(Registrieren)

SPD hat ein Experiment gewagt SPD-Vize Klara Geywitz verteidigt Entscheidungsfindung für die neue, bereits in der Kritik stehende Parteiführung

Geschrieben am 23-01-2020

Lüneburg (ots) - Von Joachim Zießler

An Ihrer Potsdamer Sportschule haben Sie die Mitschüler bewundert, die Tag für
Tag motiviert ihre Bahnen zogen, obwohl das Ziel Olympia weit weg war. Wie
motivieren Sie sich, im SPD-Umfragetief weiterzumachen? Klara Geywitz:
Umfragewerte unter 15 Prozent treffen einen natürlich. Aber der direkte
Zusammenhang zwischen tatsächlicher Leistung und entsprechender Belohnung ist in
der Politik oftmals leider nicht gegeben. Die SPD hat unglaublich viele Gesetze
auf den Weg gebracht, die das Leben der Menschen ganz konkret verbessern: Wir
haben eine Mindestausbildungsvergütung für Azubis eingeführt, haben das BAföG
erhöht, setzen eine Grundrente durch. Dass man nicht immer Dank bekommt, muss
man wissen, wenn man Politik macht. Was mich motiviert, ist, mit Menschen
zusammenzutreffen, mir ihre Sorgen und Nöte anzuhören - und oft genug auch
helfen zu können. Das Zwischenmenschliche in der Politik ist für mich eine
starke Antriebsfeder.

Bei der Wahl ihrer neuen Spitze hat sich auch die SPD ihren Brexit-Moment
gegönnt: Hauptsache, Außenseiter! Hauptsache, ein Neuanfang! Macht direkte
Demokratie für die SPD auch künftig Sinn, wenn eine neue Führung gesucht wird?
Ich würde das nicht als Brexit-Moment bezeichnen. Der Austritt Großbritanniens
aus der EU ist eine große Tragödie. Die SPD hat ein demokratisches Experiment
gewagt: Alle Mitglieder durften bestimmen, wer die Partei künftig anführen
soll. Nun ist Politik keine exakte Wissenschaft. Es gibt nie die eine Wahl, die
hundertprozentig richtig ist, während die andere hundertprozentig falsch ist.
Für viele Mitglieder war dies ein nicht einfacher Abwägungsprozess, für welches
Team sie stimmen sollten. Am Ende haben sich dann mehrheitlich die Mitglieder
durchgesetzt, die sich wünschten, dass die Partei ihre Position jenseits der
Großen Koalition bestimmt, jenseits der Sachzwänge, denen man in der
Regierungsverantwortung unterworfen ist.

Sind Urwahlen mit ihrer Anfälligkeit für Stimmungen geeignet für komplexe
Fragestellungen wie der nach der künftigen, über Jahre gültigen Parteistrategie?
Ich habe das als einen sehr positiven Prozess erlebt. Was die neue Parteiführung
jetzt machen muss, ist Unterwegs sein und Reden. Es gibt in allen
Parteigliederungen einen großen Bedarf an Austausch über unsere Positionen und
Ziele, nach einer Parteiführung zum Anfassen. Das war auf allen 23
Regionalkonferenzen deutlich zu spüren. Der Andrang war jedes Mal riesig und am
Ende gingen die Teilnehmer alle sehr motiviert aus der Veranstaltung.

Was ist verkehrt an den Prinzipien indirekter Demokratie, bei der die
Delegierten die Stimmungen aus den Ortsvereinen mit zum Parteitag gebracht
hätten? Daran ist nichts verkehrt. Und sicherlich sind Elemente direkter
Demokratie auch nicht überall anwendbar. Aber es gibt wegweisende
Entscheidungen, die von allen akzeptiert werden sollen. Das war etwa bei der
Frage nach dem Eintritt in die große Koalition der Fall. Hier gab es in der
Partei ein derart starkes Für und Wider, dass klar war, diese Entscheidung
bedarf einer großen Legitimation. Zudem hatten wir jetzt in einer zu schnellen
Abfolge neue Parteivorsitzende. Das tut der SPD nicht gut. Deshalb waren wir uns
auch hier einig, dass die nächste Parteiführung eine größtmögliche Legitimation
braucht, um an dieser Stelle endlich Kontinuität einkehren zu lassen.

Der personelle Neuanfang schlägt sich nicht in den Umfragen nieder. Klafft eine
Kluft zwischen den Befindlichkeiten der Parteibasis und der Bevölkerung im
Ganzen? Man darf nicht erwarten, dass sich durch die Wahl von zwei Personen die
Welt gleich komplett ändert. Die Probleme der SPD sind nicht über Nacht
entstanden, denkt man etwa nur an die zu häufigen Wechsel an der Spitze. Meine
Erfahrung ist, dass Menschen Zeit brauchen, um Vertrauen zu entwickeln. Und
diese Zeit müssen wir ihnen auch geben.

Haben Sie ihr persönliches Scheitern schon verdaut? Die Trauerphase in der
Politik ist immer sehr kurz, was nicht ganz einfach ist. Ich habe das Ergebnis
eine halbe bis dreiviertel Stunde vor der Verkündigung vor der Berliner Presse
erfahren. Da war ich schon sehr enttäuscht. Als Politikerin muss man aber in der
Lage sein, nach einem kurzen Atemholen schon wieder professionell zu agieren.
Dann hatten wir nur eine Woche zur Vorbereitung des Parteitages, in der sich mir
die Frage stellte, ob ich als Stellvertreterin kandidiere. Natürlich hat man
nach einer derart langen Tournee mit dem bekannten Ergebnis den Impuls, sich
zunächst eine Pause zu nehmen. Aber es zeigte sich dann, dass viele der fast
100 000 Parteimitglieder, die für Olaf Scholz und mich gestimmt hatten,
und die ostdeutschen Landesverbände großen Wert darauf legten, dass unser Ansatz
auch in der neuen Parteispitze vertreten ist. Und so stand ich eine Woche später
schon wieder zur Wahl.

Sie kommen aus dem Brandenburger Landesverband, der seit 30 Jahren regiert.
Mussten sie schon Genossen erklären, wie das ist? Nein, zumal es ohnehin kein
Patentrezept gibt. Was in Brandenburg funktioniert, muss in Berlin oder Sachsen
noch lange nicht klappen. Dennoch ist es ein Geschenk, in dem Selbstbewusstsein
eines sehr erfolgreichen Landesverbandes verankert zu sein. Angesichts der in
der Partei durchaus vorhandenen Verzagtheit möchte ich gerne diese Zuversicht
vermitteln. Wir können es uns nicht leisten, zu verzagen - die SPD wird
gebraucht.

Hilft es gegen die Verzagtheit, wenn man gleichzeitig regiert und opponiert? Es
geht um gutes Regieren und Gestalten. Ich denke, niemand wird ernsthaft
bestreiten, dass die sozialdemokratischen Ministerinnen und Minister die
Leistungsträger im Kabinett sind. Und es geht nicht um paralleles Opponieren,
sondern darum, dass die SPD eine Vision von Politik entwickelt, die nicht in den
Grenzen der Groko gedacht wird und die über das Jahr 2021 hinaus reicht. Und das
fällt Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans naturgemäß leichter als Ministern,
die ihre Taten und Worte mit der täglichen Regierungspolitik in Übereinstimmung
bringen müssen.

Ist es zielführend, das linke Profil schärfen zu wollen, indem man
Steuersenkungen trotz voller Kassen als "gefährlich" abtut, wie Parteichefin
Saskia Esken? Wichtig ist, dass man den großen Investitionsstau wahrnimmt, den
wir in Deutschland vor uns her schieben. Der muss aufgelöst werden, damit
Schulen, Schwimmbäder und Straßen wieder auf den neuesten Stand gebracht werden.
Gerade in manchen Kommunen besteht ein großes Investitionshemmnis in Form der
Altschulden. Diese müssen beseitigt werden, damit die Kommunen wieder ein
lebenswertes Umfeld gestalten können. Dabei gilt für die Politik, in langen
Linien zu denken und nicht nach jeder schlechten oder guten Jahresbilanz die
Steuersätze zu heben oder zu senken.

Wenige Monate nach dem Mord an Walter Lübcke kam es nun zu Schüssen auf das Büro
des SPD-Bundestagsabgeordneten Karamba Diaby. Wird der Rechtsterror immer noch
unterschätzt? Diese Vorfälle machen mich sehr betroffen. Zumal wir beim NSU
gesehen haben, dass es ein rechtsextremes, zu Morden bereites Netzwerk gibt.
Diese Gefahr des organisierten Rechtsradikalismus darf auf keinen Fall
unterschätzt werden. Insbesondere muss der Schutz der ehrenamtlichen
Bürgermeister verbessert werden. Neben den Sicherheitsbehörden sind aber auch
die Bürger selbst gefordert, unsere offene Gesellschaft im Alltag zu
verteidigen.

Olaf Scholz weigert sich, die schwarze Null - wie von der neuen SPD-Spitze
gefordert - aufzuweichen. Hat er Recht? Es ist ein normales Haushaltsverfahren,
den Etat zunächst so aufzustellen, dass er ausgeglichen ist. Angesichts des
aktuellen Milliardenüberschusses haben wir zudem eher das Problem, dieses Geld
in vernünftige Investitionskanäle zu lenken. Wir haben viele Fördermittel, die
nicht abfließen, weil es an Bauarbeitern, Sand oder Planern mangelt. Deswegen
wäre es sinnvoller, die Altschulden der Kommunen, immerhin 45 Milliarden,
abzubauen, damit diese überhaupt wieder investieren können. Olaf Scholz ist sich
mit der neuen Parteispitze einig, dass wir mehr in die Zukunft Deutschlands
investieren wollen, dass aber Verschuldung an sich kein Selbstzweck sein kann.

Pressekontakt:

Landeszeitung Lüneburg
Werner Kolbe
Telefon: +49 (04131) 740-282
werner.kolbe@landeszeitung.de

Weiteres Material: https://www.presseportal.de/pm/65442/4500890
OTS: Landeszeitung Lüneburg

Original-Content von: Landeszeitung Lüneburg, übermittelt durch news aktuell


Kontaktinformationen:

Leider liegen uns zu diesem Artikel keine separaten Kontaktinformationen gespeichert vor.
Am Ende der Pressemitteilung finden Sie meist die Kontaktdaten des Verfassers.

Neu! Bewerten Sie unsere Artikel in der rechten Navigationsleiste und finden
Sie außerdem den meist aufgerufenen Artikel in dieser Rubrik.

Sie suche nach weiteren Pressenachrichten?
Mehr zu diesem Thema finden Sie auf folgender Übersichtsseite. Desweiteren finden Sie dort auch Nachrichten aus anderen Genres.

http://www.bankkaufmann.com/topics.html

Weitere Informationen erhalten Sie per E-Mail unter der Adresse: info@bankkaufmann.com.

@-symbol Internet Media UG (haftungsbeschränkt)
Schulstr. 18
D-91245 Simmelsdorf

E-Mail: media(at)at-symbol.de

718712

weitere Artikel:
  • Betreiber von Pflegeheimen und -diensten fordern "Pflegebekenntnisse" von Politikern / bpa: "Wer Hamburg nach der Wahl repräsentieren will, muss die Pflege im Blick haben" Hamburg (ots) - Die Kandidatinnen und Kandidaten zur Bürgerschaftswahl sollen sich klar zu zentralen pflegepolitischen Themen positionieren und mit dem Bundesverband privater Anbieter sozialer Dienste e.V. (bpa), der über 60 Prozent der Hamburger Pflegeeinrichtungen und Pflegedienste vertritt, in einen Dialog auf Augenhöhe treten. Deshalb erhielten die über 300 Bürgerschaftskandidaten einen Monat vor dem Wahltermin nun die Wahlprüfsteine des Verbandes. "Die Sicherung der pflegerischen Versorgung gehört zu den großen Zukunftsaufgaben mehr...

  • Brand: Schutz verfolgter Rohingya umgehend gewährleisten - Gewalt beenden Berlin (ots) - Internationaler Gerichtshof verpflichtet Myanmar Der Internationale Gerichtshof hat Myanmar zu Sofortmaßnahmen zum Schutz der verfolgten Rohingya verpflichtet, um einen Völkermord an der muslimischen Minderheit zu verhindern. Dazu erklärt der menschenrechtspolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Michael Brand: "Menschenrechtsverbrechen darf die Weltöffentlichkeit nicht tolerieren, schon gar nicht dürfen es die internationalen Institutionen. Die heutige Entscheidung des Internationen Gerichtshofs ist ein mehr...

  • Mitteldeutsche Zeitung zu Combat 18 Halle (ots) - Das Verbot ist richtig. Einerseits. Andererseits hat es kein Lob verdient. Denn es wirft ernste Fragen auf. Von Seiten der Sicherheitsbehörden spielte die Gruppe, die sich selbst als "bewaffneten Arm" von Blood & Honour bezeichnet, bis in die jüngste Vergangenheit hinein kaum eine Rolle. Im letzten Verfassungsschutzbericht tauchte sie gar nicht auf. Dabei ist Blood & Honour schon seit dem Jahr 2000 verboten. So besteht ein Widerspruch zwischen der bisherigen offiziellen Nichtbeachtung und der Tatsache, dass die mehr...

  • Spätes Verbot Frankfurt (ots) - Das Verbot von Combat 18, so richtig es ist, kommt Jahre zu spät. Bereits 2018 berichtete die FR über interne Dokumente der Gruppe. Schon damals war klar, dass diese radikal und gut organisiert war - und dass ihre Kader in Tschechien an Schusswaffen übten. Doch die Behörden blieben dabei, dass Combat 18 für ein Verbot zu lose strukturiert sei. Es brauchte offenbar den Mord an Walter Lübcke und die Nähe des Hauptverdächtigen Stephan E. zu den Köpfen des Netzwerkes, um ein Umdenken im Innenministerium anzustoßen. Einige mehr...

  • Zögerlicher Rechtsstaat/René Heilig über das Verbot von "Combat 18" mit langer Ansage Berlin (ots) - Mehr Vorwarnung ging nun wirklich nicht! Bereits Mitte vergangenen Jahres hatte Horst Seehofer gesagt, er wolle "alle Register" im Kampf gegen Rechtsextremismus ziehen und - nach intensiver Prüfung, versteht sich - "Combat 18" verbieten. Und was geschah? Nichts. Obwohl sogar vier Innenressortkollegen aus den Ländern beim Bundesinnenministerium rasches Handeln anmahnten. Dabei waren die Drahtzieher des rechtsterroristischen Netzwerkes und viele seiner Strukturen bekannt. Juristisch konnte es seit dem Entstehen der Adolf-Hitler-Kampftruppe mehr...

Mehr zu dem Thema Aktuelle Politiknachrichten

Der meistgelesene Artikel zu dem Thema:

LVZ: Leipziger Volkszeitung zur BND-Affäre

durchschnittliche Punktzahl: 0
Stimmen: 0

Bitte nehmen Sie sich einen Augenblick Zeit, diesen Artikel zu bewerten:

Exzellent
Sehr gut
gut
normal
schlecht