(Registrieren)

Mittelbayerische Zeitung: Im Würgegriff des Clowns - Silvio Berlusconi hat Italien vielleicht unumkehrbar verändert. Von Julius Müller-Meiningen

Geschrieben am 07-08-2013

Regensburg (ots) - Silvio Berlusconi ist ein in letzter Instanz
verurteilter Straftäter. Drei italienische Gerichte, darunter der
Oberste Gerichtshof in Rom, befanden den 76-Jährigen wegen
Steuerbetrugs in Millionenhöhe für schuldig. Berlusconi wurde zu vier
Jahren Haft verurteilt, von denen er wegen einer Amnestieregelung nur
ein Jahr absitzen muss, vermutlich in Hausarrest. Dennoch hält der
viermalige Ministerpräsident Italien weiter in Schach. In jeder
anderen westlichen Demokratie hätte ein rechtskräftiges
Gerichtsurteil den Rücktritt des Verurteilten zur Folge. Besonders
ein gegen das Gemeinwesen gerichtetes Delikt wie Steuerhinterziehung
bedeutete für einen Politiker das Ende seiner Laufbahn. Nicht so in
Italien. Berlusconi, der weiter seinen Sitz im italienischen Senat
beansprucht, hat die Italiener in den vergangenen 20 Jahren Stück für
Stück verändert. Das Ergebnis ist: Ohne, dass sich die Öffentlichkeit
indigniert, kann der Verurteilte gegen die angebliche
politisch-juristische Verschwörung schwadronieren. Der kriminelle
Clown bestimmt weiter die politische Agenda. Ob Berlusconi von seiner
Unschuld überzeugt ist, spielt keine Rolle. Schon früher verteidigte
er als Ministerpräsident Steuerhinterziehung. Signifikant ist viel
mehr, dass Berlusconis Anhänger zwei voneinander unabhängige
Kategorien gegeneinander aufwiegen, nämlich Recht und Popularität.
Sie behaupten, die Justiz könne nicht einen Politiker aus dem Spiel
nehmen, der bei den vergangenen Wahlen die Stimmen von zehn Millionen
Italienern bekommen hat. Diese Logik zeugt vom Schwund des
demokratischen Rechtsstaats in Italien, in der Judikative und
Exekutive unabhängig voneinander agieren können müssen. Dass der
Straftäter Berlusconi seine Interessen auf Kosten Italiens überhaupt
weiter verfolgen kann, hat verschiedene Gründe. Da ist etwa die an
der Regierung beteiligte Berlusconi-Partei "Volk der Freiheit" (PdL),
die vollständig von ihrem Gründer abhängig ist. Die Partei verfügt
über keine echten demokratischen Strukturen, wie etwa einen Kongress,
auf dem Personal- und Richtungsentscheidungen getroffen werden. Der
Unternehmer Berlusconi hat die Bewegung im Stile einer Firma
organisiert, er hat sie selbst ins Leben gerufen, bestimmt ihren
Namen und Sekretär. Der reichste Unternehmer des Landes verfügt mit
der PdL über einen von ihm finanzierten Apparat zur Vertretung
eigener Interessen. Dieses als Partei getarnte Sprachrohr, das
zuletzt auf knapp ein Drittel der Wählerstimmen kam, ist das Vehikel
für Berlusconis politischen Überlebenskampf. Längst haben sich auch
Berlusconi-Feinde in Italien an parademokratische Mechanismen wie
diesen gewöhnt. Auch ist der gegenwärtige Effekt des durch Berlusconi
ausgelösten medialen und kulturellen Umschwungs in Italien nicht zu
unterschätzen. Der Medienunternehmer hat das italienische
Privatfernsehen monopolisiert, sein Imperium Mediaset bestimmt noch
heute den Markt. So hat sich in 20 Jahren beispielsweise die von den
Berlusconi-Sendern verbreitete und gebetsmühlenartig wiederholte
Botschaft einer parteiischen Justiz in vielen Köpfen festgesetzt. Der
Schriftsteller Umberto Eco unterteilte die Anhänger Berlusconis einst
anschaulich in die "motivierten" und die "faszinierten" Wähler.
Erstere lassen sich von Versprechungen wie Steuersenkungen
vereinnahmen, letztere sind vom Charisma Berlusconis fasziniert. Doch
auch die meisten Berlusconi-Gegner haben sich mit den Verhältnissen
abgefunden. Nicht Empörung oder Proteste sind ihre Reaktion auf das
unwürdige Spektakel des Paten der italienischen Politik. Eine Art
Murmeltier-Reflex, ein auch gedanklicher Rückzug ins Private, vereint
seit langem viele derjenigen, die Berlusconi für eines der größten
Übel Italiens halten und sich schon lange nichts mehr Gutes von der
Res Publica erwarten. Angesichts eines schlecht funktionierenden
Gemeinwesens und unwürdigen politischen Vertretern in allen Lagern
reagieren viele Italiener mit Desinteresse. Sie warten skeptisch ab
und könnten erst dann aufwachen, wenn es vielleicht schon zu spät
ist.



Pressekontakt:
Mittelbayerische Zeitung
Redaktion
Telefon: +49 941 / 207 6023
nachrichten@mittelbayerische.de


Kontaktinformationen:

Leider liegen uns zu diesem Artikel keine separaten Kontaktinformationen gespeichert vor.
Am Ende der Pressemitteilung finden Sie meist die Kontaktdaten des Verfassers.

Neu! Bewerten Sie unsere Artikel in der rechten Navigationsleiste und finden
Sie außerdem den meist aufgerufenen Artikel in dieser Rubrik.

Sie suche nach weiteren Pressenachrichten?
Mehr zu diesem Thema finden Sie auf folgender Übersichtsseite. Desweiteren finden Sie dort auch Nachrichten aus anderen Genres.

http://www.bankkaufmann.com/topics.html

Weitere Informationen erhalten Sie per E-Mail unter der Adresse: info@bankkaufmann.com.

@-symbol Internet Media UG (haftungsbeschränkt)
Schulstr. 18
D-91245 Simmelsdorf

E-Mail: media(at)at-symbol.de

478783

weitere Artikel:
  • Allg. Zeitung Mainz: Geisterbahn / Kommentar zum Mainzer Hauptbahnhof Mainz (ots) - Würde der Oscar in den Kategorien Volksverdummung, Missmanagement auf Steuerzahlers Kosten und Selbstdemontage verliehen, die Bahn hätte den Dreifachgewinn sicher. Es ist einfach unfassbar, was sich imwegen Personalmangels mehr oder weniger zur Geisterstation gewordenen Mainzer Hauptbahnhof abspielt. Neben den Fahrgästen kann einem eine Gruppe dabei besonders Leid tun: viele Bahn-Mitarbeiter, die trotzdem jeden Tag ihr Bestes geben. Das Management und die für Öffentlichkeitsarbeit Verantwortlichen gehören allerdings mehr...

  • Westfalen-Blatt: Das WESTFALEN-BLATT (Bielefeld) zu Obama/Putin Bielefeld (ots) - »Obama sagt Treffen mit Putin ab«: Das klingt bedrohlicher, als es ist. Das Zerwürfnis zwischen den USA und Russland über das Asyl für Spionage-Enthüller Edward Snowden mag vordergründiger Anlass sein, doch zu bereden haben die Präsidenten derzeit ohnehin nicht viel. Putin hat Obamas Abrüstungsoffensive abgebügelt, in der Syrienfrage sind beide uneins. Obamas Stippvisite in Moskau hätte allenfalls müdes Händeschütteln und diplomatische Nullfloskeln eingebracht - zu wenig für ein Spitzentreffen. Obama verfolgt mit mehr...

  • Stuttgarter Zeitung: Kommentar zu NSA/BND/SPD Stuttgart (ots) - Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, dass die Datenaffäre nicht als Wahlkampfmunition gegen Kanzlerin Merkel taugt, so glaubt die Union diesen jetzt gefunden zu haben. Nun wird der Schwarze Peter der rot-grünen Regierung unter Kanzler Schröder zugeschoben. Zu deren Amtszeit war offenbar vereinbart worden, dass der Bundesnachrichtendienst die amerikanischen Kollegen mit Informationen versorgt. Der verantwortliche Mann im Kanzleramt hieß damals Frank-Walter Steinmeier. Inzwischen ist er SPD-Fraktionschef. Den mehr...

  • Stuttgarter Zeitung: Gewaltspirale / Kommentar zu Ägypten Stuttgart (ots) - Drei Tage lang sah es so aus, als wäre in Ägypten ein Rest an Vernunft zurückgekehrt. Seit der Interimspräsident jedoch abrupt den Schlussstrich unter alle internationalen Vermittlungsversuche zog, muss man für das Land das Schlimmste befürchten. Was in den Gazetten und TV-Kanälen an politischen Schmutzkampagnen inszeniert wird, das hat es selbst in düsteren Mubarak-Jahren nicht gegeben. Was sich derzeit abspielt, ist der komplette Zusammenbruch öffentlicher Besonnenheit. Der vom Militär erzwungene Sturz Mursis mehr...

  • Allg. Zeitung Mainz: Fatale Entwicklung / Kommentar zu Inobhutnahme von Kindern Mainz (ots) - Allein die nackte Statistik, der enorme Anstieg der Inobhutnahmen von Kindern und Jugendlichen in den vergangenen fünf Jahren, lässt den Betrachter schaudern. Dabei erfährt man angesichts der Zahlen noch gar nichts von der Not und Angst der Jungen und Mädchen, die von ihren Eltern vernachlässigt, missbraucht, misshandelt werden. Es sind oft grausame, kaum zu ertragende Fälle. Jugendämter, Polizei, medizinisches Personal, Pflegeeltern und Heimmitarbeiter aber müssen sie ertragen, dürfen nicht wegschauen und müssen handeln. mehr...

Mehr zu dem Thema Aktuelle Politiknachrichten

Der meistgelesene Artikel zu dem Thema:

LVZ: Leipziger Volkszeitung zur BND-Affäre

durchschnittliche Punktzahl: 0
Stimmen: 0

Bitte nehmen Sie sich einen Augenblick Zeit, diesen Artikel zu bewerten:

Exzellent
Sehr gut
gut
normal
schlecht