(Registrieren)

Mittelbayerische Zeitung: Alles auf eine Karte Die Ukrainer statten die Partei des unerfahrenen Newcomers Selenskyj mit einer absoluten Mehrheit aus. Von Ulrich Krökel

Geschrieben am 22-07-2019

Regensburg (ots) - Wolodymyr Selenskyj ist im Frühjahr aus dem
TV-Studio an die ukrainische Staatsspitze gestürmt. Um seine Macht
auszubauen, ordnete der Ex-Komiker im Präsidentenamt sofort eine
Neuwahl des Parlaments an. Und siehe da, das Spiel wiederholte sich.
Seine aus dem Nichts geschaffene Partei "Diener des Volkes" setzte
sich innerhalb kürzester Zeit uneinholbar an die Spitze aller
Umfragen. Am Sonntag nun eroberte das Selenskyj-Lager eine absolute
Mehrheit und kann künftig allein regieren. Das gab es noch nie in der
postsowjetischen Ukraine. Die krisenerprobten Ukrainer haben also
nach langen Jahren des Ringens zwischen prorussischen und
prowestlichen Kräften alles auf eine Karte gesetzt, und sie gehen
damit ein hohes Risiko ein. Denn Selenskyj ist nicht nur politisch
völlig unerfahren. Er hat seinen Landsleuten bislang auch kein echtes
Programm vorgelegt, sondern nur Allgemeinplätze verbreitet: Die
allgegenwärtige Korruption wolle er bekämpfen, das Oligarchensystem
aufbrechen und vor allem den Krieg gegen prorussische Separatisten im
Donbass schnellstmöglich beenden. Über das Wie der "Operation
Neustart" hat er sich dagegen ausgeschwiegen. Das Schweigen hatte
zweifellos Methode, denn auf diese Weise wurden Selenskyj und seine
Volksdiener zu einer Projektionsfläche für all die Wünsche,
Hoffnungen und Sehnsüchte der Menschen im Land. Nun aber, so
forderten es gestern fast alle Kommentatoren in Kiew, müsse der
Präsident liefern. Das allerdings ist schlicht unmöglich, wenn man
sich die Herausforderungen einmal genauer ansieht. Im Donbass zum
Beispiel wird Selenskyj den Krieg, der in den vergangenen fünf Jahren
mehr als 13 000 Todesopfer gefordert hat, nur dann beenden können,
wenn der russische Präsident Wladimir Putin mitspielt. Der Kremlchef
hat aber offenkundig nicht das geringste Interesse daran, die Lage in
der Ostukraine zu deeskalieren und das Nachbarland zu stabilisieren.
Im Gegenteil: Putins geopolitisches Credo für die Staaten des
postsowjetischen Raums lautet "Destabilisierung potenzieller
Nato-Kandidaten", insbesondere der Ukraine und Georgiens. Ähnlich
kann man die Problematik auch in der Innenpolitik durchdeklinieren.
Um die berüchtigten Oligarchen zu entmachten, die in Wirtschaft,
Politik und Medien, im Sicherheitsapparat und sogar in Sport und
Kultur bislang an nahezu allen Schalthebeln sitzen, dürfte es künftig
keine falsche Rücksichtnahme mehr geben. Allerdings pflegt Selenskyj
selbst mit dem einen oder anderen Oligarchen enge Freundschaft. Beide
Projekte - Frieden und Oligarchenentmachtung - gleichen also der
Quadratur des Kreises. Damit keine Missverständnisse aufkommen: Das
Experiment Selenskyj kann trotz allem gelingen. Über das wahre Wesen
dieses erst 41 Jahre alten und sichtbar energiegeladenen
Politneulings lässt sich bislang zu wenig Belastbares sagen, um ihn
und seine Absichten verlässlich beurteilen zu können. Es ist durchaus
denkbar, dass er ehrlich nur das Gute für seine Landsleute will und
ihm das Bild einer proeuropäischen, prosperierenden Ukraine
vorschwebt, die mit dem großen Nachbarn Russland friedlich
koexistiert. Allerdings trägt der sanfte Populismus, den Selenskyj
zur Schau stellt, systemische Risiken in sich. Wer allein die ganze
politische Macht in Händen hält, hat eben auch die Macht, diese zu
missbrauchen. Es wäre in der Ukraine leider nicht das erste Mal, dass
ein Präsident sich im Amt vom Hoffnungsträger in einen
Herrschsüchtigen verwandelt. Und Selenskyj hat bereits angekündigt,
die Immunität politischer Gegner im Parlament bei Bedarf mit der
Mehrheit seiner Volksdiener aufheben zu lassen. Das zeugt von wenig
demokratischem Verständnis.



Pressekontakt:
Mittelbayerische Zeitung
Redaktion
Telefon: +49 941 / 207 6023
nachrichten@mittelbayerische.de

Original-Content von: Mittelbayerische Zeitung, übermittelt durch news aktuell


Kontaktinformationen:

Leider liegen uns zu diesem Artikel keine separaten Kontaktinformationen gespeichert vor.
Am Ende der Pressemitteilung finden Sie meist die Kontaktdaten des Verfassers.

Neu! Bewerten Sie unsere Artikel in der rechten Navigationsleiste und finden
Sie außerdem den meist aufgerufenen Artikel in dieser Rubrik.

Sie suche nach weiteren Pressenachrichten?
Mehr zu diesem Thema finden Sie auf folgender Übersichtsseite. Desweiteren finden Sie dort auch Nachrichten aus anderen Genres.

http://www.bankkaufmann.com/topics.html

Weitere Informationen erhalten Sie per E-Mail unter der Adresse: info@bankkaufmann.com.

@-symbol Internet Media UG (haftungsbeschränkt)
Schulstr. 18
D-91245 Simmelsdorf

E-Mail: media(at)at-symbol.de

695403

weitere Artikel:
  • BERLINER MORGENPOST: Die Not im Lehrerzimmer / Kommentar von Jens Anker Berlin (ots) - Die Not ist groß an Berlins Schulen. Händeringend werden Lehrer gesucht, um den Bedarf zu decken. Unter einer großen Kraftanstrengung hat es Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) nun geschafft, 3000 neue Lehrer einzustellen. Aber das ist auch die einzige gute Nachricht daran. Denn mehr als jeder zehnte neue Lehrer ist ein Quereinsteiger, das heißt, er oder sie hat noch nicht vor einer Klasse gestanden. Eine Lösung könnte es sein, wenn alle, die in Berlin auf Lehramt studieren, auch in den Berliner Schuldienst wechselten. mehr...

  • Das Erste, Dienstag, 23. Juli 2019, 5.30 - 9.00 Uhr Gäste im ARD-Morgenmagazin Köln (ots) - 7:05 Uhr, Elmar Brok, CDU, ehemals Auswärtiger Ausschuss des Europaparlaments, Thema: Wie tickt Boris Johnson?   Pressekontakt: Weitere Informationen unter www.ard-morgenmagazin.de Redaktion: Martin Hövel Kontakt: WDR Presse und Information, wdrpressedesk@wdr.de, Tel. 0221 220 7100  Agentur Ulrike Boldt, Tel. 0172 - 2439200 Original-Content von: ARD Das Erste, übermittelt durch news aktuell mehr...

  • Stuttgarter Nachrichten: Kommentar zu dem schlechten Zustand der Bahnbrücken Stuttgart (ots) - Das Brückendebakel zeigt das Ausmaß der geradezu verantwortungslosen Vernachlässigung über Jahrzehnte. Mit der Bahnreform 1994 sollte die fortan privat organisierte DB AG eine neue goldene Ära im Schienenverkehr einläuten. Doch Fehler bei der Reform, die im Kern bis heute nicht behoben sind, führten dazu, dass der Staatskonzern Milliarden Euro Steuergeld im Ausland investieren konnte, während das bundeseigene Schienennetz zusehends verrottete. Bis heute kontrolliert die Regierung die riesigen Finanzflüsse an die mehr...

  • Rheinische Post: Kommentar / Wohnungsbau wird zum Wahlkampfthema = Von Georg Winters Düsseldorf (ots) - Zu wenig bezahlbarer Wohnraum ist in einer sozialen Marktwirtschaft ein Kernthema, eines, das das Ungleichgewicht in der Gesellschaft verstärken kann und somit jede Menge sozialen Sprengstoff birgt. Deshalb wird es schon bald den Wahlkampf auf Landes- und Bundesebene mitbestimmen. Wer ein schlüssiges Konzept vorlegt, wie der teilweisen Wohnungsnot in deutschen Großstädten beizukommen ist, der kann beim Wahlvolk punkten. Wer sich darauf beschränkt, vor allem über die Enteignung derer zu diskutieren, die Wohnraum mehr...

  • Rheinische Post: Kommentar / Spahns Marketing-Trick in sinnvoller Sache = Von Jan Drebes Düsseldorf (ots) - Was hatte Kanzlerin Merkel über ihren Gesundheitsminister gerade noch gesagt? "Er schafft 'ne Menge weg." Und eine Woche ist es her, da wurde klar, dass CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer ins Verteidigungsministerium wechselt - und nicht ihr Parteifreund und Konkurrent Jens Spahn. Und jetzt, zwei Tage vor Kramp-Karrenbauers Vereidigung im Bundestag, sorgt Spahn wieder einmal für Schlagzeilen. Öffentlichkeitswirksam gibt der Minister bekannt, dass er die Notfallversorgung in Deutschland reformieren will. Die mehr...

Mehr zu dem Thema Aktuelle Politiknachrichten

Der meistgelesene Artikel zu dem Thema:

LVZ: Leipziger Volkszeitung zur BND-Affäre

durchschnittliche Punktzahl: 0
Stimmen: 0

Bitte nehmen Sie sich einen Augenblick Zeit, diesen Artikel zu bewerten:

Exzellent
Sehr gut
gut
normal
schlecht