(Registrieren)

Landeszeitung Lüneburg: "Parole aus der Berliner Käseglocke" - Wolfgang Jüttner gegen weitere Große Koalition

Geschrieben am 24-07-2008

Lüneburg (ots) - Kritik aus den eigenen Reihen, Mitgliederschwund,
Affärenschlagzeilen aus dem Parteibezirk Weser-Ems: Der "Zoff nach
der Wahlschlappe im Januar war größer als nach anderen
Landtagswahlen", räumt SPD-Fraktionschef Wolfgang Jüttner ein.
Dennoch sieht Jüttner die SPD im Aufwind, empfindet dabei aber
Gedankenspiele über eine erneute große Koalition als unnötige
Querschüsse.

Wie sehr schmerzt es, dass über die Ambitionen von Chris"tian
Wulff spekuliert wird, während die Landes-SPD vorwiegend mit
Personalquerelen in die Nachrichten kommt?

Wolfgang Jüttner: Es belustigt mich, von Wulffs Nicht-Ambitionen
zu lesen. Mehrfach zu betonen, keinen Machthunger zu haben, obwohl er
nach zwei deftigen Wahlniederlagen gegen Schröder noch ein drittes
Mal angetreten ist: Das ist eine Schmierenkomödie. Ich habe schon das
Gefühl, dass Wulff aus Niedersachsen weg will. Möglicherweise spürt
er, dass die Phase zu Ende geht, in der es für ihn gut aussah. Unsere
Aufgabe wird sein, deutlich zu machen, wofür wir inhaltlich stehen.
Es stimmt zwar, dass nicht alle Schlagzeilen über uns positiv waren.
Dadurch wird die wirklich gute Arbeit der Fraktion überlagert. 21 von
48 Fraktionsmitgliedern sind neu im Landtag, alle Abgeordneten sind
hoch motiviert.

Hat die SPD mittlerweile ihre verheerende Wahlschlappe vom Januar
aufgearbeitet?

Jüttner: Unsere Rolle als Oppositionsfraktion ist, klare
inhaltliche Alternativen zum Regierungshandeln aufzuzeigen. Und dies
geschieht ohne Wehklagen in dem Bewusstsein, es besser zu können als
die Regierung. Die Schlappe zu verarbeiten, ist vor allem eine
Aufgabe für die Partei. Aber natürlich sind alle Fraktionsmitglieder
auch Teil der Partei. Insofern wissen sie, dass ein Grund für die
Schlappe die große Koalition in Berlin war, die eine Polarisierung in
einem Landtagswahlkampf erschwerte. Der zweite Grund liegt in der
Historie. In der Bundesrepublik wurde nur ein einziges Mal eine
Regierung nach nur einer Wahlperiode abgewählt. Es gibt eine Kultur
der zweiten Chance für die Regierung. Zum dritten hätten wir nur eine
Chance gehabt, wenn uns eine Polarisierung gelungen wäre. Im
Gegensatz zu Koch in Hessen verfolgte Wulff allerdings eine
Umklammerungsstrategie. Jeden Angriff von uns hat Wulff pariert,
indem er das Thema zu seinem machte, beispielsweise bei der
Gesamtschule. Er hat sich taktisch sozialdemokratisiert im Wahlkampf.
Zudem gelang es Wulff, in einem präsidialen Führungsstil alles
Schwächeln von Regierungsmitgliedern von sich abperlen zu lassen. Am
Ende der ersten Wahlperiode funktioniert das noch, am Ende der
zweiten nicht mehr. Das alles waren aber keine Gründe, die wir hätten
abstellen können.
Worüber wir nachzudenken haben ist, ob die Partei organisatorisch
schlagkräftig genug ist. Da gibt es Handlungsbedarf.
In Sachen Spitzenkandidat gab es hier und da Kritik. Aber ich denke,
auch andere hätten kein besseres Ergebnis erzielt. Ich kreide mir an,
dass das Thema der Verkürzung der gymnasialen Oberstufe von uns nicht
aufgegriffen wurde.
Dazu gelang es nicht, in der Partei Aufbruchstimmung gegen die
negativen Umfrageergebnisse zu erzeugen. Als Spitzenkandidat fällt
diese Motivation leichter. Ohne eine gewisse autosuggestive
Siegesgewissheit könnte man einen solchen Wahlkampf nicht
durchstehen.

Hat Ihr Wahlslogan "Gerechtigkeit kommt wieder" der Linken in die
Karten gespielt?

Jüttner: Unser Wahlkampfkonzept zielte darauf ab, die 700EUR000
Anhänger, die von uns 2003 zu den Nichtwählern abgewandert waren,
zurückzugewinnen. Wir haben ein Alleinstellungsmerkmal -- und das ist
Gerechtigkeit, deshalb haben wir da angeknüpft. Leider haben manche
unseren Slogan missverstanden als Abgrenzung von der Bundes-SPD in
einer vermeintlich ungerechten großen Koalition. Das hat uns nicht
geholfen. Ein Ziel dabei war, die Linkspartei klein zu halten. Das
haben wir massiv verfehlt. Heute sagen die Wahlforscher, das
Fünf-Parteien-Sys"tem wird in den nächsten Jahren Bestand haben.
Dennoch haben wir 2008 doppelt so viele Wähler an die Nichtwähler
verloren wie an die Linke. Es macht also keinen Sinn, hinter der
Linken hinterherzulaufen.
Wir stehen programmatisch besser da als wir wahrgenommen werden und
als wir selbst signalisieren. Ich habe auch kein Problem damit, stolz
da"rauf zu sein, wie die rot-grüne Koalition den Reformstau auflöste
oder wie sich die SPD in der großen Koalition schlägt. Es besteht
kein Anlass, sich immer von sich selbst zu distanzieren.

Aber haben Sie das nicht selbst gemacht, als sie Parteichef Beck
dabei unterstützten, Hartz IV nachzubessern?

Jüttner: Nein, weil auch gutgemeinte Gesetzesvorhaben nicht immer
und ewig gut sein müssen. Es ging nicht darum, sich zu distanzieren,
sondern nach Jahren Anpassungen vorzunehmen, weil sich auch die
Rahmenbedingungen geändert haben. Richtig war die Zusammenlegung von
Arbeitslosen- und Sozialhilfe. Gleiches gilt für das Prinzip "Fördern
und fordern". Die Einführung der Pauschalierung warf aber zum
Beispiel Probleme auf bei Kindern in Familien, die von Grundsicherung
leben. Aber es gibt auch in der SPD Gegner von Hartz IV, die
Phänomene wie Niedriglohnsektor und Kinderarmut Hartz IV zuschreiben.
Das ist falsch.

Hat die SPD ausgerechnet in der Sozialpolitik eine Chance, ihr
Profil zu schärfen, wo die Konkurrenz immer die radikalere These
aufstellen kann?

Jüttner: Wir haben keine Chance, wenn wir mit der Linken in einen
Wettbewerb um fundamentalistische Forderungen eintreten. Wir können
nur auf die Rationalität der Bevölkerung bauen, die ein Gespür dafür
hat, welches Konzept auf Dauer trägt. Die SPD-Fraktion im Landtag
geht professionell mit der Linken um, das heißt: Wir erheben sie
weder zu Märtyrern, indem wir sie ausgrenzen, noch zu Helden, indem
wir ihren radikalen Maximalforderungen nacheifern. Entweder, die
Linke ist mittelfristig entzaubert, weil Radikalität auf Dauer nicht
trägt. Oder sie vollzieht mehrere Häutungen und ist dann
parlamentstauglich. Die Teilhabe an Koalitionen hat zum Beispiel die
Linke entzaubert, danach hat sich ihr Wähleranteil in Berlin und
Mecklenburg halbiert.

Hannovers OB Stephan Weil und der Göttinger Bundestagsabgeordnete
Thomas Oppermann konstatierten jüngst ein "Führungsproblem". Kann ein
Bundestagsmitglied als Parteivorsitzender im Land ausreichend Flagge
zeigen?

Jüttner: Ja. Das funktioniert in anderen Bundesländern auch. Ein
Führungsproblem haben wir nicht, lediglich eine offene Personalie:
Das ist die Spitzenkandidatur 2013. Aber da sind wir uns einig, dies
nach der Bundestagswahl 2009 zu entscheiden.

Derzeit ringen die SPD-Bezirke um den größtmöglichen Einfluss. Ist
Proporzdenken die richtige Antwort auf den erheblichen
Mitgliederschwund?

Jüttner: Die Mitgliederentwicklung ist ein zusätzliches Argument,
die Organisationsstruktur der Niedersachsen-SPD zu optimieren. Die
Bezirke sind historisch gewachsen, haben aber eigentlich keine
politische Legimitation mehr, weil es kein Äquivalent auf der
politisch-administrativen Ebene gibt, etwa Bezirksregierungen. Dass
der Landesverband Niedersachsen vier Mitglieder hat, von denen jeder
Beschlüsse blockieren kann, passt nicht mehr in die heutige Welt. Bis
auf Hessen haben alle anderen Landesverbände die Bezirke so
zusammengelegt, dass sie mit den Entscheidungsebenen der
Landespolitik deckungsgleich sind. Das ist auch unser Ziel.

Swantje Hartmann wurde der Rücktritt wegen einer Finanzaffäre
nahegelegt, in die ihr Ex-Partner verwickelt ist. Gegen sie selbst
wird nicht ermittelt. Hat die SPD überreagiert?

Jüttner: Wäre Swantje Hartmann nicht zurückgetreten, hätte die
Fraktion sie abgewählt. Der Grund war das zerstörte
Vertrauensverhältnis. Wir haben uns als Fraktion aber weder in die
Auseinandersetzung eingemischt, noch haben wir über Schuld oder
Unschuld abgestimmt. Unser Votum erfolgte allein über die
Vertrauenswürdigkeit und die Teamfähigkeit von Frau Hartmann. Beides
war nicht mehr gegeben.

Sie beklagten jüngst in einem Interview das Gesamtbild der SPD
auch im Bund. Was braucht es, um die Sozialdemokraten wieder aus dem
30-Prozent-Ghetto zu holen?

Jüttner: Bei aller berechtigter Kritik warne ich vor allzuviel
Schwarzmalerei: Im Land sind wir zwar bei einem dramatischen Verfall
der Wahlbeteiligung abgesackt, aber das ist sicherlich kein
Dauerzustand. Bei der Kommunalwahl vor zwei Jahren hatten wir 38
Prozent und bei der Bundestagswahl vor drei Jahren über 43 Prozent.
Wir stellen mehr Oberbürgermeister und Landräte als die CDU. Wir
wollen auch wieder die für Niedersachsen üblichen SPD-Wahlergebnisse
erzielen.
Die Aufgabe im Bund ist unter den Bedingungen der großen Koalition
schwierig, weil man konstruktiv mitarbeiten muss und zugleich sein
Profil erkennbar schärfen will.
Ich hoffe, dass die Debatte nicht weitergetrieben wird, wonach eine
große Koalition klasse ist. Diese Aussage von Finanzminister Peer
Steinbrück hat mir nicht sonderlich gefallen. Da teile ich eher die
Einschätzung von Wolfgang Schäuble, nach der die große Koalition
nicht der Normalzustand ist. Wen will ich denn mit dem Ziel
mobilisieren, die Elefantenehe zu verlängern? Eine solche Idee kann
nur in der Berliner Käseglocke gedeihen, wo der Abstand zur Basis
größer ist als im Land.

Das Interview führte
Joachim Zießler

Originaltext: Landeszeitung Lüneburg
Digitale Pressemappe: http://www.presseportal.de/pm/65442
Pressemappe via RSS : http://www.presseportal.de/rss/pm_65442.rss2

Pressekontakt:
Landeszeitung Lüneburg
Werner Kolbe
Telefon: +49 (04131) 740-282
werner.kolbe@landeszeitung.de


Kontaktinformationen:

Leider liegen uns zu diesem Artikel keine separaten Kontaktinformationen gespeichert vor.
Am Ende der Pressemitteilung finden Sie meist die Kontaktdaten des Verfassers.

Neu! Bewerten Sie unsere Artikel in der rechten Navigationsleiste und finden
Sie außerdem den meist aufgerufenen Artikel in dieser Rubrik.

Sie suche nach weiteren Pressenachrichten?
Mehr zu diesem Thema finden Sie auf folgender Übersichtsseite. Desweiteren finden Sie dort auch Nachrichten aus anderen Genres.

http://www.bankkaufmann.com/topics.html

Weitere Informationen erhalten Sie per E-Mail unter der Adresse: info@bankkaufmann.com.

@-symbol Internet Media UG (haftungsbeschränkt)
Schulstr. 18
D-91245 Simmelsdorf

E-Mail: media(at)at-symbol.de

149908

weitere Artikel:
  • WAZ: 40 Jahre "Humanae vitae" - Eine Kluft, die blieb. Leitartikel von Angelika Wölk Essen (ots) - Als Papst Paul VI. vor 40 Jahren die Enzyklika "Humanae vitae" veröffentlichte, setzte er einen Prozess in Gang, der bis heute andauert und der für die katholische Kirche durchaus tragisch zu nennen ist. Denn sie schuf eine Kluft im Bewusstsein vieler Katholiken. Die Enzyklika, die schon bald als "Pillenenzyklika" in die Geschichte einging, beförderte die Trennung zwischen Kirche und Welt, Kirche und Sexualmoral, und sie hat die Glaubwürdigkeit der Kirche stark erschüttert. Und bis heute ist es ihr nicht wirklich gelungen, mehr...

  • Lausitzer Rundschau: BVG-Urteil zum Nachtflugverbot am Flughafen Leipzig/Halle Sanft gelandet Cottbus (ots) - Nach heftigen Turbulenzen hat der große Frachtflieger Leipzig wieder ruhige Luftschichten erreicht: Das Bundesverwaltungsgericht gab gestern grünes Licht für einen unbegrenzten Paketversand - rund um die Uhr. Eine Entscheidung, die für die Wirtschaftsregion Gold wert ist. Denn der weltweit operierende Logistiker DHL, zwei Lufthansa-Töchter und in ihrem Gefolge viele weitere Firmen haben mit der Nachtflugerlaubnis Gewissheit, dass sie ihre Geschäfte weiter betreiben und ausbauen können. Das Frachtdrehkreuz wird damit immer mehr...

  • Der neue Tag: Kommentarauszug zur Rede Obamas in Berlin Weiden (ots) - "... Obama wird auch etwas mitnehmen, diese Stimmung aufsaugen und spüren, dass sich in der Begeisterung der Menschen an der Siegessäule in Berlin eine Hoffnung ausdrückt. Nicht nur der Stil des Umganges miteinander muss sich ändern, auch manche Zwänge, militärische, wirtschaftliche oder umweltpolitische, lassen sich nur im Konsens lösen. Diese Erkenntnis hat Obama vermittelt. Bis zu ihrer Umsetzung im Weißen Haus ist allerdings noch ein mühsamer Weg." Originaltext: Der neue Tag Digitale Pressemappe: http://www.presseportal.de/pm/70539 mehr...

  • Lausitzer Rundschau: Die Enzyklika Humanae Vitae Verlässliche Beziehungen Cottbus (ots) - Ist es wirklich zeitgemäß, im Zeitalter von Aids und Überbevölkerung auf Kondome und Verhütungsmittel zu verzichten? Wenn das Gespräch auf die päpstliche Enzyklika Humanae Vitae kommt, steigt bei vielen Zeitgenossen in der Regel schnell der Blutdruck an. Das Dokument von Papst Paul VI. gilt vielen als die Pillen-Enzyklika, als Symbol für Rückständigkeit und Weltferne der katholischen Kirche. 40 Jahre später freilich sollte man sich ruhig einmal genauer mit dem Dokument beschäftigen. Schon 1968 war das eigentliche Anliegen mehr...

  • Westfalen-Blatt: Das WESTFALEN-BLATT (Bielefeld) zu Obama in Berlin Bielefeld (ots) - US-Fernsehstationen staunen schon seit Tagen über die Obama-verrückten Deutschen. Gestern Abend endlich konnten die »Obama-crazy Germans« selbst überprüfen, ob stimmt, was eine völlig übersteigerte Heilserwartung in den Senator aus Illinois hineinprojiziert hatte. Neben der Begeisterung für einen frischen, unverbrauchten Politiker mit den allerbesten Absichten trat auch Ernüchterung. Realismus statt Happening schwang mit in seiner durchaus staatsmännischen Rede an der Siegessäule. Obama konnte gar nicht anders, als die mehr...

Mehr zu dem Thema Aktuelle Politiknachrichten

Der meistgelesene Artikel zu dem Thema:

LVZ: Leipziger Volkszeitung zur BND-Affäre

durchschnittliche Punktzahl: 0
Stimmen: 0

Bitte nehmen Sie sich einen Augenblick Zeit, diesen Artikel zu bewerten:

Exzellent
Sehr gut
gut
normal
schlecht