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Berliner Morgenpost: Im Trippelschritt durchs Schildkrötenland - Leitartikel

Geschrieben am 25-10-2009

Berlin (ots) - Deutschland ist eine Schildkröte. Unterm
Schutzpanzer liegt ein sensibles Inneres, das Veränderungen nicht
besonders schätzt. Schwerfällig bewegt sich Schildkröten-Deutschland
voran, mit kleinen Schritten, ohne dass eine Richtung zu erkennen
wäre. Sprünge macht das Tier nur, wenn Panik aufkommt oder die Erde
bebt.
"Kleine Schritte", so lautete das Motto der ersten Regierung Merkel
2005. Die neue Regierung schildkrötet einfach weiter. Langsamkeit ist
ein Kontinuum deutscher Politik, stets begleitet vom Gemaule darüber.
"Fehlstart" bemängelt derzeit der "Spiegel", der 1998 nach der Wahl
titelte: "Alles wird anders - aber wird es auch besser?", 2002 die
"Blockierte Republik" kritisierte und 2005 besorgt weissagte, dass
die Kanzlerin ohnehin nichts zu sagen habe. Die Diagnose, alles gehe
den Bach runter, bei Rot-Grün ebenso wie bei Schwarz-Rot oder
Schwarz-Gelb, hat etwas unglaublich Beruhigendes. Denn dann bleibt
alles noch ein Weilchen so wie immer.
Faszinierend, mit welch rührender Naivität sich manche Eliten immer
wieder am Mythos vom großen Wurf berauschen. Steuererklärung auf
Bierdeckeln, Pisa-festes Bildungssystem, Bürgergeld - alles prima,
aber im Schildkrötenland illusorisch. Politik balanciert hier auf dem
Grat zwischen Bürgerzorn und medial gestützter Hysterie, zwischen
ökonomischen Zwängen und Parteilogik. Hektische Bewegungen bedeuten
sicheren Absturz.
Angela Merkel hätte die Wahl 2005 fast vergeigt, weil ihr
Finanzexperte Paul Kirchhof ein neues, einfaches Steuersystem
ankündigte. Gerhard Schröder wurde abgewählt, weil er Hartz
durchsetzte. Helmut Kohl dagegen blieb auch deswegen 16 Jahre im Amt,
weil er Veränderungen vermied und sogar 1990 die Chance zur Reform
der Sozialsysteme ausließ. Dabei öffnete die Einheit eines jener
seltenen Möglichkeitsfenster, in denen das Land bereit ist, größere
Veränderungen mitzumachen.
Bedeutende Reformen entstehen fast nie im Alltag, sondern immer in
den raren Wochen von Angst oder Aufregung, wenn Emotionen stärker
sind als zementierte Abläufe. Die Hartz-Gesetze waren nur machbar,
als die Bundesanstalt für Arbeit mitten in einer Haushaltskrise in
einen wüsten Skandal um falsche Zahlen verwickelt war. Schilys
"Otto-Kataloge", bedenklich weitreichende Sicherheitsgesetze, waren
wie der Bundeswehr-Einsatz in Afghanistan nur in der Folge von "9/11"
zu realisieren.
In den Wochen der Bankenkrise stand das Reformfenster ebenfalls weit
offen. Doch Merkel/Steinbrück haben größere Korrekturen nicht einmal
in Betracht gezogen. In der historischen Rückschau werden Kohls
Zaudern 1990 und Merkels Trippelei Ende 2008 wohl als politische
Unterlassungssünden ähnlicher Güte gewertet. Beide hätten Sprünge
machen können, beließen es aber beim Schildkrötengang. Schröder
dagegen sprang, um den Preis des Untergangs allerdings.
Paradox, aber wahr: Keine Krise ist derzeit groß genug, um
Schwarz-Gelb zu Reformpolitik zu bewegen. Wie immer marschiert die
Schildkröte vorerst langsam weiter.

Originaltext: Berliner Morgenpost
Digitale Pressemappe: http://www.presseportal.de/pm/53614
Pressemappe via RSS : http://www.presseportal.de/rss/pm_53614.rss2

Pressekontakt:
Berliner Morgenpost
Chef vom Dienst
Telefon: 030/2591-73650
bmcvd@axelspringer.de


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