regionen läuft wie Tanker: Einmal in eine bestimmte  Richtung in Bewegung gesetzt, sind sie nur schwer auf einen neuen  Kurs zu bringen. Hier Vollbeschäftigung innerhalb von zehn Jahren  erreichen zu wollen, wäre ein sehr ehrgeiziges Ziel.
     Das Interview führte Werner Kolbe
  Originaltext:         Landeszeitung Lüneburg Digitale Pressemappe: http://www.presseportal.de/pm/65442 Pressemappe via RSS : http://www.presseportal.de/rss/pm_65442.rss2
  Pressekontakt: Landeszeitung Lüneburg Werner Kolbe Telefon: +49 (04131) 740-282 werner.kolbe@landeszeitung.de
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