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Landeszeitung Lüneburg: Die im Schatten sieht man nicht / Dr. Thomas Beyer von der Nationalen Armutskonferenz warnt vor wachsender neuer Wohnungsnot

Geschrieben am 17-01-2013

Lüneburg (ots) - Noch nie war es so schwer, in Groß- und
Universitätsstädten bezahlbaren Wohnraum zu finden. Forscher sprechen
von einer neuen Wohnungsnot. Und es wird noch schlimmer: Nach
Prognosen des Pestel-Instituts in Hannover fehlen in fünf Jahren
400.000 Wohnungen, wenn der Mietwohnungsbau nicht mindestens
verdoppelt wird. Dr. Thomas Beyer, Sprecher der Nationalen
Armutskonferenz, fordert: "Das Menschenrecht auf Wohnung muss im
Grundgesetz verankert werden."

Laufen Großprojekte wie der Berliner Hauptstadtflughafen aus dem
Ruder, ist die Empörung groß. Wünschen Sie sich ein entsprechendes
Interesse auch für die neue Wohnungsnot?

Dr. Thomas Beyer: Allerdings. Vor allem von der Bundesregierung,
namentlich dem zuständigen Minister Peter Ramsauer. Es ist auch nicht
nachvollziehbar, warum der Haushaltsausschuss des Bundestags die
Gelder für das sinnvolle Programm Soziale Stadt um 10 Millionen auf
40 Millionen Euro gekürzt hat. In der Regierungsvorlage waren nämlich
ursprünglich 50 Millionen Euro für das Jahr 2013 vorgeschlagen. Im
Gegensatz zu vielen Regierungspolitikern haben die Bürger den Ernst
der Lage erkannt. Mit Initiativen wie der Gentrifizierungsmap im von
Wohnungsnot besonders betroffenen München machen sie auf die
Situation aufmerksam. Sie zeigen auf diesem Stadtplan beispielsweise
auf, wo die Mieten explodieren und Menschen wegen Luxussanierungen
aus ihren Nachbarschaften verdrängt werden. Viele von ihnen machen in
Bezirksausschüssen und auf Bürgerversammlungen dagegen mobil.

Ist die neue Wohnungsnot ein verstecktes Elend, weil es keine
offizielle Statistik gibt?

Dr. Beyer: Großteils ja. Ausgerechnet in Deutschland, wo scheinbar
alles statistisch erhoben wird, gibt es keine amtliche
Wohnungsnotfallstatistik. Das heißt, wir können nur schätzen, wie
viele Menschen auf der Straße, in Notunterkünften und in
unangemessenem Wohnraum leben. Oder aber auch, wie vielen die
Wohnungslosigkeit droht. Als wohnungslos gilt nämlich nicht nur, wer
unter der Brücke liegt. Laut BAG Wohnungslosenhilfe - ein Mitglied
der Nationalen Armutskonferenz - waren im Jahr 2010 schätzungsweise
345.000 Menschen von einer dieser Formen der Wohnungslosigkeit
betroffen. Aber es gibt auch einen zweiten Aspekt der Wohnungsnot:
Viele Haushalte müssen ihren Lebensstandard erheblich einschränken,
weil die hohen Mieten den Großteil ihres Einkommens buchstäblich
auffressen. So hat das Pestel-Institut im vergangenen Jahr ermittelt,
dass in Deutschland rund 4 Millionen Sozialwohnungen fehlen. Nur
jeder fünfte finanzschwache Haushalt habe derzeit eine Chance auf
einen solchen Wohnraum. Kein Wunder, schließlich verschwinden laut
derselben Expertise Jahr für Jahr 100.000 Sozialwohnungen vom Markt,
beispielsweise weil sie aus der Mietpreisbindung herausfallen. Im
Gegenzug kommen aber nur 30.000 neue Sozialwohnungen pro Jahr hinzu.

Was könnte die von Fachleuten seit Langem geforderte
Wohnungsnotfallstatistik leisten und warum gibt es sie noch nicht?

Dr. Beyer: Sie wäre das für Praktiker und Sozialwissenschaftler
dringend benötigte Datenmaterial, an dem sie ihre Arbeit ausrichten
könnten. Welche Alters- und Bevölkerungsgruppen sind besonders
betroffen? In welchen Lebenslagen kommt es häufig zu
Wohnungslosigkeit? Welche Form von Wohnungslosigkeit herrscht vor?
Diese Fragen würden erörtert und Gegenmaßnahmen könnten gezielter
ergriffen werden, nicht zuletzt im präventiven Bereich. Warum es
diese Statistik nicht gibt, ist mir schleierhaft.

Droht der Bundesregierung ein jähes Erwachen, wenn sie glaubt
durch Formulierungskniffe im Armutsbericht die Armut in der
Bundesrepublik herunterrechnen zu können?

Dr. Beyer: Selbstredend. Diese Verschleierungstaktik erinnert ein
bisschen an das durchschaubare Vorgehen kleiner Kinder, die beim
Versteckspiel die Hände vor ihre Augen halten, weil sie glauben, nur
weil sie nichts sehen, könnten auch andere sie nicht sehen. Mit ihrem
Ablenkungsmanöver verspielt die Bundesregierung Respekt und
Vertrauen, die die Bürger ihr entgegenbringen sollen.

Werden die Verarmungsgefahren infolge von Niedriglohnjobs und
Hartz IV unterschätzt?

Dr. Beyer: Ja, denn die Mini-Löhne von heute sind die Mini-Renten
von morgen. Mit Mini-Jobs, Leiharbeit und Werkverträgen wird ein
drängendes Problem mehr schlecht als recht in die Zukunft verlagert,
wo es auch vor dem Hintergrund des demografischen Wandels zu einem
großen gesellschaftlichen Problem werden wird, wenn wir nicht
rechtzeitig gegensteuern.

Greifen die klassischen sozialstaatlichen Instrumente noch
angesichts von immer mehr Jobs, die ihre Inhaber nicht mehr ernähren?

Dr. Beyer: Es gibt sie durchaus, die Instrumente, mit denen
soziale Gerechtigkeit hergestellt werden kann. Sie werden bis jetzt
nur nicht umgesetzt. Gesetzlicher Mindestlohn, Ausbau der
Betreuungsmöglichkeiten für Kinder, kostenlose Gesundheitsvorsorge
für Bedürftige, kostenlose Bildung, die bereits erwähnte
Wohnungsnotfallstatistik und nicht zuletzt ein Steuersystem, in dem
Reiche angemessen beteiligt werden, zählen zu den dringend benötigten
Koordinaten eines modernen Sozialstaats.

Verlagern Konzepte wie "Fordern und Fördern" die Verantwortung für
ihre Armut auf die Schultern der Armen?

Dr. Beyer: Wenn der Schwerpunkt auf dem Fordern statt auf dem
Fördern liegt, auf jeden Fall. Dass die Bundesregierung zuletzt die
Fördermittel für die Arbeitsmarktinstrumente zusammengestrichen hat,
spricht für eine Entwicklung, in der das Fördern in den Hintergrund
tritt. Ein Beispiel: Das Bremer Institut für Arbeitsmarktforschung
und Jugendberufshilfe hat errechnet, dass den Jobcentern im Jahr 2010
bundesweit 6,35 Milliarden Euro für Maßnahmen zur Arbeitsförderung
zur Verfügung standen. Im Jahr 2012 waren es nur noch 3,78 Milliarden
Euro.

Welche psychosozialen Ursachen sieht die Bundesregierung für
Wohnungslosigkeit und welche sind in Ihren Augen die Ursachen?

Dr. Beyer: Die Ursachen sind aus meiner Sicht - für die
Bundesregierung kann ich nicht sprechen - vielfältig:
Arbeitslosigkeit, Schulden, Scheidung, gescheiterte
Selbstständigkeit, Tod des Partners und Suchterkrankungen zählen zu
den häufigsten Gründen, weshalb Menschen wohnungslos werden. Das
Erschreckende an alldem ist: Eines oder mehrere dieser
Schicksalsschläge können fast jeden von uns treffen.

Wäre eine Ankurbelung des sozialen Wohnungsbaus nicht auch eine
hervorragende Konjunkturspritze?

Dr. Beyer: Unbedingt. Übrigens wäre sie das nicht nur für die
Baubranche, sondern für die Wirtschaft insgesamt. Dann könnten
Menschen, die für eine Sozialwohnung nicht mehr so viel Miete zahlen
müssen wie für konventionellen Wohnraum, ihr Geld für verschiedene
andere Leistungen und Konsumgüter ausgeben - von der ihnen
abverlangten Altersvorsorge ganz zu schweigen.

Das Interview führte Joachim Zießler



Pressekontakt:
Landeszeitung Lüneburg
Werner Kolbe
Telefon: +49 (04131) 740-282
werner.kolbe@landeszeitung.de


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