(Registrieren)

Mittelbayerische Zeitung: Leitartikel von Sebastian Heinrich zu Erdogans Twitter-Sperre

Geschrieben am 21-03-2014

Regensburg (ots) - Bis Freitagmorgen war der Kurznachrichtendienst
Twitter in einem einzigen Land verboten: China. Weil die Regierung
Angst hat vor der Macht, welche die weltweit versandten
140-Zeichen-Botschaften entfalten können. Dass die Türkei sich nun
dem größten autokratischen Staat der Welt angeschlossen hat, ist ein
drastisches Indiz, dass Premier Recep Tayyip Erdogan die Demokratie
in seinem Land immer weiter aushöhlt. Vor allem aber ist das
Twitter-Verbot in der Türkei der nächste Ritterschlag für ein Medium,
das in nur acht Lebensjahren eine Macht entwickelt hat, die
Autokraten weltweit den Angstschweiß auf die Stirn treiben kann.
Twitter ist zu einem Sprachrohr für Menschen geworden, die um
Freiheit und Menschenrechte kämpfen. Immer wieder zeigt sich das: Vor
drei Jahren in der arabischen Welt, als sich die Menschen in Algier
oder Kairo via Twitter zu Massenprotesten verabredeten. Anfang dieses
Jahres in der Ukraine, wo die Demonstranten unter dem Hashtag
#Euromaidan ihre Impressionen von den blutigen Straßenschlachten in
Kiew in die Welt zwitscherten. Und 2013 in der Türkei, wo Zeitungen
und TV-Sender sich lange über die Proteste um den Taksim-Platz in
Istanbul ausschwiegen - und die Welt dennoch ständig live bei
#occupygezi dabei sein konnte. Kürze und Geschwindigkeit sind die
Stärken von Twitter. Der Tweet ist der Nachfahre des Flugblatts - nur
tausendfach schneller und millionenfach sichtbarer. Und während man
Flugblätter einstampfen, Druckmaschinen und Kopiergeräte vernichten
konnte, kann man Twitter nicht einfach aus der Welt schaffen. Auch
das zeigt die Twitter-Blockade des digitalen Ignoranten Erdogan. Über
VPN-Netzwerke oder via SMS zwitschert die Opposition munter weiter.
#TwitterisBlockedinTurkey ist am Freitag der beliebteste Hashtag -
weltweit. Twitter macht demokratieallergischen Mächtigen Angst, weil
Bürger Informationen dort ungefiltert weitergeben können. Anders als
Nachrichtenredaktionen lässt sich das Millionenheer der
Twitter-Gemeinde nicht kontrollieren. Ein schmerzhafter Stachel im
Fleisch von Menschen wie Erdogan, die sich am liebsten - frei nach
Brecht - ihr eigenes Volk wählen würden, für das Dinge wie
Meinungsfreiheit, Homosexualität oder Minderheitenrechte keine Rolle
spielen. Es ist kein Zufall, dass in der Türkei mit ihrer großteils
obrigkeitshörigen Medienlandschaft stolze 39 Prozent der
Internetnutzer auf Twitter aktiv ist. Und es ist kein Zufall, dass
unter den fünf twitteraffinsten Länder Europas mit Russland und
Italien zwei Staaten sind, in denen es um die Pressefreiheit nicht
allzu rosig bestellt ist. Vor allem dort, wo die traditionellen
Medien ihren demokratischen Auftrag nicht ausreichend erfüllen, kann
Twitter viel zur Demokratisierung beitragen. Überschätzen darf man
das Netzwerk freilich auch nicht. Selbstverständlich wird Twitter
allein nicht die Welt verändern. Selbstverständlich sind die
Beweggründe für Revolten seit Menschengedenken die gleichen: soziale
Schieflagen, Unfreiheit, Unterdrückung. Und selbstverständlich ist
Twitter nicht nur ein großes demokratisches Instrument - sondern auch
ein virtueller Schulhof, auf dem geltungsbedürftige Promis und
gelangweilte Teenies Belanglosigkeiten austauschen. Und natürlich
steckt hinter Twitter ein milliardenschwerer börsennotierter Konzern
mit wirtschaftlichen Interessen, den es kritisch zu beobachten gilt.
Twitter ist ein Medium, nicht mehr und nicht weniger. Aber eines mit
revolutionärer Macht. Wer es "entwurzeln" will, hat keine Chance. Und
wer es ignoriert, läuft Gefahr, buchstäblich den Anschluss zu
verpassen.



Pressekontakt:
Mittelbayerische Zeitung
Redaktion
Telefon: +49 941 / 207 6023
nachrichten@mittelbayerische.de


Kontaktinformationen:

Leider liegen uns zu diesem Artikel keine separaten Kontaktinformationen gespeichert vor.
Am Ende der Pressemitteilung finden Sie meist die Kontaktdaten des Verfassers.

Neu! Bewerten Sie unsere Artikel in der rechten Navigationsleiste und finden
Sie außerdem den meist aufgerufenen Artikel in dieser Rubrik.

Sie suche nach weiteren Pressenachrichten?
Mehr zu diesem Thema finden Sie auf folgender Übersichtsseite. Desweiteren finden Sie dort auch Nachrichten aus anderen Genres.

http://www.bankkaufmann.com/topics.html

Weitere Informationen erhalten Sie per E-Mail unter der Adresse: info@bankkaufmann.com.

@-symbol Internet Media UG (haftungsbeschränkt)
Schulstr. 18
D-91245 Simmelsdorf

E-Mail: media(at)at-symbol.de

518466

weitere Artikel:
  • Südwest Presse: Kommentar zu Erdogan Ulm (ots) - Die Verzweiflung in der Türkei muss groß sein. Zumindest bei Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan. Der hatte in der Nacht auf Freitag den Kurznachrichtendienst Twitter in seinem Land abschalten lassen. Ein ziemlich hilfloser Versuch, die Regierungsgegner im Land mundtot zu machen. Der Einfluss sozialer Medien auf das politische Geschehen scheint Erdogan in Angst zu versetzen. So hatten auch Protestler in Ägypten Twitter, Facebook und Co. erfolgreich dazu genutzt, den Widerstand voranzutreiben. Regierungsgegner in der mehr...

  • Westfalen-Blatt: Das WESTFALEN-BLATT (Bielefeld) zum Turbo-Abitur Bielefeld (ots) - Es ist ganz einfach eine Sache der Erfahrung. Eltern, Jugendliche und Lehrer können nach neun Jahren Schulalltag mit G 8 ganz genau einschätzen, dass es beim so genannten Turbo-Abitur hakt. Viele Familien können bei Geschwisterkindern vergleichen und erkennen, dass die G 8-Schüler unter höherem Druck stehen als die G 9-Schüler. In Niedersachsen hat die rot-grüne Landesregierung entschieden, zur gymnasialen Schulzeit von neun Jahren zurückzukehren. Das setzt Rot-Grün in Nordrhein-Westfalen unter Druck. In NRW führen mehr...

  • Westfalen-Blatt: Das WESTFALEN-BLATT (Bielefeld) zur Abschaltung von Twitter in der Türkei Bielefeld (ots) - Gut zwei Jahre ist es her, dass der damalige Außenminister Guido Westerwelle (FDP) mal wieder einen Vorstoß unternahm, der Türkei in die EU zu helfen. Das Land habe im vergangenen Jahrzehnt eine »atemberaubende Erfolgsgeschichte« geschrieben, sagte Westerwelle 2012, zu lange schon träten die Beitrittsgespräche auf der Stelle. Schon damals meinten viele, der Liberale liege falsch, spätestens jetzt ist das Gewissheit geworden. Mit seiner Anweisung, den Kurznachrichtendienst Twitter abzuschalten, weil Erdogan-kritische mehr...

  • Westfalen-Blatt: Das WESTFALEN-BLATT (Bielefeld) zur europäischen Energiepolitik Bielefeld (ots) - Europa steht mit dem Rücken zur Wand. Ambitioniert sollte das Modell von Demokratie und Marktwirtschaft nach Osten exportiert werden - bestenfalls ahnend, dass man sich in eine Falle begeben würde. Denn je näher man dem Einflussbereich Moskaus kam, umso größer musste das Risiko sein, zum Opfer der eigenen Abhängigkeit von Russlands gewaltigen Energiereserven zu werden. Jetzt ist es so weit: Die Angst vor einem Griff Putins zum Öl- oder Gas-Hahn beeinflusst die Bereitschaft, sich mit Wirtschaftssanktionen gegen mehr...

  • Lausitzer Rundschau: Mehr Flexibilität Familienministerin Schwesig und das Elterngeld plus Cottbus (ots) - Es ist wahr: Das Elterngeld plus bietet Müttern und Vätern die Möglichkeit, ihr Familienleben deutlich flexibler zu gestalten als bisher. Gerade, was den frühen Wiedereinstieg ins Erwerbsleben durch Teilzeit angeht. Viele angehende Eltern werden sich deshalb über die neue Segnung freuen, weil sie zugleich die Vereinbarkeit von Beruf und Familie stärkt - zumindest dort, wo auch genügend Betreuungsplätze für unter Dreijährige vorhanden sind. Das ist leider noch lange nicht überall der Fall. Die Crux bleibt obendrein: mehr...

Mehr zu dem Thema Aktuelle Politiknachrichten

Der meistgelesene Artikel zu dem Thema:

LVZ: Leipziger Volkszeitung zur BND-Affäre

durchschnittliche Punktzahl: 0
Stimmen: 0

Bitte nehmen Sie sich einen Augenblick Zeit, diesen Artikel zu bewerten:

Exzellent
Sehr gut
gut
normal
schlecht