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Landeszeitung Lüneburg: Der verheerende Versuch der politischen Eliten, den Tiger zu reiten / Prof. Herfried Münkler: Der Erste Weltkrieg war der Brutkasten für die Technologien, Strategien und Ideolo

Geschrieben am 02-01-2014

Lüneburg (ots) - Vor 100 Jahren ging das alte Europa unter. Die
tödlichen Schüsse auf den österreichischen Thronfolger Franz
Ferdinand durch serbische Nationalisten am 28. Juni 1914 in Sarajevo
ließen den "Alptraum der Koalitionen" in einen Weltenbrand münden. Es
kämpften die Mittelmächte, bestehend aus Deutschland,
Österreich-Ungarn sowie später auch das Osmanische Reich (Türkei) und
Bulgarien gegen die Triple-Entente, bestehend aus Großbritannien,
Frankreich und Russland sowie zahlreichen Bündnispartnern. Die
traurige Bilanz des mit der Niederlage der Mittelmächte 1918
beendeten Weltkriegs: rund 8,5 Millionen Gefallene, über 21 Millionen
Verwundete und fast 8 Millionen Kriegsgefangene und Vermisste. Für
den Politikwissenschaftler Prof. Herfried Münkler prägte der "Große
Krieg" das gesamte 20. Jahrhundert und wirkt bis heute nach.

George F. Kennan sah im Großen Krieg die "Urkatastrophe" des 20.
Jahrhunderts - Sie dagegen ein "Laboratorium". Wo geht Ihr Konzept
über das Kennans hinaus?

Prof. Herfried Münkler: Zunächst einmal ist nicht zu bestreiten,
dass der Krieg katastrophale Folgen hatte. Alles, was man - wie von
Florian Illies beschrieben - 1913 noch erwartet hatte, war 1918
Makulatur. Andererseits war der Krieg nicht nur ein Abbruch von
Entwicklungen des 19. Jahrhunderts, sondern er sorgte auch für
Modernisierungsschübe, die eine neue Welt durchsetzten. Politisch mit
der hegemonialen Durchsetzung der Demokratie, wenngleich dies unter
Schmerzen geschah und in Teilen Europas erst nach 1945. Kulturell in
der Hinsicht, dass wohl kein Krieg aus so vielen Perspektiven und so
intensiv bearbeitet wurde. Er ebnete dem Zeitalter der Avantgarden
den Weg. Und gesellschaftlich, indem aus diesem Krieg der
Wohlfahrtsstaat hervorging. Nachdem den Familien Söhne und Väter
genommen wurden, musste "Vater Staat" an deren Stelle treten.

Verteilt sich die Schuld am großen Kladderadatsch gleichmäßig auf
Europas Politiker?

Prof. Münkler: Gleichmäßig nicht, aber in keinem Fall so, dass den
Deutschen die Alleinschuld oder auch nur die Hauptschuld aufzubürden
ist. Allerdings hat der Begriff der Schuld in der Rückschau etwas
Moralisierendes, als seien hier böse Mächte im Spiel gewesen. Ich
denke, man wird der Sache gerechter, wenn man den Begriff "Schuld"
durch "Verantwortung" ersetzt. Damit gerät statt des Bösen das
Ungeschickte, sogar das Dumme ins Blickfeld. Stellt man
Fehleinschätzungen, Fehlurteile und Illusionen statt Moral ins
Zentrum, kann man eine Menge lernen. Zudem wird man so den Akteuren
im Jahr 1914 eher gerecht, die sich ja in einem Feld des Ungewissen
bewegt haben.

Warum misslang im Sommer 1914, was kurz zuvor bei den
Balkankriegen noch gelang - die Eindämmung des Konfliktes durch die
Großmächte?

Prof. Münkler: Das gründet zum einen in den österreichischen
Ängsten, den Großmachtstatus einzubüßen, wenn sie sich weiter von den
Serben an der Nase herumführen ließen. Deshalb drängte das von
Abstiegsängsten gepeinigte Österreich-Ungarn im Sommer 1914 sehr viel
stärker als 1912 und 1913 darauf, jetzt endlich den Serben die
Grenzen aufzuzeigen. Zum anderen hat dies aber auch mit der
veränderten Rolle Deutschlands zu tun, das bei den vorangegangenen
Balkankriegen eher moderierend auf den Bündnispartner einwirkte, nun
aber verschärfend. Das lag einerseits an Berlins Sorge, den einzigen
Verbündeten zu verlieren, wenn Österreich-Ungarn Renommee und
Großmachtstatus einbüßen würde. Andererseits führte hier der Zufall
Regie. Reichskanzler Bethmann Hollweg, der bis dahin auf
internationale Kooperation gesetzt hatte, fühlte sich vom britischen
Außenminister Grey hintergangen. Ein deutscher Spion in der
russischen Botschaft in London hatte von britisch-russischen
Verhandlungen über eine gegen Deutschland gerichtete
britisch-russische Marinekonvention berichtet. Grey bestritt, dass es
solche Verhandlungen gäbe. Von diesem Augenblick war Bethmann Hollweg
unsicher, ob die von ihm favorisierte Politik der Kooperation
wirklich tragfähig war. Deswegen wirkte er nicht moderierend auf Wien
ein und setzte nicht mehr auf die Karte eines deutsch-britischen
Konfliktmanagements.

Muss man nicht deswegen zumindest für die Juli-Krise ein aktiveres
Zusteuern auf den Krieg durch Wien und Berlin feststellen?

Prof. Münkler: Nein, denn die Russen haben den Serben ebenso einen
Blanko-Scheck ausgestellt wie die Deutschen den Österreichern. Und
die Franzosen wiederum stellten den Russen einen Blanko-Scheck aus.
Sicherlich hätten die Russen vorsichtiger agiert, wenn
Staatspräsident Poincaré ihnen 1914 in St. Petersburg nicht feierlich
die französische Rückendeckung garantiert hätte. Und sicherlich
hätten die Serben zurückhaltender agiert ohne die Rückendeckung des
Zaren. Hier zeigte sich, dass in dem Moment, in dem die
deutsch-britische Achse nicht als Moderator ins Spiel kam, die
Bündnissysteme ungehemmt greifen konnten, weil zu viele
Blanko-Schecks zirkulierten. Die besondere Verantwortung der
Deutschen resultiert aus etwas, was hierzulande in den vergangenen
Jahrzehnten ungern thematisiert wurde: der geopolitischen Lage. Wenn
die Macht in der Mitte des Kontinents nicht moderiert, sondern
eskaliert, fließen ganz unterschiedliche Konflikte ineinander. In der
Folge war der Konflikt nicht mehr eindämmbar, etwa auf den Balkan,
sondern wuchs sich zum großen europäischen Krieg aus. Zudem sind hier
die unheilvollen Folgen des Schlieffen-Planes zu nennen. Die
Ignorierung der belgischen Neutralität und die Kriegsverbrechen
gegenüber Zivilisten, als die Belgier Widerstand leisteten, haben den
Ruf Deutschlands nachhaltig zerstört. Gegen die neuen "Hunnen"
erhoben die Westmächte den Anspruch, die Zivilisation zu verteidigen.

Der deutsche Spion in London sorgte für eine Entfremdung zwischen
den Rivalen. Die Fehlleitung der Wagenkolonne führte den Thronfolger
erst vor die Pistole des Attentäters: Entlastet die große Rolle des
Zufalls in der Vorgeschichte des Krieges die Handelnden?

Prof. Münkler: Nein, die Verantwortung bleibt. Jeder Mensch muss
einschätzen, inwieweit Zufälle Gefahren heraufbeschwören oder Chancen
eröffnen. Im Vorhinein weiß man meist nicht, ob der Zufall, der einem
in die Hände spielt, ein glücklicher oder ein dummer ist -
Machiavelli nannte dies Fortuna secunda oder Fortuna adversa,
günstiges beziehungsweise widriges Geschick. Erst im Nachhinein ist
uns klar, dass Bethmann Hollweg möglicherweise vorsichtiger agiert
hätte, wenn er nicht durch den Spion von der britisch-russischen
Annäherung gewusst hätte. Da wir den Ausgang der Geschichte kennen,
erscheint es uns ratsamer, einem Wissen, das aus Spionage entstammt,
nicht so viel Gewicht zuzubilligen.

Selbst im Nachhinein ist es bisweilen schwierig, Geschichte
allgemein akzeptabel zu periodisieren. Inwieweit ist der Große Krieg
mehr als Vorgeschichte des Zweiten Weltkriegs beziehungsweise erste
Phase eines 30-jährigen Krieges?

Prof. Münkler: Jede Zeit hat ihren eigenen Blick auf ein so
grundstürzendes Ereignis. Die Periodisierung Erster Weltkrieg,
Zweiter Weltkrieg, Kalter Krieg legt eine eskalatorische Abfolge
nahe. Das ist eine geschichtstheoretische Deutung ebenso wie die
Annahme eines Dreißigjährigen Krieges zwischen 1914 und 1945. Ernst
Nolte hat den Beginn der Konflikte, die zu einem neuen 30-jährigen
Krieg zusammengeschrieben werden, allerdings auf 1917 gelegt. Schon
Thukydides, der Vater der Geschichtsschreibung, hat auf diese Art
Kriege analytisch zusammengeführt. Die Annahme eines Dreißigjährigen
Krieges würde aber davon ausgehen, dass alle Entwicklungen, die nach
1914 begannen, nach 1945 endeten oder bedeutungslos wurden. Dem ist
aber nicht so, wie sich beim Mauerfall oder dem Ende der Sowjetunion
1991 zeigte. Viele Folgen des Ersten Weltkriegs bestehen nach wie
vor: 1. Der unruhige Balkan, in den die Europäer immer investieren
müssen, damit er ihnen nicht um die Ohren fliegt. 2. Die Auflösung
der großen Reiche im Osten, also die Entstehung von selbstständigen,
unabhängigen Nationen im östlichen Mitteleuropa. 3. Der Nahe und
Mittlere Osten. Nach der Zerschlagung des Osmanischen Reiches teilten
sich Briten und Franzosen die Beute, konnten aber keine stabile
Ordnung installieren. 4. Die afrikanische Mittelmeerküste muss auch
noch dazu gezählt werden. Der deutsche Generalfeldmarschall Comar von
der Goltz sprach von der Beendigung der Herrschaft des weißen Mannes.
Dazu betrieben die Deutschen eine Politik der "revolutionären
Infektion", um die Kolonialimperien der Briten und Franzosen zu
destabilisieren. So drängten sie den Sultan in Konstantinopel, den
Heiligen Krieg auszurufen. Mit einer Zeitverzögerung von vierzig
Jahren zeigte das Wirkung. Weltgeschichtliche Folgen zeitigten auch
der Osteraufstand 1916 in Irland und die von Berlin inszenierte
Durchschleusung Lenins, der von Zürich nach Sassnitz reiste, Richtung
Russland. Insofern ist der Erste Weltkrieg tatsächlich der Große
Krieg, den man analysieren muss, will man das 20. Jahrhundert
verstehen.

Ist der 100. Jahrestag auch wichtig, um aus dem Versagen der
Verantwortlichen zu lernen?

Prof. Münkler: Man kann ungeheuer viel lernen, beispielsweise,
dass man auch das Falsche lernen kann. Dies trifft vor allem auf die
Deutschen zu. Sie lernten während des Krieges unablässig auf der
militärisch-taktischen Ebene. In der Folge waren sie den
Westalliierten bis ins späte Frühjahr 1918 taktisch überlegen, obwohl
die Gegner materiell eine erdrückende Übermacht ins Felde warfen.
Dies war eine Meisterleistung der Organisation und des militärischen
Lernens. Das findet bis heute seinen Niederschlag an den
amerikanischen Militärakademien, wo immer noch Dissertationen über
die taktischen Innovationen der Deutschen geschrieben werden - von
der elastischen Verteidigung über Infiltration im Angriff bis zur
Artillerietaktik des Oberst Bruchmüller. Das Unglück der Deutschen
war, dass sie das Falsche gelernt haben. Politisch machten sie
nämlich keine Fortschritte. Hart formuliert unterlagen sie damit
einem Wiederholungszwang, der sie in den Zweiten Weltkrieg führte.
Statt immer Hitler, den bayrischen Gefreiten aus dem Regiment List,
in den Blick zu nehmen, sollten wir die Ober- bis Oberstleutnante
betrachten. Sie waren die Träger dieses Lernens im Ersten Weltkrieg
und wurden später Hitlers Generäle. Weiterhin kann man eine Reihe
noch heute akuter Problemfelder identifizieren, den Balkan, den Nahen
Osten und die Europa gegenüberliegende Mittelmeerküste. Schließlich
kann man aus dem Ersten Weltkrieg viel zu den Problemen lernen, die
Chinas Machtzuwachs heute aufwirft. Trotz einiger Differenzen gibt es
deutliche Analogien zum wilhelminischen Deutschland. Erstens haben
die Chinesen, wie damals die Deutschen, einen rasanten ökonomischen
Aufstieg hinter sich, fühlen sich aber ebenfalls von den Nachbarn
nicht ausreichend anerkannt. Zweitens ist China, wie Deutschland
1914, so groß und mächtig, dass die Nachbarn Angst haben. In der
Folge wächst bei ihnen die Neigung zu antihegemonialen Koalitionen
gegen China. Drittens ist China wegen seiner rasanten Wandlung vom
Agrar- zum Industriestaat abhängig von der Rohstoffeinfuhr aus
Übersee. Es ist damit ebenso strangulierbar wie das Kaiserreich.
Beides waren bzw. sind keine genuinen Seemächte. Deswegen wächst die
Versuchung, der global dominierenden Seemacht - weiland das Britische
Empire, heute die USA - eine Risikoflotte entgegenzustellen.
Möglicherweise wird Peking den Aufbau seiner Flotte eines Tages
ebenso bereuen wie damals Berlin. Vielleicht sind aber auch die
Folgen für die USA deutlich dramatischer. Das ist nicht vorhersehbar.
Klar ist aber, dass das Konfliktpotenzial in der Region wächst.
Viertens existiert mit den Senkaku-, beziehungsweise Diaoyu-Inseln
auch heute eine Art Balkan, also ein umstrittenes Areal, das die
Lunte für das Pulverfass liefern kann.

Wie ist die dürftige Erinnerungskultur in Deutschland angesichts
der weichenstellenden Wirkung des Krieges und des umfangreicheren
Erinnerns bei den Nachbarn erklärbar?

Prof. Münkler: Für unsere westlichen Nachbarn war dieser Krieg der
verlustreichste im 20. Jahrhundert. Und für unsere östlichen Nachbarn
ist dieser Krieg nicht selten der Startpunkt der nationalen
Wiederauferstehung beziehungsweise der Geburt als Nation. Das
erhebliche Gewicht dieses Krieges wird für diese Staaten nicht durch
den Zweiten Weltkrieg überlagert. Das ist bei uns anders. In der
Erinnerung der Deutschen schob sich der Zweite Weltkrieg gleichsam
wie ein Vorhang vor den Ersten. Gründe sind die Zerstörungen im
Bombenkrieg, die ungeheure Schuld der Ermordung der europäischen
Juden und die verbrecherische Kriegführung im Osten. Für die Analyse
des 20. Jahrhunderts sind aber nicht das Ausmaß der Zerstörungen oder
der Schuld ausschlaggebend, sondern die strukturellen Effekte. In
diesem Punkt müssen wir Deutschen historisch und politisch noch
nachsitzen, um den Ersten Weltkrieg als den eigentlichen
Schlüsselkrieg des 20. Jahrhunderts zu begreifen.

Die deutsche Führung erwies sich als taktisch lernfähig, politisch
dagegen als stur. Strategisch ignorierte man die Clausewitz`sche
Vorgabe, bereits zu Beginn des Krieges den angestrebten Frieden zu
definieren. Warum kam es zu keinen Friedensinitiativen, als klar war,
dass dieser Krieg viel blutiger als der von 1870 sein würde?

Prof. Münkler: Das Ausbleiben von Friedensinitiativen zu
Zeitpunkten, an denen sie noch etwas hätten bewirken können, gründet
in einem Paradox der Kriegspolitik. Die Deutschen hätten in einer
Phase, in der sie an den Fronten siegten, einen Verhandlungsfrieden
anbieten müssen. Doch je erfolgreicher die Truppen waren, desto mehr
strebte die Führung nach einem Siegfrieden, statt des möglichen
Verhandlungsfriedens. Das mag menschlich verständlich sein, gerade
angesichts der hohen Opferzahlen bereits in den ersten Kriegswochen.
Politisch war es aber desaströs. In einer solchen Situation hätte man
einen Politiker an der Spitze gebraucht, der das Format hatte, sich
auch gegen Stimmungen in der Bevölkerung durchzusetzen. Eine Figur
von der Stärke Bismarcks hatten die Deutschen aber nicht mehr.
Bethmann Hollweg war nicht so stark, und er hatte auch nicht in
gleichem Maße das Vertrauen des Kaisers. Also setzte Bethmann Hollweg
auf Hindenburg als militärische Galionsfigur, die imstande gewesen
wäre, dem Volk einen Verhandlungsfrieden schmackhaft zu machen. Ein
fataler Fehler, denn mit Hindenburg setzte sich die Illusion des
Siegfriedens als Handlungsmaxime endgültig durch. Zudem waren die
Politiker, die seit 1916 aus dem Reichstag heraus Politik machten, zu
unerfahren in Machtpolitik. Also ließen sie sich von der Dritten
Obersten Heeresleitung ein ums andere Mal instrumentalisieren, weil
sie viel zu spät realisierten, dass die OHL ihr eigentlicher Gegner
war. Im Übrigen gilt, dass Koalitionskriege im Hinblick auf
Friedensschlüsse besonders schwierig sind. Während der eine Alliierte
gerade gut dasteht, muss der andere Rückschläge verdauen und hat
deshalb kein Interesse an Verhandlungen. Dies betraf sowohl die
Triple-Entente als auch die Mittelmächte.

Wieso hielt sich trotz Frontlinien im Ausland in Deutschland das
Gefühl, einen Verteidigungskrieg zu führen?

Prof. Münkler: Der erste Staat, der mobil machte, war Russland.
Das war zwar nur eine Teilmobilmachung, die sich gegen
Österreich-Ungarn richtete, doch der Schlieffen-Plan, die Gegner im
Westen und Osten nacheinander zu bekämpfen, nahm der deutschen
Führung die Möglichkeit, abzuwarten. Folglich wurde auch die deutsche
Offensive im Westen quasi als vorgeschobene Verteidigung begriffen.
Außerdem befanden sich die deutschen Truppen vom Oktober 1914 bis zum
Frühjahr 1918 an der Westfront taktisch im wesentlichen in der
Defensive.

Brachte der Große Krieg das Bürgertum in Europa um seine Chance
zur Machtausübung?

Prof. Münkler: Ja, das gilt für alle Länder, am dramatischsten
wohl für Russland. Hätte der Krieg nicht stattgefunden, hätte
zweifellos das Bürgertum in Europa auf der politischen Ebene das
nachgeholt, was es auf der ökonomischen und kulturellen Ebene bereits
erreicht hatte - nämlich eine Hegemonialposition in der Gesellschaft
einzunehmen. So bestand im Sommer 1914 im deutschen Bürgertum die
Befürchtung, eine nicht ausreichend patriotische Reaktion würde die
privilegierte Position der Aristokratie zementieren. Bürgerliche
engagierten sich massiv für den Krieg: Sie zeichneten Kriegsanleihen,
setzten also große Teile ihres Vermögens für den Krieg ein. Sie
schicken ihre Kinder an die Front, beziehungsweise können die Söhne,
die unbedingt an die Front wollen - wie der Sohn von Käthe Kollwitz -
nicht zurückhalten. Die Opferbereitschaft der Bürgerlichen wird noch
dadurch angeheizt, dass die Schicht, die in der sozialen Rangordnung
noch hinter ihnen steht, die Arbeiterschaft, ebenfalls große Opfer
bringt. Es entstand eine Konkurrenz um die Frage, wer hat sich
eigentlich um das Vaterland mehr verdient gemacht? Und wer kann
daraus politische Hegemonialansprüche ableiten? Die Tragödie des
Bürgertums bestand darin, dass es seine Söhne verlor, dazu sein
Vermögen und seine politische Orientierung auf die Mitte. In der
Folge wanderte es in der Weimarer Republik nach rechts.

Sie haben geschildert, wie sehr Asiens Gegenwart Europas
Vergangenheit ähnelt. Abstiegsängste finden sich heute in Japan und
den USA, Einkreisungsängste in China. Wie kann in einer solchen
Situation Vertrauen aufgebaut werden?

Prof. Münkler: Die europäische Lösung heißt KSZE/OSZE. Also die
Schaffung eines Konsultationsmechanismus, der die Eskalation des
Misstrauens blockiert. So gewinnt man in Krisen Zeit, kann
Missverständnisse ausräumen und verhindern, dass eine politische
Elite den Griff zur Waffe als einzige Option darstellt. Das in Europa
einzuführen, fiel sehr viel leichter, als es in Asien möglich sein
wird, weil in Europa die dominierenden Akteure die beiden
Flügelmächte USA und UdSSR waren. China liegt als imperialer Akteur
hingegen im Zentrum der ostasiatischen Ordnung. Die Vorstellung der
Deutschen, aus der Mitte des Kontinents eine imperiale Konsolidierung
des Gesamtraumes durchzusetzen, lag längst in Trümmern, als der
Entspannungsprozess angeschoben wurde. Für Peking ist eine derartige
Versuchung hingegen noch sehr aktuell. Eine Renaissance der
Vorrangstellung des Reiches der Mitte erscheint vielen sogar als
etwas Natürliches. Folglich wird man dieses europäische Modell der
Vertrauensbildung nicht einfach übertragen können.

John F. Kennedy beherzigte in der Kuba-Krise Lehren aus dem
Versagen der Politiker im Juli 1914. Sehen Sie auf japanischer,
chinesischer und amerikanischer Seite Personen mit einer
vergleichbaren Lernbereitschaft?

Prof. Münkler: Kaum. Der alte Deng Xiaoping hatte diese Fähigkeit
in der Außenpolitik. Aktuell darf Augenmaß am ehesten von Seiten der
USA erwartet werden. In dieser Dreier-Konstellation kommt ihnen die
Rolle des Moderators zu. Doch sowohl die japanische als auch die
chinesische Seite spielen derzeit mit nationalen Ressentiments. Und
dies ist ein spannender Punkt mit Analogien zum Großen Krieg: Der
Sommer 1914 zeigte, dass das Spiel mit nationalen Ressentiments
Erwartungen weckt, die irgendwann von den politischen Eliten nicht
mehr domestiziert werden können. Sie glauben, sie reiten den Tiger,
doch der reißt sie mit und schüttelt sie ab.

Das Interview führte Joachim Zießler



Pressekontakt:
Landeszeitung Lüneburg
Werner Kolbe
Telefon: +49 (04131) 740-282
werner.kolbe@landeszeitung.de


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