(Registrieren)

Westfalen-Blatt: Das WESTFALEN-BLATT (Bielefeld) zur Essener Tafel

Geschrieben am 02-03-2018

Bielefeld (ots) - Herz oder Kopf - wie entscheiden sich die
SPD-Mitglieder? Stimmen sie für die Große Koalition? Es wäre nicht
mehr als ein nüchternes, ein rationales Ja - ein Ja als kleineres
Übel sozusagen. Oder votieren sie dagegen? Es wäre ein hoch
emotionales Nein, das die tief verletzte Parteiseele streicheln mag,
und doch die SPD den Kopf kosten könnte.

Platzt die Große Koalition auf der Zielgeraden, ist nicht nur die
Fraktionsvorsitzende und designierte Parteichefin Andrea Nahles
bloßgestellt, sondern mit ihr die gesamte Führungsriege der SPD. Und
auch Juso-Chef Kevin Kühnert, der talentierte Anführer der
NoGroKo-Kampagne, hätte ein riesiges Problem. Denn mit welcher
Botschaft wollte er in den kommenden Wahlkampf ziehen?

Bis die Entscheidung feststeht, geht das große Zittern um.
Allerorten wird vor Neuwahlen gewarnt, weil das »nur die AfD stärken
würde«. Eine unbewiesene Behauptung, die noch dazu ein merkwürdiges
Demokratieverständnis offenbart: Hat da etwa jemand Angst vor dem
Wähler? Und wenn ja, besteht diese Angst zurecht?

Womit wir bei der Essener Tafel wären, ihrem Vorsitzenden Jörg
Sartor und der im Dezember vom Vorstand einstimmig getroffenen
Entscheidung, vorerst keine Ausländer mehr anzunehmen. Diese
Entscheidung mag falsch sein, weil sie gegen die Satzung der Tafeln
verstößt und Bedürftigkeit keine Frage der Herkunft ist. Vor allem
aber ist sie ein Hilferuf. Denn Sartor und seine Mitstreiter,
allesamt ehrenamtlich tätig, hatten beobachtet, dass die wachsende
Zahl der Flüchtlinge an den Ausgabestellen vermehrt zu Konflikten
führt. Insbesondere junge männliche Migranten ließen es demnach an
Respekt gegenüber Müttern und älteren Frauen fehlen, so dass diese
lieber wegblieben.

Und wie reagierte die große Politik? Kühl und belehrend. Kanzlerin
Angela Merkel (CDU) nannte die Entscheidung »nicht gut«. Der
SPD-Bundestagsabgeordnete Karl Lauterbach attestierte, nun sei »der
Ausländerhass sogar bei den Ärmsten angekommen«. Und die Berliner
Staatssekretärin Sawsan Chebli (SPD) twitterte, ihr laufe es »eiskalt
den Rücken herunter«, wenn »Essen nur für Deutsche« ausgegeben werde.

Vor Ort aber hatte sich keiner der drei zuvor ein Bild gemacht.
Und gesprochen hatten sie mit Sartor auch nicht. Von der Tatsache,
dass die Essener Tafel nur eine Entwicklung ausbadet, die nicht sie,
sondern die sie kritisierenden Politiker zu verantworten haben, ganz
zu schweigen. Denn Sozialpolitik ist eine Sache des Staates.
Hingehen, zuhören, miteinander statt übereinander sprechen - sind das
nicht politische Urtugenden? Und was wäre eigentlich gewesen, wenn
die Essener Tafel aus Angst vor einer weiteren Eskalation ihre Arbeit
eingestellt hätte? Soll es am Ende gar besser sein, nicht zu helfen,
als nicht allen zu helfen? Das wäre beschämend. Wie es der ganze Fall
ist, der viel über die Entfremdung zwischen Regierenden und Regierten
in unserem Land verrät. Und SPD wie Union täten gut daran, sich zu
fragen, ob ihre jüngsten Misserfolge nicht genau hier ihre Ursache
haben.

Dass Sartor und seine Mitstreiter sich darüber hinaus auch noch
Hass-Graffitis gefallen lassen mussten, rundet das ungute Bild nur
ab. »Nazis« und »Fuck Nazis« steht nun an der Tür und auf sechs der
sieben Tafel-Fahrzeuge geschrieben, mit denen die Ehrenamtlichen
durch die Stadt fahren. Es spricht für Sartor, diesen Unsinn erst
einmal ganz bewusst stehen zu lassen, weil er findet: »Das sollen
alle sehen.«

Für unser Land aber spricht das alles leider nicht. Gewiss: In der
Sache muss hart gerungen werden. Und Streit gehört dazu. Ein
Tugend-Rigorismus jedoch, der nur Schwarz oder Weiß, nur Feind oder
Freund, nur »Ausländerhasser« oder »Gutmenschen« kennt, hilft keinem
weiter. Was im September 2015 schon falsch war, ist es im März 2018
noch immer. Wir brauchen dringend eine neue Regierung, aber genauso
dringend ist eine neue politische Kultur vonnöten.



Pressekontakt:
Westfalen-Blatt
Chef vom Dienst Nachrichten
Andreas Kolesch
Telefon: 0521 - 585261

Original-Content von: Westfalen-Blatt, übermittelt durch news aktuell


Kontaktinformationen:

Leider liegen uns zu diesem Artikel keine separaten Kontaktinformationen gespeichert vor.
Am Ende der Pressemitteilung finden Sie meist die Kontaktdaten des Verfassers.

Neu! Bewerten Sie unsere Artikel in der rechten Navigationsleiste und finden
Sie außerdem den meist aufgerufenen Artikel in dieser Rubrik.

Sie suche nach weiteren Pressenachrichten?
Mehr zu diesem Thema finden Sie auf folgender Übersichtsseite. Desweiteren finden Sie dort auch Nachrichten aus anderen Genres.

http://www.bankkaufmann.com/topics.html

Weitere Informationen erhalten Sie per E-Mail unter der Adresse: info@bankkaufmann.com.

@-symbol Internet Media UG (haftungsbeschränkt)
Schulstr. 18
D-91245 Simmelsdorf

E-Mail: media(at)at-symbol.de

628311

weitere Artikel:
  • Rheinische Post: Kommentar / Putins Atom-Irrtum = Von Matthias Beermann Düsseldorf (ots) - Man könnte achselzuckend über Wladimir Putins jüngsten Auftritt hinweggehen, den der Kreml-Chef dazu nutzte, mit Russlands neuen atomaren Wunderwaffen zu prahlen. Das sollte - zwei Wochen vor der russischen Präsidentenwahl - wohl vor allem die Russen beeindrucken. Putin wird ja wohl nicht ernsthaft vergessen haben, dass der letzte Rüstungswettlauf mit dem Westen im Zusammenbruch der Sowjetunion mündete. Diese Drohung mit neuen Waffen entspricht jedoch einer alten Politik, und Russlands massive Aufrüstung folgt der mehr...

  • Rheinische Post: Kommentar / Keine Gnade für Gaffer = Von Henning Rasche Düsseldorf (ots) - Gaffer ergötzen sich am Leid ihrer Mitmenschen. Das ist widerwärtig. Sie als Schaulustige zu bezeichnen, trifft nicht den Kern ihres Handelns. Schaulustige kommen bei Brückensprengungen oder Tanzeinlagen in der Einkaufstraße zusammen. Gaffer hingegen verharren an einem Ort, der für andere zum Unglücksort geworden ist. Sie haben keine Lust zu schauen, sie haben Lust am Unglück. Auch wenn die strafrechtliche Lücke, die der Bundesrat nun schließen will, klein sein mag, ist das Vorgehen notwendig. Es braucht Zeichen, dass mehr...

  • Rheinische Post: Kommentar / Trump wird den Handelskrieg verlieren = Von Antje Höning Düsseldorf (ots) - Handelskriege sind gut und einfach zu gewinnen, twitterte der US-Präsident. Offenbar liegen ihm wieder alternative Fakten vor, denn die Wahrheit sieht anders aus. Der Tweet macht deutlich, warum der Republikaner ein solcher Ausfall ist: Trump dient nicht seinem Land, sondern den Partikularinteressen einer Branche, die nicht wettbewerbsfähig ist. Trump schadet seinem Volk: US-Autobauer und US-Verbraucher werden am meisten unter den folgenden Stahlpreis-Erhöhungen leiden. Trump hat keine Ahnung von Wirtschaft: Seit mehr...

  • Westfalenpost: Die Schwäche der SPD ist ein Problem fürs ganze Land - Zum Mitgliedervotum über die Große Koalition Hagen (ots) - Wenn die Parteibasis gegen die GroKo entscheidet, hat nicht nur die SPD ein Problem. Folgt dann die erste Minderheitsregierung nach dem Krieg, eine Neuwahl oder besinnt sich die Lindner-Partei? Im Inneren ließe sich wahrscheinlich noch passabel weiterwursteln, aber außenpolitisch ist eine stabile Führung dringend nötig. Ein negatives SPD-Votum wäre also schlecht für Deutschland und Europa und sicher auch für eine Partei, die damit ihrer gesamten Führung das Misstrauen ausgesprochen hätte. Doch auch eine Mehrheit für mehr...

  • Badische Zeitung: Russlands Atompläne / Weckruf für Berlin Kommentar von Dietmar Ostermann Freiburg (ots) - Das bizarre Wettprahlen, bei dem Donald Trump besonders kleine Sprengköpfe und Wladimir Putin besonders große Atomraketen ankündigt, wird von Teheran bis Pjöngjang nicht ohne Folgen bleiben. Deutschland und Europa können da nicht tatenlos zusehen. Neben all den anderen Problemen gehört der Versuch, einen Zusammenbruch der Rüstungskontrolle und ein neues nukleares Wettrüsten zu verhindern, ganz oben auf die außenpolitische Agenda in Berlin, Paris und London. Eine gemeinsame europäische Initiative hätte allemal bessere mehr...

Mehr zu dem Thema Aktuelle Politiknachrichten

Der meistgelesene Artikel zu dem Thema:

LVZ: Leipziger Volkszeitung zur BND-Affäre

durchschnittliche Punktzahl: 0
Stimmen: 0

Bitte nehmen Sie sich einen Augenblick Zeit, diesen Artikel zu bewerten:

Exzellent
Sehr gut
gut
normal
schlecht