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Landeszeitung Lüneburg: Hunger nach Bildung und Lebensfreude / Die Wahl in Afghanistan kann laut "FAZ"-Asien-Redakteurin Friederike Böge eine Wende zum Guten einleiten

Geschrieben am 10-04-2014

Lüneburg (ots) - Ihr letzter Auftrag führte die deutsche
Foto-Journalistin Anja Niedringhaus in die afghanische Unruheprovinz
Khost, wo sie Wahlvorbereitungen begleitete. Dank ihr und anderen
mutigen Reportern wird der Schrecken ferner Kriege auch bei uns
fassbar. Friederike Böge, Asien-Redakteurin der "Frankfurter
Allgemeinen Zeitung", sprach mit unserer Zeitung über ihren
gefährlichen Beruf, die Bedeutung der Wahl und die Folgen des
bevorstehenden Abzugs der ISAF-Truppen.

Der Tod der Kriegsfotografin Anja Niedringhaus macht erneut die
Risiken deutlich, die Journalisten in einigen Regionen der Welt auf
sich nehmen. Wie lebt es sich mit der Angst, ständig angreifbar zu
sein? 

Friederike Böge: Es ist nicht so, dass man in Afghanistan
permanent daran denkt, dass man angegriffen werden könnte. Es gibt
dort viel mehr Normalität, als gemeinhin angenommen wird. Und nach
wie vor sind solche Angriffe wie der auf Anja Niedringhaus
Einzelfälle. In den vergangenen Wochen war die Stimmung unter
ausländischen Journalisten aufgrund einiger gezielter Angriffe auf
Ausländer allerdings angespannter als sonst. Nach der Stichwahl
könnte sich die Lage aber etwas entspannen.

"Wenn ich nicht fotografiere, wird es nicht bekannt", sagte
Niedringhaus. Rechtfertigen My Lai und Kundus jedes Risiko? 

Böge: Es scheint mir nicht angemessen, My Lai und Kundus in einem
Atemzug zu nennen. Ich glaube auch nicht, dass Anja Niedringhaus sich
mit ihrer Aussage darauf bezog. Es geht vielmehr darum, dass jeder
Journalist in einer Krisenregion jeden Tag aufs Neue abwägen muss,
welche Risiken er für welche Geschichte einzugehen bereit ist. Anja
Niedringhaus hat die Wahlvorbereitungen in Khost begleitet, während
viele andere Journalisten sich dafür sicherere Gebiete wie Kabul und
Mazar-i-Sharif ausgesucht haben. Entsprechend einseitig war das Bild,
das wir bislang von diesen Wahlen erhalten haben. In ländlichen
Gebieten, etwa in Khost, sah es ganz anders aus als in den Städten,
wo sich lange Schlangen vor den Wahllokalen bildeten. In jedem Fall
hat Anja Niedringhaus mit ihrer mutigen Arbeit einen sehr wichtigen
Beitrag zum Verständnis der Menschen und Krisen geleistet, die sie
fotografiert hat.

Es war der dritte Angriff auf für westliche Medien arbeitende
Journalisten innerhalb weniger Wochen. Fällt die Sicherheitslage
hinter die Standards zurück, die durch die Intervention erreicht
wurden?

Böge: Man muss unterscheiden, FÜR WEN sich die Sicherheitslage
verschlechtert hat. In vielen Teilen des Landes ist die Sicherheit
für die lokale Bevölkerung seit Jahren prekär. In den vergangenen
Wochen gab es eine auffällige Häufung von Angriffen auf Ausländer.
Für die meisten Afghanen hat sich damit nichts verändert.

Sind ausländische Journalisten das neue Ziel der
radikalislamischen Taliban?

Böge: Bislang ist noch unklar, ob die Journalisten wegen ihres
Berufs angegriffen wurden oder weil sie Ausländer waren. Auch wer die
Angriffe jeweils verübt hat, ist noch offen. Im Fall von Anja
Niedringhaus zum Beispiel könnte es sich um einen Einzeltäter ohne
Verbindungen zu den Taliban handeln, der im Affekt gehandelt hat.
Auch über die Hintergründe des Mordes an dem schwedischen
Journalisten Nils Horner ist bislang kaum etwas bekannt.

Sie haben über den Wählerenthusiasmus berichtet. Den Drohungen der
Taliban zum Trotz gaben Millionen Männer und Frauen ihre Stimme ab.
Was bedeutet die Wahl für die Afghanen?

Böge: Diese Wahlen sind sehr entscheidend für die weitere
Entwicklung des Landes. Wenn daraus ein Präsident hervorgeht, der
tatsächlich von einer Mehrheit der Afghanen akzeptiert wird, dann
kann das eine Wende zum Guten einleiten. Allzu oft wird vergessen,
dass der Konflikt mit den Taliban auch durch die politische Krise im
Land angeheizt wird. Die Aufständischen können nur deshalb in vielen
Teilen des Landes frei agieren, weil die Bevölkerung kein Vertrauen
in die Regierung hat. Und in vielen Fällen nutzen die Taliban lokale
Konflikte, die durch Machtmissbrauch der Regierung angeheizt werden.
Das könnte sich mit einem neuen Präsidenten ändern.

Und für die Taliban?

Böge: Auf den ersten Blick erscheinen die hohe Wahlbeteiligung und
die Tatsache, dass es keine spektakulären Anschläge am Wahltag gab
als Niederlage für die Taliban und als Zeichen ihrer Schwäche. Ob
sich das bestätigt, muss man abwarten. Die Taliban hatten zwar
angekündigt, die Wahlen durch Gewalt verhindern zu wollen. Es gab
aber keinen größeren Angriff auf eine Wahlkampfveranstaltung, obwohl
dies leichte Ziele gewesen wären. Möglicherweise fürchteten die
Taliban, sich durch solche Angriffe auf die Zivilbevölkerung noch
unbeliebter zu machen als sie schon sind.

Eine Umfrage unter Frauen, die am Mikrokredit-Projekt "Jamila" in
Kabul teilnehmen, zeigt, dass sie durch Radio oder Fernsehen sehr gut
über die Präsidentenwahl informiert waren. Welche Rolle spielen heute
die Medien?

Böge: Der Aufbau der Medien in den vergangenen zwölf Jahren ist
eine Erfolgsgeschichte. Es gibt eine große Vielfalt an Fernseh- und
Radiosendern und Zeitungen. Journalisten gehören zu den wichtigsten
Reformkräften des Landes. Sie haben einen gesellschaftlichen Wandel
eingeleitet; mit Bollywood-Serien, Call-in-Sendungen, Talkshows, aber
auch mit Musik, die ja unter den Taliban verboten war. Allerdings
gibt es auch einige Schattenseiten des Mediensektors. Viele
Fernsehsender gehören Machthabern, die ihre jeweilige ethnische und
religiöse Klientel bedienen und so zu Spannungen im Land beitragen.

Als Chefredakteurin von "Afghanistan Today" haben Sie einheimische
Journalisten ausgebildet. Worum ging es bei diesem Projekt? Sehen Sie
konkrete Erfolge, die den Abzug der westlichen Truppen überdauern?

Böge: Das Projekt, das es ja immer noch gibt, hat zwei Ziele: Zum
einen sollen damit Journalisten "on the job" ausgebildet werden. Dass
die Ausbildung so praxisnah wie möglich ist, war mir immer wichtig;
weil ich früher viele Journalistenseminare in Afghanistan gegeben
habe und immer wieder festgestellt habe, dass sie nur dann etwas
bringen, wenn sie mit dem Berufsalltag verzahnt sind. Das zweite Ziel
ist die Vermittlung eines differenzierten Afghanistanbildes, das über
Warlords, Burkas und Opium hinausgeht.

Der Kampfeinsatz der Internationalen Schutztruppe Isaf läuft zum
Jahresende aus. Ein kleiner Nato-Folgeeinsatz ist noch nicht
beschlossen. Wie sehr beunruhigt dies die Afghanen, für die Krieg
immer noch allgegenwärtig ist?

Böge: Die Unsicherheit darüber, ob es einen Folgeeinsatz gibt, hat
in den vergangenen Monaten sehr konkrete, vor allem wirtschaftliche
Folgen gehabt. Die Immobilienpreise, der Wert der afghanischen
Währung und der Neuwagenmarkt sind eingebrochen. Viele reichere
Afghanen haben ihr Geld außer Landes geschafft, es fehlt an Vertrauen
in die Zukunft. Bei der Angst vor dem Abzug geht es nicht nur um
militärische Fragen, sondern auch um das Geld, das mit abzieht und um
die vielen, vielen Arbeitsplätze, die die ausländische Militärpräsenz
geschaffen hat. In der Logistikbranche, in der Baubranche, bei
privaten Sicherheitsunternehmen.

Peter Scholl-Latour sieht das Konzept des "Nation-buildings" als
gescheitert, die Vorstellung, der afghanischen Armee die
Sicherheitsverantwortung in die Hand zu legen als "völlig
illusorisch". Teilen Sie seine Meinung?

Böge: Ich wüsste nicht, was die Alternative zu einem Aufbau der
Armee und Polizei gewesen wäre. Hätte man die alten Milizen walten
lassen sollen, die das Land schon einmal in Schutt und Asche gelegt
haben? Nach meinem Eindruck wächst das Vertrauen vieler Afghanen in
ihre Sicherheitskräfte, auch wenn sie bei Luftunterstützung,
Aufklärung und Logistik noch einige Jahre auf internationale
Unterstützung angewiesen sein werden. Wichtig ist vor allem, dass
sich die internationale Gemeinschaft langfristig dazu verpflichtet,
die Sicherheitskräfte zu finanzieren. Andernfalls könnten sie sich
innerhalb kürzester Zeit in marodierende Banden verwandeln.

Viele Kinder werden zwangsverheiratet, häusliche Gewalt ist weit
verbreitet. Hat sich die Gesellschaft in der Ära Karzai wirklich
modernisiert?

Böge: Ja, das hat sie. Allerdings lässt sich eine Gesellschaft
nicht über Nacht verändern. Es gibt auch große Unterschiede zwischen
Stadt und Land. Neu ist auch, dass jetzt in den Medien über häusliche
Gewalt berichtet wird und dass Frauen sich trauen, die Täter
anzuzeigen. Aber es gibt auch starke konservative Kräfte, denen diese
Entwicklung ein Dorn im Auge ist, und die versuchen, sie
zurückzudrehen.

14 000 Schulen, dennoch 70 Prozent aller Afghanen sind
Analphabeten. Hat die Kulturfeindlichkeit der Taliban noch die
Oberhand?

Böge: Nein, in vielen Teilen des Landes, vor allem natürlich in
den Städten, ist ein großer Bildungshunger und ein Hunger nach Musik
und Fernsehserien zu spüren. Natürlich gibt es immer noch viele
Eltern, die ihre Töchter nicht zur Schule schicken. Und es gibt auch
Regionen, in denen aus Sicherheitsgründen die Schulen geschlossen
sind. Es fehlt nach wie vor an ausgebildeten Lehrern. Statistiken
sind in Afghanistan aber mit Vorsicht zu genießen, weil niemand weiß,
wie viele Einwohner Afghanistan überhaupt hat. Insgesamt darf man
nicht vergessen, dass Afghanistan eines der ärmsten Länder der Welt
ist, dass drei Jahrzehnte Krieg hinter sich hat.

Das Interview führte Fanny Pigliapoco



Pressekontakt:
Landeszeitung Lüneburg
Werner Kolbe
Telefon: +49 (04131) 740-282
werner.kolbe@landeszeitung.de


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