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Die Nacht von Stammheim - Was wussten die Geheimdienste?

Geschrieben am 08-09-2007

Hamburg (ots) - Beamte des Staatsschutzes und verschiedener
Geheimdienste haben möglicherweise die Verabredung der RAF-Führung
zum kollektiven Selbstmord im Herbst 1977 über Wanzen mitgehört - und
nicht verhindert. Diesen Verdacht legen 30 Jahre lang geheimgehaltene
Dokumente und Zeugenaussagen nahe, die "Spiegel"-Chefredakteur Stefan
Aust und "Spiegel"-TV-Autor Helmar Büchel in mehr als zweijährigen
Recherchen zusammengetragen haben. Ihre Erkenntnisse sind sowohl Teil
der zweiteiligen NDR-Dokumentation "Die RAF", die am Sonntag und
Montag in der ARD ausgestrahlt wird, als auch der neuen
"Spiegel"-Titelgeschichte "Die Nacht von Stammheim".

Wichtigstes Indiz ist der Einsatzkalender der
Staatsschutzabteilung des Landeskriminalamtes Baden-Württemberg vom
18. Oktober 1977, dem Tag, an dem sich Andreas Baader und Jan-Carl
Raspe im sogenannten Hochsicherheitstrakt von Stuttgart-Stammheim mit
eingeschmuggelten Pistolen erschossen und sich Gudrun Ensslin am
Fenstergitter ihrer Zelle erhängte. In diesem Einsatzkalender wurden
alle ein- und ausgehenden Meldungen der sogenannten LKA-Abteilung 8
registriert, beginnend mit der Todesnachricht, die den
Abteilungsleiter um 8:15 Uhr erreichte. Um 10:21 weist das Protokoll
aus, dass ein Staatsschutzbeamter die Beamten, die für eine
"Sondermaßnahme" eingesetzt seien, von den Selbstmorden verständigt
und sie angewiesen habe, "Erkenntnisse aus ihrem Bereich, die im
Zusammenhang mit dem Vorfall in Stammheim stehen, sofort an die
Abteilung 8 weiterzugeben". Der damalige Leiter der
Staatsschutzabteilung, Hans Kollischon, bestätigte den Autoren im
Gespräch, dass die RAF-Führer seit März 1975 von seinen Beamten
mehrfach abgehört worden sei. Kollischon wörtlich: "Es gab nur eine
Sondermaßnahme Stammheim und das war die Abhöraktion." Er könne sich
zwar nicht mehr im Detail erinnern, zu welchem Zeitpunkt der
Lauscheinsatz beendet worden sei, allerdings habe man während der
Schleyer-Entführung alles versucht, Hinweise von den Inhaftierten zu
erhalten. Kollischon: "Wir wären doch verrückt gewesen, wenn wir
nicht alles versucht hätten, um das Leben Schleyers zu retten." Eine
Stellungnahme vor der Kamera lehnte Kollischon ab.

An der Aktion beteiligte Staatsschützer, die anonym bleiben
wollen, haben sich gegenüber den Filmemachern offenbart, obwohl die
Lauschaktionen auch heute noch als geheim und teilweise sogar als
streng geheim eingestuft sind.

Der Eintrag im Einsatzkalender legt nahe, dass die Lauschaktion
der "Sondermaßnahme Stammheim" auch in der Todesnacht der Häftlinge
lief. Die - während der sogenannten Kontaktsperre angeblich
voneinander isolierten - Gefangenen hatten den kollektiven Selbstmord
verabredet. Die Möglichkeit dazu bot ein ausgeklügeltes
Kommunikationssystem, das über die vorhandenen Stromleitungen lief.
"Die hatten sich ein System in HiFi-Qualität gebaut", sagt Otto
Bohner, der Gutachter der Bundespost, der die Anlage nach den
Selbstmorden untersucht hatte.

Schon im März 1977 war bekannt und später von den Behörden auch
bestätigt worden, dass Zellen des 7. Stocks in Stammheim von
Technikern des Bundesamtes für Verfassungsschutz und des
Bundesnachrichtendienstes verwanzt worden waren. Allerdings, so wurde
damals behauptet, seien in begrenzten Zeiträumen "nur" Gespräche von
Gefangenen mit ihren Verteidigern in den Besucherzellen abgehört
worden, nicht jene der Gefangenen untereinander in ihren Wohnzellen.
Schon an dieser Aussage gab es damals erhebliche Zweifel.

Aust und Büchel präsentieren in ihrer zweiteiligen Dokumentation
(Sendung in der ARD: Teil 1, Sonntag, 09. September, 21:45 Uhr und
Teil 2, Montag, 10. September, 20:15 Uhr) sowie "Spiegel" bislang
unbekannte, teilweise als geheim eingestufte Dokumente, die das
Gegenteil zumindest nahelegen. Schon im Dezember 1974 hatte der
damalige Präsident des Bundeskriminalamtes, Horst Herold,
"eigenhändig", wie er sich auf Nachfrage erinnert, ein "Konzept zur
offensiven Bekämpfung des Anarchismus" verfaßt und an den
Bundesinnenminister und die Chefs der Landeskriminalämter geschickt.
Darin schlägt Herold detailliert Lauschaktionen bei Gesprächen
zwischen RAF-Verteidigern und ihren Mandanten als "Offensivmaßnahme
gegen die Ebene der Verteidiger", sowie als Punkt III die
"Offensivmaßnahme gegen die Ebene der Zellen" vor und dort
insbesondere den "Lauschmitteleinsatz zur polizeilichen
Gefahrenabwehr - bei Gesprächen der Gefangenen untereinander". Mit
dem Papier nun konfrontiert, bestätigte Herold dessen Echtheit,
behauptete allerdings, es habe sich lediglich um einen "Wunschzettel"
gehandelt.

Allerdings ist klar, dass die im Herold-Papier von 1974
vorgeschlagene "personelle und materielle Unterstützung durch die
Dienste" wie beschrieben realisiert wurde. Die Autoren sind auf
Dokumente gestoßen, die belegen, dass nicht nur der
Bundesnachrichtendienst, der eigentlich laut Gesetz nur im Ausland
tätig werden darf, in die "Abwehrarbeit" gegen die RAF eingesetzt
war, sondern auch ein bis heute weitgehend und damals vollständig
unbekannter Geheimdienst: die sogenannte "Gruppe Fernmeldewesen" des
damaligen Bundesgrenzschutzes. In den 50er Jahren eigentlich zur
sogenannten Funkabwehr gegen gegnerische Nachrichtendienste gegründet
und mit ihren 500 Spezialisten erst 1994 per Gesetz nachträglich und
in aller Stille legalisiert, war die "Gruppe F" seit mindestens 1972
im verdeckten Einsatz gegen die RAF aktiv. Zunächst am Standort der
GSG 9 in Sankt Augustin bei Bonn, später im nahegelegenen
Heimerzheim. Auf Lauschangriffe war eine Fachabteilung der Gruppe F
mit der Tarnbezeichnung "Ingenieurgruppe des BMI" spezialisiert.
Vorteil der BGS-Gruppe Fernmeldewesen: ihre Existenz war in der
Öffentlichkeit nicht bekannt, sie unterstand direkt dem
Innenministerium, bei dem auch das BKA angesiedelt war - und ihre
Aktivitäten unterlagen in der Phase des Anti-Terror-Kampfes keinerlei
parlamentarischer Kontrolle.

Während die Gruppe F inzwischen unter der Bezeichnung
"Zentralstelle für Kommunikation und Information der Bundespolizei"
am Standort Heimerzheim verblieben ist, wurde die "Ingenieurgruppe
des BMI" gemeinsam mit einer Unterabteilung des BND in das 1991
geschaffene "Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik" in
Bonn-Mehlem ausgegliedert.

Weder bei BND, Bundespolizei noch BKA sind angeblich Akten über
die Maßnahmen erhalten geblieben. Das Stuttgarter Innenministerium
untersucht derzeit aufgrund der Recherchen der Autoren Aust und
Büchel viereinhalb Meter Geheimakten. Erst nach Abschluss dieser
Untersuchung könne über eine mögliche Freigabe entschieden werden.

Originaltext: NDR Norddeutscher Rundfunk
Digitale Pressemappe: http://www.presseportal.de/pm/6561
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Rückfragen bitte an:
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