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Landeszeitung Lüneburg: Die Saat der Agitatoren geht auf David McAllister, EU-Abgeordneter und ehemaliger Niedersächsischer Ministerpräsident, sieht im Brexit einen Weckruf für Demokraten

Geschrieben am 14-02-2019

Lüneburg (ots) - Von Joachim Zießler

Wer die jüngsten Unterhausdebatten zum Brexit verfolgt hat, hörte
fast nur innenpolitische Erwägungen, kaum außenpolitische. Wähnen
sich die Parlamentarier noch auf der Kommandobrücke des Empires?
Europa werde schon irgendwie folgen.... David McAllister: Der Brexit
ist ein historischer Fehler. Aber wenn das Vereinigte Königreich
schon aus der EU ausscheidet, sollte dies in einem geregelten
Verfahren über die Bühne gehen. 18 Monate lang haben London und die
EU-27 verhandelt. Das britische Unterhaus lehnt das Abkommen wegen
der Regeln zum sogenannten Backstop ab, also der
Versicherungsklausel, um eine harte Grenze zwischen Irland und
Nordirland zu verhindern. Nun müssen die britische Regierung und das
Unterhaus einen konstruktiven Weg nach vorne aufzeigen. Das
Austrittsabkommen, der gemeinsam ausgehandelte Kompromiss, sollte
nicht noch mal aufgeschnürt werden. Die Frage, wie die Grenze
zwischen Irland und Nordirland gestaltet werden kann, sollte im
Detail in den Verhandlungen über die künftigen Beziehungen geregelt
werden.

Wie ist zu erklären, dass die immer als vorbildlich betrachtete
Westminster-Demokratie fast drei Jahre verstreichen ließ, bis es zu
partei- und Brexitlager-übergreifenden Gesprächen kam? Die
Debattenkultur im Unterhaus ist sehr konfrontativ. Dass es die
Premierministerin und der Oppositionsführer in einer Frage von
nationaler Bedeutung nicht geschafft haben, bereits früher
vertraulich miteinander zu sprechen, hat verwundert. Das ist bei uns
in Deutschland anders, hier sind Kanzler beziehungsweise Kanzlerin
sowie die Spitzen der Opposition stets gesprächsfähig. Diese
Gesprächskultur sollten wir uns in Berlin auf jeden Fall bewahren.

Läuft im House of Commons nur noch das Blame Game, also der
Versuch, die Schuld für alle kommenden Härten auf den Gegner zu
schieben? Teile des britischen Parlaments wollen die Probleme, die
zwischen Irland und Nordirland entstehen könnten, der EU anlasten.
Dem muss klar widersprochen werden. Wir haben um den Brexit nicht
gebeten. Das ist eine britische Entscheidung. Wer aber Binnenmarkt
und Zollunion verlässt, nimmt zwangsläufig eine Außengrenze auf der
irischen Insel in Kauf. Deswegen müssen die Verursacher dieses
Dilemmas einen konstruktiven Ausweg aufzeigen. Die "Troubles"
genannten, gewalttätigen Auseinandersetzungen in Nordirland haben
3.000 Menschen das Leben gekostet. Mit dem Karfreitags-Abkommen von
1998 ist diese dramatische Auseinandersetzung beendet worden. Dieser
Erfolg, der auch durch Unterstützung der EU zustande kam, darf unter
keinen Umständen gefährdet werden.

Schuldzuweisungen nach Brüssel haben im Königreich seit
Jahrzehnten Konjunktur. Wäre ein harter Brexit nicht zumindest in dem
einen Punkt im Interesse des Kontinents, dass die EU nicht länger als
Sündenbock herhalten muss? In der Tat haben so manche britische
Politiker über Jahre das Spiel gespielt: Erfolg ist immer national
begründet, Misserfolg europäisch. Dadurch haben sie ihren Beitrag
dazu geleistet, dass die Frustration über die EU im Vereinigten
Königreich wuchs. Britische Politiker haben es offenbar nicht
geschafft, den Bürgern die Vorzüge der EU zu vermitteln. Die
Entwicklung bedauere ich sehr, aber realistisch betrachtet muss man
von einem "Farewell" der Briten ausgehen. Ein ungeregelter,
chaotischer Brexit sollte unbedingt vermieden werden.

Was wird Europa an strategischem Denken und Weltzugewandtheit
verloren gehen? Wir verlieren das nach Einwohnern drittgrößte und
wirtschaftlich zweitstärkste EU-Mitglied. Zudem werden der britische
Pragmatismus und die hohe Kunst britischer Diplomatie fehlen. Uns
eint der Wunsch, auch künftig ein möglichst enges Verhältnis
außerhalb der EU zu gestalten.

Die von Ihnen so gelobten britischen Diplomaten scheinen aber doch
überrascht, dass sich die 27 nicht auseinanderdividieren lassen... Es
hat britische Versuche gegeben, die Einheit der EU-27 aufzubrechen.
Das misslang. Die Brexit-Verhandlungen haben aufgezeigt, wie stark
die Europäische Union ist, sofern sie einig auftritt. Allerdings gibt
es hier keine Gewinner, sondern nur Verlierer. Hier trifft das Zitat
des niederländischen Regierungschefs Mark Rutte: "I hate Brexit from
every angle" - "Ich hasse den Brexit aus jedem Blickwinkel". Es ist
vor allem besonders bitter für die jungen Menschen. Denn sie werden
Nachteile einfahren.

Ist Theresa May eine Fantastin, weil sie erwartet, dass die EU das
Paket noch mal aufschnürt oder eine fantastische Pokerspielerin, weil
sie erwartet, dass die EU oder Labour dem Druck nicht standhalten
werden? Theresa May hat vergangene Woche in Brüssel ihre hinreichend
bekannte Position nochmals unterstrichen, wonach das
Austrittsabkommen im britischen Parlament nicht mehrheitsfähig sei.
Nun ist aber London in der Verantwortung, "alternative arrangements"
vorzulegen. Die EU ist offen für konstruktive Vorschläge. Eine harte
Grenze wird aber nicht einfach dadurch vermieden, dass man das Mantra
wiederholt: "Eine harte Grenze wird es nicht geben."

Der Europäische Gerichtshof hat May ein unerwartetes Druckmittel
in die Hand gegeben: die Möglichkeit, den Brexit einfach abzublasen.
Wird sie ihre Gegner damit einschüchtern können? Diese Entscheidung
des EuGH war nicht ohne weiteres zu erwarten. Demnach kann das
Vereinigte Königreich die Brexit-Entscheidung ohne Zustimmung der
anderen EU-Staaten einseitig zurücknehmen. Aber dazu müsste es im
Parlament eine Mehrheit für ein zweites Referendum geben und bei
dieser Neuauflage ein Votum gegen den Brexit. Das scheint derzeit
nicht realistisch.

Wird der Brexit einst ein Lehrbuchbeispiel dafür werden, wie eine
innerparteiliche Spaltung, falsche Versprechungen und Naivität die
älteste Demokratie der Welt in eine Krise stürzen konnten? Der Brexit
ist das traurige Beispiel dafür, was Populisten und Nationalisten mit
unverantwortlicher Agitation anrichten können. Die schwierige
politische Lage in London ist das Werk der Brexiteers aus dem Jahr
2016. Ihre Saat ist aufgegangen.

Der Brexit war die Folge einer tiefen Spaltung der britischen
Gesellschaft. Und nun wird er diese Spaltung wohl noch vertiefen. Was
könnte die Briten mit sich versöhnen? Als jemand, der sich häufig im
Vereinigten Königreich aufhält, ist mir aufgefallen, dass der
Brexit-Wahlkampf für britische Verhältnisse ungewöhnlich
polarisierend war. Das Ergebnis im Juni 2016 hat die vielschichtige
Spaltung der britischen Gesellschaft dokumentiert. Zwei Nationen -
Schottland und Nordirland - waren gegen den Brexit, zwei andere -
England und Wales - waren mehrheitlich dafür. London, Cambridge und
Oxford stimmten pro EU; dagegen gab es eine schroffe Ablehnung an der
englischen Ostküste und im zum Teil deindustrialisierten Norden.
Wirtschaftlich schwächer gestellte Menschen stimmten anders ab als
wohlhabende. Unterschiede gab es im Abstimmungsverhalten je nach
Bildungsstand und auch zwischen Jung und Alt. Es ist die Aufgabe der
britischen Politik, diese gesellschaftliche Spaltung zu überwinden.
Das wird Jahre dauern.

Fürchten Sie, dass das Projekt Europa im Mai leckschlägt? Die
Briten werden draußen, Europagegner aber vermutlich zahlreicher im
Parlament drin sein.... Die EU-27 werden geschlossen weitermachen.
Kein einziges Land beabsichtigt dem britischen Beispiel zu folgen.
Die Europäische Union steht bei der Wahl am 26. Mai definitiv vor
einer Richtungsentscheidung. Die europäische Integration ist einem
Angriff der Demagogen und Populisten von ganz rechts und ganz links
ausgesetzt. Es gilt, im neugewählten Europäischen Parlament eine
verantwortungsbewusste Mehrheit der pro-europäischen Kräfte zu
schmieden. Die Europäische Volkspartei ist dazu beispielsweise mit
Sozialdemokraten und Liberalen bereit. Das beste Rezept gegen die
Gegner eines vereinten Europas ist eine höhere Wahlbeteiligung. Es
ist jetzt an der Zeit, dass die schweigende Mehrheit der
proeuropäischen Bürger aufsteht. Insofern könnte der Brexit ein
Weckruf sein.

Zur Person

Der ehemalige niedersächsische Ministerpräsident David McAllister
(48) ist Europaabgeordneter und leitet im Europäischen Parlament den
Ausschuss für auswärtige Angelegenheiten. Der CDU-Politiker war der
erste deutsche Ministerpräsident mit doppelter Staatsbürgerschaft.
McAllisters Vater stammt aus Glasgow, er wuchs zweisprachig auf.



Pressekontakt:
Landeszeitung Lüneburg
Werner Kolbe
Telefon: +49 (04131) 740-282
werner.kolbe@landeszeitung.de

Original-Content von: Landeszeitung Lüneburg, übermittelt durch news aktuell


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