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Mittelbayerische Zeitung: Leitartikel von Christian Kucznierz zum Tag der deutschen Einheit

Geschrieben am 01-10-2015

Regensburg (ots) - Es gibt einen Satz der Bundeskanzlerin, an dem
sich viele Menschen reiben, zunehmend auch Politiker ihrer eigenen
Partei: "Wir schaffen das". Merkel sagte diesen Satz angesichts der
anhaltend hohen Flüchtlingszahlen und nach ihrer Entscheidung,
entgegen aller rechtlichen Grundlagen Flüchtlinge aus Ungarn nach
Deutschland einreisen zu lassen. Manche sprachen von Merkels
"Schröder-Moment" in Anspielung an die Agenda 2010 ihres Vorgängers.
Die Analogie ist richtig. Als Gerhard Schröder 2003 sein Reformpaket
vorstellte, wusste er, wie tiefgreifend es das Land verändern würde.
Er wusste sich des Zorns seiner Partei sicher. Vielleicht wusste er
nicht, in welche Sinn- und Existenzkrisen er die SPD für Jahrzehnte
stürzen würde. Nur in diesem Punkt ist der Vergleich zu Merkels "Wir
schaffen das" nicht stichhaltig. Es ist bislang zumindest nicht
absehbar, dass die Union sich über die Flüchtlingsfrage zerstreiten
wird. Oder dass Merkel aufgrund ihrer Haltung als Parteichefin und
Kanzlerin gehen muss. Viele Dinge werden eine Rolle gespielt haben in
der Entscheidung der oft als gefühlskalt dargestellten Kanzlerin: die
vielen Toten vor den Küsten, die Erstickten in einem Kühllaster auf
der Autobahn, der tote Junge an einem türkischen Strand. Aber eines
darf man Angela Merkel nicht unterstellen: dass sie von Emotionen
überrumpelt worden ist. Sie mag von der Situation getrieben worden
sein, in der Handeln besser war als Untätigkeit. Aber sie wusste sich
des Zorns und der Kritik sicher. Wie viel deutlicher sollte sie
werden, als sie wenige Tage und nach Kritik von CSU-Chef Horst
Seehofer sagte, ein Land, in dem man sich für Mitgefühl in
Notsituationen entschuldigen müsse, sei nicht ihr Land? Nein, Merkel
wusste, dass sich ihr Land verändert. Das tut es immer, jeden Tag,
jedes Jahr. Vor 25 Jahren ist die umfassendste, gravierendste
Umgestaltung der Bundesrepublik eingeleitet worden. 25 Jahre sind
vergangen, in denen vielerorts im wahrsten Sinne kein Stein auf dem
anderen geblieben ist. In dem finanzielle Kraftakte vollbracht
wurden, in dem zwei Länder, die eine gemeinsame und eine getrennte
Geschichte hatten, begannen, eine neue zu schreiben. Das ist
gelungen. Merkels Biografie ist davon geprägt. Sie kennt Veränderung.
Und nun hat sie die Veränderung, die jetzt auf das Land zukommt,
benannt. Sie hat ihr eine positive Konnotation gegeben. Das ist der
entscheidende Unterschied. Das ist, was bleiben könnte. Es ist ist,
was bleiben sollte. Europa hat in der Ära nach dem Fall des Eisernen
Vorhangs in einer seltsamen Starre verharrt, in der sich zwar vieles
änderte, in der die Vision aber war, dass es keine Vision mehr
braucht. Über den Kontinent war eine Art Käseglocke gestülpt worden.
Die Sicht durch das Glas war dementsprechend einer verzerrten
Perspektive unterworfen: Alles, was außen war, war weit weg. Es ist
die Lebenslüge der Post-Block-Zeit, dass Stillstand normal wäre. Es
ist die Lebenslüge der konservativen wie der in die Mitte gerückten
linken Parteien, dass dieser Zustand haltbar wäre. Europa, das
historisch immer im Zentrum von Wanderungsbewegungen stand, und
Deutschland im Zentrum dieses Kontinents kann sich dem beständigen
Wandel nicht entziehen. Es geht darum, das als Kondition zu
akzeptieren und zu gestalten. "Wir schaffen das" ist ein einfacher
Satz. Und doch bedeutungsschwer. Er besagt, dass es unser Auftrag
ist, anzupacken. Etwas aus dem zu machen, was uns ereilt. Er bedeutet
auch, zu gestalten. Gemeinsam. Aber, und das kann man nicht oft genug
betonen: Dieser Satz ist auch ein Appell, Ängste und ihre
Wegbegleiter - Fremdenfeindlichkeit und Hass - zu überwinden. Es hat
eine interessante Wende gegeben in der Rezeption dieses Satzes.
Kommentatoren wie Politiker haben begonnen, die Erreichbarkeit des
Ziels - die Gestaltung des Wandels - infrage zu stellen. Sie haben
die Käseglocke zurück gefordert. Niemand bezweifelt, dass es Probleme
geben wird und dass es sie jetzt schon gibt. Im Zusammenleben der
Menschen, die zu uns kommen. Bei der Integration. Bei der
Erstversorgung und Unterbringung der Flüchtlinge. Niemand stellt in
Abrede, dass definiert werden muss, welcher Staat welche Hilfe
leistet. Dass das alles Geld kostet. Dass der Gesetzgeber Regeln
anpassen muss. Aber: Wort bestimmt Welt. Wenn wir alles düster und
schlecht reden, wird das Ergebnis nicht hell und gut werden können.
Dieses Land hat in den vergangen 25 Jahren etwas geschafft , das kaum
jemand für möglich gehalten hat: die Einheit zu gestalten und aus ihr
zu einem starken, führenden, aber integrierten und friedlichen Land
zu werden. Gestalten heißt Probleme benennen und sie anzugehen. Es
heißt, Visionen zu haben. Merkel hat eine vorgegeben. Endlich einmal.
Die nächsten 25 Jahre werden zeigen, was aus ihr geworden ist.
Hoffentlich etwas Gutes.



Pressekontakt:
Mittelbayerische Zeitung
Redaktion
Telefon: +49 941 / 207 6023
nachrichten@mittelbayerische.de


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