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Landeszeitung Lüneburg: Wir müssen uns den Sozialstaat leisten - Sozialhistoriker Promberger zur Hartz-IV-Debatte: Niedrige Löhne für einfache Arbeit sind der eigentliche Skandal

Geschrieben am 18-02-2010

Lüneburg (ots) - Obwohl die Reichen Träger "spätrömischer
Dekadenz" waren und nicht die Armen, wittert FDP-Chef Guido
Westerwelle in den Hartz-IV-Ghettos den Keim des Niedergangs. Was ist
dran an der Kritik, die soziale Hängematte sei allzu bequem. Unsere
Zeitung sprach mit dem Sozialhistoriker Dr. Markus Promberger vom
Forschungsinstitut IAB der Bundesagentur für Arbeit.

Leisten wir uns eine soziale Hängematte, die eine Abqualifizierung
als spätrömische Dekadenz rechtfertigt?

Dr. Markus Promberger: Nein, natürlich nicht.

Wie würden Sie unseren Sozialstaat klassifizieren?

Dr. Promberger: Was wir uns leisten, ist eine halbwegs angemessene
Grundversorgung von Hilfebedürftigen. Aufpassen müssen wir beim
Existenzminimum allerdings, dass wir die Menschenwürde und die
Teilhabechancen Betroffener tatsächlich immer wahren. Das schließt
zum Beispiel ein, dass sich jemand Nachhilfe für seine Kinder auch
dann leisten können muss, wenn er Hartz IV bekommt. Das ist bisher
nicht immer so. Kulturelle Teilhabe, Bildung und die Unterstützung
von Familien sind Defizite im bisherigen System. Das heißt, dass wir
in der Grundsicherung sogar mehr machen müssten als bisher. Die
Notwendigkeit hat uns das Bundesverfassungsgericht ganz deutlich
aufgezeigt.

Also wäre die Einschätzung, Arbeit lohne sich in Deutschland nicht
mehr, verkehrt?

Dr. Promberger: Das ist ein anderes Thema. Da geht es um den
Lohnabstand. Ich denke, wir haben in Deutschland tatsächlich das
Problem, dass sich vor allem gering qualifizierte Arbeit nicht so
wirklich lohnt. Das liegt aber nicht daran, dass das Niveau der
Sozialhilfe beziehungsweise des Arbeitslosengeldes II zu hoch wäre.
Wir haben im Bereich einfacher Arbeit mittlerweile oft derart
niedrige Löhne, dass mehr als eine Million Menschen ihr niedriges
Erwerbseinkommen mit Grundsicherungsleistungen aufstocken müssen,
weil es sonst zum Leben einfach nicht reicht. Diese sogenannten
Aufstocker sind der beste Beweis dafür, dass die Menschen trotz
Hilfebezug arbeiten. In der Lohnabstandsdiskussion steckt auch viel
Ideologie. Dabei wird übrigens oft vergessen, dass es eine ethische
Untergrenze für den Lohn gibt -- nämlich das kulturelle
Existenzminimum. Wer arbeitet, sollte von seiner Arbeit auch ohne
weitere Hilfeleistungen leben können. Die geringen Löhne für einfache
Arbeit sind der Skandal, nicht die Höhe der Grundsicherung.

Sollte man eher über einen Mindestlohn nachdenken als über
Kürzungen von Hartz IV?

Dr. Promberger: Das denke ich schon. Ein solcher Mindestlohn würde
zum einen den Lohnabstand aufrechterhalten und zum anderen die Chance
erhöhen, von seinem Erwerbseinkommen wieder leben zu können.

Macht eine Generaldebatte im Bundestag Sinn, dreieinhalb Jahre
nach der großen Unterschicht-Debatte?

Dr. Promberger: Ich denke, eine Generaldebatte darüber, was eine
angemessene Grundsicherung ist, wäre gut. Das würde die Politik davon
abhalten, wieder solche Hinterzimmerberechnungen durchzuführen wie
seinerzeit beim Hartz-IV-Regelsatz. Dabei müsste berücksichtigt
werden, was aus wissenschaftlicher Perspektive eine angemessene
Grundsicherung ist und wie sich diese finanzieren lässt. Es ist
Aufgabe der Politik, zu überprüfen, ob solche Maßnahmen zu unserem
System passen. Da wir aber eine soziale Marktwirtschaft haben,
sollten wir den Auftrag des Bundesverfassungsgerichtes ernst nehmen,
die Grundrechte auf ein menschenwürdiges Leben und soziale Sicherheit
umzusetzen. Das sollte die Politik endlich tun.

Wird sie das denn tun oder wieder in einer Begriffsdiskussion
hängenbleiben? Damals "abgehängtes Prekariat" oder "Unterschicht" --
heute "Dekadenz".

Dr. Promberger: Ich sehe die Gefahr, dass sich populistische
Argumente in der Diskussion immer leicht nach vorne spielen -- etwa
"Arbeitszwang für Grundsicherungsempfänger". Tatsächlich sind die
meisten Grundsicherungsempfänger daran interessiert, etwas zu tun,
selbst, wenn sie sich dafür strecken müssen. Es sind die wenigsten,
die den Sozialstaat planmäßig für ihre Zwecke ausbeuten.

Guido Westerwelle will Sozialleistungen zielgenauer fließen
lassen. Werden Hartz-IV-Leistungen ungerecht verteilt?

Dr. Promberger: Das kann ich nicht erkennen. Stellen wir
allerdings die Frage, ob Kinder aus benachteiligten Familien
realistische Chancen haben, einen Bildungsnachteil auszugleichen,
erkennen wir eine wirkliche Ungerechtigkeit im bisherigen System.
Hier gibt es einen blinden Fleck: Wie können wir Kinder fördern? Wie
können wir Frauen fördern, dass sie Familie und Beruf unter einen Hut
bekommen können? Diese Ungerechtigkeiten sollten wir unter die Lupe
nehmen.

In diese Richtung wiesen ja auch die VerfassungshüterEUR.EUR.EUR.

Dr. Promberger: Darauf wies Karlsruhe hin, darauf weisen sowohl
linke als auch christdemokratische Sozialpolitiker hin, das sagen
auch die großen Sozialverbände. Ich erkenne da einen Konsens, der
sich allerdings vernehmlicher artikulieren müsste, um sich gegen
populistische Arbeitslager- und Hängematten-Polemik durchzusetzen.

Der Sozialetat schluckt die Hälfte des Bundesetats. Können wir uns
den Sozialstaat in dieser Form noch leisten?

Dr. Promberger: Das müssen wir. Denken Sie an frühkapitalistische
Marktwirtschaften vor Ausbildung des Sozialstaates. Gewalttätige
Konflikte innerhalb der Gesellschaft waren an der Tagesordnung.
Selbst wenn man in die dysfunktionalen Ecken moderner Sozialstaaten
blickt, etwa in die Migranten-Ghettos in den Pariser Vorstädten,
erkennt man Gewalt, Kriminalität und Exklusion. Beschneiden wir den
Sozialstaat, weil wir meinen, wir könnten ihn uns nicht mehr leisten,
holen uns Ausgrenzung und Sicherheitsfragen wieder ein. Man erkennt
es in den USA, wo rund zehn Prozent der afroamerikanischen
Bevölkerung im Knast sitzen. Ob Gefängnisse eine akzeptable
Sozialpolitik sind, wage ich zu bezweifeln. Da lobe ich mir Hartz IV,
auch wenn es entwicklungsbedürftig ist.

Gefängnis mag keine günstigere Sozialpolitik sein, ist es gute
Bildungspolitik?

Dr. Promberger: Ja, davon bin ich fest überzeugt. Vielen Menschen
gelingt es nicht mehr, mit dem wirtschaftlichen Wandel Schritt zu
halten. Sie haben mit 17/18 Jahren einen Ausbildungsberuf erlernt,
knapp 30 Jahre in einer Fabrik gearbeitet und stehen auf der Straße,
wenn diese Fabrik dicht macht. Die Jobs, in denen geringer
qualifizierte, gewerbliche Arbeitnehmer in den vergangenen vier
Jahrzehnten gearbeitet haben, werden immer weniger. Das heißt, wir
müssen "lebenslanges Lernen" als Standard auch für
Geringqualifizierte etablieren. Und wir müssen die Aufholchancen von
Kindern aus bildungsfernen Familien erhöhen. Letztlich brauchen wir
ein anderes Schulsystem und gezieltere Förderungen. Was etwa Kinder
auf Gymnasien an zusätzlichem Coaching von ihren Eltern oder
Nachhilfelehrern erhalten, ist von ärmeren, bildungsschwächeren
Familien nicht zu stemmen.

Macht mangelhafte Bildungspolitik Armut erblich?

Dr. Promberger: Ja. Das Risiko von Arbeitslosigkeit und Armut ist
bei Menschen mit geringer Schul- und Berufsbildung viel höher, als
bei besser Ausgebildeten. Und die Wahrscheinlichkeit, dass diese
Bildungsarmut auch auf die Kinder vererbt wird, ist in Deutschland
von allen Industrienationen am höchsten.

Verdrängt die aufgeregte Hartz-IV-Debatte, dass gerade
anspruchslose Jobs der Globalisierung zum Opfer fallen?

Dr. Promberger: Es ist richtig, dass die anspruchslosen
industriellen Jobs weniger werden. Chancen gibt es in dieser Hinsicht
aber nach wie vor im Dienstleistungssektor. Dennoch bleibt eine
expansive Bildungspolitik der Königsweg, um mehr Menschen die Chance
zu geben, in vernünftiger Weise am Erwerbsleben zu partizipieren.
Hamburger verkaufen oder zu putzen sollte nicht die Lebensperspektive
sein. Deshalb sollte allen Menschen die Chance eröffnet werden, ihre
Anlagen zu entwickeln.

Wie könnte lebenslanges Lernen für Geringqualifizierte aussehen?

Dr. Promberger: Einerseits müssten Jugendliche mit geringwertigen
Schulabschlüssen intensiver gefördert werden. Andererseits scheint
vielversprechend, früher zu intervenieren -- etwa in der Grundschule,
falls sich Schüler lernschwach zeigen. Wir brauchen ebenso eine
Ganztagsschule, in der Kinder am Nachmittag durch
Hausaufgabenbetreuung die Möglichkeit haben, die ererbten
Bildungsnachteile zu kompensieren. Dann kommen die Jugendlichen schon
mit besseren Voraussetzungen in den Beruf. Dort muss das Lernen dann
natürlich weitergehen, teils in speziellen Einrichtungen, teils im
Betrieb, und mit passenden Anreizen. Meine Idee ist immer,
Berufsschulen, Fachschulen und Hochschulen zu Einrichtungen
auszubauen, die Bildungszeiten auch für Arbeitnehmer jeden Alters
gestalten und frisches Wissen für erfahrene Leute produzieren. Einige
Unis fangen bereits damit an.

Das Interview führte
Joachim Zießler

Originaltext: Landeszeitung Lüneburg
Digitale Pressemappe: http://www.presseportal.de/pm/65442
Pressemappe via RSS : http://www.presseportal.de/rss/pm_65442.rss2

Pressekontakt:
Landeszeitung Lüneburg
Werner Kolbe
Telefon: +49 (04131) 740-282
werner.kolbe@landeszeitung.de


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