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Landeszeitung Lüneburg: Der Kuss der Systemfeinde Italien-Experte Roman Maruhn sieht Pakt der Populisten als Sonderfall, aber auch als Menetekel für ganz Europa

Geschrieben am 07-06-2018

Lüneburg (ots) - Von Joachim Zießler

Lüneburg/Palermo. Das an politischen Kuriositäten nicht eben arme
Italien versucht sich gerade an einem gewagten Experiment: In Rom
wurde eine Regierung aus Rechts- und Linkspopulisten vereidigt und
von beiden Kammern des Parlaments bestätigt. Minister von Lega und
Movimento 5 Stelle haben auf den Sesseln der Macht Platz genommen,
die sie über Jahre mit Verachtung überzogen und bekämpft haben.
Können Feinde des Systems das System regieren, ohne dass es zu
Verwerfungen kommt? Der Politologe und ausgewiesene Italien-Kenner
Roman Maruhn ist im Interview der Woche skeptisch: "Es gibt sehr
viele Ungereimtheiten zwischen den Parteien, deren
Wahlkampfversprechen waren leichtfertig, weil sie nicht zu
finanzieren sind." Nach der auch für italienische Verhältnisse langen
Zeit der Regierungsbildung kann das Land den Wahlkampfmodus nicht
verlassen. Am Sonntag stehen Kommunalwahlen an. "Einer der Gründe,
warum Lega-Chef Matteo Salvini derzeit mit fremdenfeindlichen
Vorstößen omnipräsent ist", sagt Roman Maruhn, der am Goethe-Institut
in Palermo arbeitet. Symbolische Attacken gegen Flüchtlinge sollen
die eigene Anhängerschaft ruhigstellen, so lange die
Populisten-Regierung noch keine reale Politik machen konnte. Zwar sei
der Aufstieg der Populisten in Italien Teil der weltweiten Revolte
gegen die Globalisierung, so Maruhn, aber auch ein Sonderfall: "Eine
derartig verfassungsfeindliche Partei wie die Lega wäre in anderen
Ländern gar nicht zur Wahl zugelassen worden."

Wie lässt sich die Wut der Italiener erklären? Roman Maruhn: Dem
Wahlerfolg der Populisten liegt Wut zugrunde, mehr aber noch
Frustration. Die Italiener sind mehrheitlich frustriert über eine
Politik, die schon seit Jahrzehnten keine Antworten mehr findet auf
die großen Fragen der Nation wie auf die Bedürfnisse der Bürger. So
sind Familien- und Industriepolitik quasi nicht vorhanden - auch
nicht im Koalitionsvertrag der beiden neuen Regierungspartner. In den
letzten fünf Jahren unter dem Partito Democratico wurde an
Stellschrauben des Sozialstaats gedreht, etwa eine
Arbeitslosenversicherung eingeführt, doch weite Teile der Bevölkerung
profitierten nicht von den Neuerungen. Trotz einer wieder wachsenden
Wirtschaft verharrt die Jugendarbeitslosigkeit auf Rekordniveau, ist
die Geburtenrate auf dem Tiefstpunkt, weil die Menschen für sich
keine Zukunft mehr sehen. Die Familie bleibt das zentrale soziale
Sicherungssystem. In dieser Situation misstrauten die Bürger den
alten Parteien und honorierten das Schlüsselangebot der Cinque
Stelle, ein Grundeinkommen einzuführen. Aus deutscher Perspektive
wäre dies eher als Sozialhilfe oder Hartz IV zu bezeichnen. Die Lega
punktete mit der populistischen Technik, eine Bevölkerungsgruppe, die
sich nicht wehren kann, als Sündenbock anzubieten - Ausländer,
insbesondere Afrikaner ohne gültige Aufenthaltserlaubnis. Beide
Parteien haben aus der Opposition - also bar jeder Verantwortung für
Missstände - einen aggressiven Wahlkampf geführt und sind für
leichtfertige Versprechungen belohnt worden.

Wie sie sagten, hat der Partito Democratico Reformen angeschoben,
aber einige Schichten nicht erreicht. Erklärt sich daraus die
Verachtung, die Matteo Renzi entgegenschlug? Maruhn: Nur zum Teil.
Denn in seiner Amtszeit waren klar positive Trends zu verzeichnen. So
wurde Italien weltoffener. Zugleich wurde das Migranten-Management
professioneller, in Teilen auch härter. Zugleich gelang es, die EU in
Haushaltsfragen zu mehr Flexibilität zu bewegen, was dabei half, den
Haushalt zu konsolidieren. Aber Renzi stellte sich zu sehr in den
Mittelpunkt, kam auch in seiner eigenen Partei schlicht als arrogant
rüber. Dafür musste er zahlen: So nutzten viele Bürger Renzis
Hauptprojekt, das Referendum über eine Verfassungsreform, die den
italienischen Staat effizienter machen sollte, um mit ihm
abzurechnen.

Wie groß ist die Verantwortung der alten Parteien und Silvio
Berlusconis für die weitgehende Verachtung der politischen Kaste?
Maruhn: Der Respekt vor der politischen Klasse ging verloren im Zuge
der "Mani pulite", der "sauberen Hände", wie die Aufdeckung korrupter
Praktiken der politischen Elite ab 1992 genannt wurde. Durch den
Niedergang der Democrazia Cristiana und dem sozialdemokratischen
Partito Socialista Italiano wurde das politische System instabil.
Und nicht zufällig gelten die Jahre 1993 bis 2013, also die, in denen
Silvio Berlusconi maßgeblich für den Kurs Italiens war, als die
"verlorenen zwei Jahrzehnte", in denen notwendige Reformen
unterblieben. Die Krise ist seit 2011 auf ihrem Höhepunkt. Seitdem
haben Cinque Stelle und Lega Zulauf - auch, weil sich die Menschen
von diesen Parteien erhoffen, dass sie einen Umbruch zu ihren Lasten
verhindern würden.

Berlusconi verachtet Gesetze, verstößt mit Genuss gegen Etikette,
sucht Männerfreundschaften mit Autokraten, ist übergriffig gegenüber
Frauen und profitierte von starker publizistischer Unterstützung. Ist
er ein Vorläufer Trumps? Maruhn: Tatsächlich waren viele Italiener
glücklich über Trumps Wahl, waren sie doch fortan nicht mehr allein
mit dem Makel behaftet, eine Art Politclown ins mächtigste Amt
gewählt zu haben. Tatsächlich trägt Berlusconi persönlich
Verantwortung für das beklagenswerte Frauenbild in Italien, weil er
sich mit seinen "bunga bunga"-Partys mit minderjährigen
Prostituierten brüstete. Und wie kann vom einfachen Bürger
Steuerehrlichkeit erwartet werden, wenn ihm sein Ministerpräsident im
Wahlkampf rät: "Sind Dir die Steuern zu hoch, zahle nicht!"?

Ist der Aufstieg der italienischen Populisten lediglich ein Teil
einer globalen Revolte gegen die Globalisierung oder gibt es einen
spezifisch italienischen Anteil? Maruhn: Es ist beides richtig, aber
das typisch italienische Momentum ist gerade bei der Lega stark. Eine
derart in Gegnerschaft zum System stehende Partei wäre in anderen
Staaten als verfassungsfeindlich verboten worden. Und auch wenn sich
im Movimento Cinque Stelle Elemente klassischer Protestparteien
finden, ist sie derart stark ein Projekt ihres Gründers Beppe Grillo
und von Anbeginn an vor allem eine Anti-Berlusconi-Bewegung, dass
auch sie als italienischer Sonderfall gelten kann. In der Folge
können zwei Anti-System-Parteien die Regierung stellen.

Gibt es eine europäische oder sogar deutsche Mitverantwortung -
Stichworte Flüchtlingskrise und Sparkommissar - für die Entstehung
einer verlorenen Generation der 25-40-Jährigen, die keine Chance auf
einen Job hatten? Maruhn: Aus italienischer Perspektive lautet die
Antwort: ja! Ich würde dies allerdings bestreiten, weil andere
europäische Länder vergleichbare Krisen gemeistert haben, ohne nach
Sündenböcken zu suchen. Deutschland bekommt viel von der Polemik ab,
weil es als größtes Land im Ministerrat und Europäischem Parlament am
meisten Einfluss auf das Management der Finanz- und Schuldenkrise
hat. Dass andere europäische Schwergewichte sich in der Krise
weggeduckt haben, wird bei einer solchen Sichtweise allerdings
ignoriert. Es lohnt sich, daran zu erinnern, dass Italien in die
größten Probleme schlitterte, als Berlusconi 2011 die Märkte glauben
ließ, Italien könne seine Schulden nicht zurückzahlen wollen. Diesen
handwerklichen Regierungsfehler mussten die Italiener ausbaden. Doch
wer als Nation während des Diskussionsprozesses in der EU gerne
abseits steht, um danach zu protestieren und den Schuldigen außerhalb
der eigenen Landesgrenzen zu suchen, ist nicht reif für die EU.

Sowohl Beppe Grillo als auch Salvini liebäugeln immer mal wieder
mit einem "Marsch auf Rom". Nur Effekthascherei oder Ausdruch einer
nicht vollzogenen Vergangenheitsbewältigung in Bezug auf den
Faschismus? Maruhn: In der Tat ist die Botschaft verstörend, weil sie
die Drohung mit einer außerparlamentarischen Machtübernahme
beinhaltet. So etwas ist wohl nur möglich, weil sich Italien nach dem
Krieg umstandslos in die Tradition des Widerstandes gestellt und so
das Trugbild genährt hat, den Faschismus aus eigener Kraft überwunden
zu haben. Ein möglicher "Marsch auf Rom" in Nachahmung von Benito
Mussolini hat sich nun erledigt. Cinque Stelle und Lega werden die
Regierung übernehmen, obwohl sie diese Option im Wahlkampf verneint
haben. Bei anderen Parteien haben sie eine derartige Wendigkeit oft
als "Wahlbetrug" gegeißelt.

Während die Lega vor allem im Norden Anhänger hat, wurden die
Cinque Stelle vor allem im Süden gewählt. Kann dieses Bündnis über
die historische Kluft hinweg, die Italien teilt, überhaupt
funktionieren? Maruhn: Das ist eine wichtige Frage. Es gibt so viele
Ungereimtheiten zwischen beiden Parteien, dass ich mir nicht
vorstellen kann, dass diese Regierung zu einer Versöhnung von Nord
und Süd beitragen kann.

Die beiden populistischen Parteien wollen trotz immenser
Staatsschulden ein Füllhorn an Wohltaten - 780 Euro Grundeinkommen
und Steuersenkungen - über den Wählern ausschütten. Ist ihr
eigentliches Ziel der Italoexit? Maruhn: Diese Bedenken hatte auch
Staatspräsident Mattarella. Die aktuellen Töne aus Rom klingen
anders. Ich glaube nicht, dass die Regierung offen europäisches Recht
brechen will. Für einen Austritt aus dem Euro oder der EU gibt es in
Italien auch keine Mehrheit. Gleichwohl spielt Salvini derzeit stark
die nationale Karte und kündigt an, künftig in der EU Nein sagen zu
wollen.

Sind vor den Kommunalwahlen am Sonntag harte Abschiebemaßnahmen zu
erwarten, mit denen Salvini bei seiner Klientel punkten könnte?
Maruhn: Eindeutig. Jüngst wurde in Kalabrien ein aus Afrika
stammender Gewerkschafter erschossen - und die neuen
Regierungsparteien schwiegen. Dafür wurden sie allerdings hart
kritisiert. Man kann nur hoffen, dass sich die Kabinettsmitglieder
nach ihrer Vereidigung stärker bemühen, eine Regierung für alle
Italiener zu sein.

Europa hat sich weitgehend bedeckt gehalten. Wäre ein Vorstoß der
EU oder der Kanzlerin sogar kontraproduktiv? Maruhn: Die EU ist ein
besonderer Verein aus entwickelten Demokratien mit hohen
rechtsstaatlichen Standards. Insofern darf man die Augen nicht
verschließen und muss auch mal kritisieren. Dabei ist es allerdings
wichtig, sachlich zu bleiben und verletzende Töne und nationale
Stereotypen zu vermeiden. Das Titelbild des Spiegel etwa - "Ciao
Amore" mit dem aus Spaghetti geformten Henkersstrick hat hier für
große Aufregung gesorgt. Auf beiden Seiten ist ein dickes Fell
vonnöten, damit künftige Verhandlungen glücken können.



Pressekontakt:
Landeszeitung Lüneburg
Werner Kolbe
Telefon: +49 (04131) 740-282
werner.kolbe@landeszeitung.de

Original-Content von: Landeszeitung Lüneburg, übermittelt durch news aktuell


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