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Landeszeitung Lüneburg: Türkei lebt ein verspätetes Europa Experte Dr. Günter Seufert sieht in der Bürgermeisterwahl von Istanbul einen Hoffnungsschimmer

Geschrieben am 27-06-2019

Lüneburg (ots) - Von Joachim Zießler

Als Erdogan 1994 Bürgermeister von Istanbul wurde, sagte er: "Wer
Istanbul regiert, regiert die Türkei." Wird die Bürgermeisterwahl
künftig als Anfang vom Ende seiner Herrschaft eingestuft werden? Dr.
Günter Seufert: Tatsächlich hatte Recep Tayyip Erdogan nach seinem
Wahlsieg von 1994 recht mit seiner Vorhersage. Die Bürgermeisterwahl
in Istanbul entpuppte sich als Wasserscheidenwahl. Aktuell ist es
ganz ähnlich - sogar noch verschärft. Denn 1994 war der
Bürgermeisterposten von Istanbul noch nicht so bedeutend wie heute.
Damals gab es noch einen Ministerpräsidenten. Es gab ein
funktionierendes Parlament, in dem sich Politiker profilieren
konnten. Wir hatten Minister, die aus dem Parlament heraus in ihre
Aufgaben berufen wurden. Das gibt es alles nicht mehr. Wir haben
einen Staatspräsidenten, der seine Minister und seinen Stellvertreter
ernennt. Deshalb sind die Bürgermeisterposten in den großen Städten
dazu geeignet, dass sich neue Führungspersönlichkeiten
herauskristallisieren können. Von daher trifft Erdogans Spruch heute
noch stärker zu als damals.

Zeugt der Sieg von Ekrem Imamoglu davon, wie stark die
Zivilgesellschaft in der Türkei doch ist oder nur wie gespalten und
dass Erdogan seinen größten Rückhalt ohnehin auf dem Land hat?
Seufert: Es zeigt, dass die Spaltung in einen eher säkularen und
einen konservativ-muslimischen Teil möglicherweise an Bedeutung
verliert. Denn in dem Oppositionsbündnis ist die säkulare CHP
vertreten, die rechtsnationalistische IYI-Partei, die pro-islamische
Saadet-Partei und die konservative Demokratische Partei. Zudem hat
die pro-kurdische Partei HDP Imamoglu unterstützt. Zum ersten Mal
seit 15 Jahren wählen Bürger nicht primär aufgrund ihrer kulturellen
oder religiösen Zugehörigkeit, sondern aufgrund sachlicher
Erwägungen. Dieses ideologisch heterogene Bündnis hat nur im
Widerstand gegen die Ein-Mann-Herrschaft Erdogans und gegen die
Abschaffung des parlamentarischen Systems zusammengefunden. Hinzu
kommen die Ablehnung von Erdogans riskanter Außenpolitik sowie seiner
erfolglosen Wirtschaftspolitik und die Sorge angesichts der nicht
mehr unabhängigen Justiz. Diese Sachfragen bringen die Opposition
über konfessionelle und ethnische Grenzen hinweg zueinander.

Hat Erdogan mit dem brachialen Instrument der Wahlannullierung
einen schweren Fehler begangen, weil er die Opposition geeint hat?
Seufert: Die Opposition war schon vorher geeint, weil sie auch in
der ersten Wahl als Bündnis antrat. Einen schweren Fehler hat er
begangen, weil er mit der Annullierung diese Wahl im Grunde zu einer
Abstimmung zwischen ihm selbst und einem Bürgermeisterkandidaten
umfunktioniert hat. Der Sieg des Bürgermeisters gegen den
Staatspräsidenten ist ernüchternd für die AKP.

Welchen "dritten Weg" hatte PKK-Chef Öcalan in seinem Brief vor
der Wahl angemahnt? Einen anderen Kandidaten oder nach der Wahl ein
Zuschütten des Grabens in der Gesellschaft? Seufert: Öcalan ist seit
über zehn Jahren in Isolationshaft, seit vier Jahren sogar ohne
Möglichkeit, mit seinen Anwälten zu sprechen. Diese Isolation wurde
jetzt offensichtlich mit dem Ziel aufgehoben, Öcalan dazu zu bewegen,
die Kurden zu einem Wahlboykott aufzurufen. Dieser Versuch, Öcalan zu
instrumentalisieren, scheiterte. Noch vor wenigen Wochen rückte die
Regierung alle in die Nähe des Terrorismus, die die pro-kurdische HDP
unterstützten. Der plötzliche Schwenk hin zur Ankündigung einer neuen
Aussöhnungsinitiative hat die Kurden nicht überzeugt und
nationalistische Wähler verschreckt.

Mit der Wahlannullierung vollzog Erdogan im Innern nach, was er in
der Außenpolitik zuletzt in Serie produziert: Fehler. Das Verhältnis
zu den USA und Israel liegt in Trümmern. Die Unterstützung von
Dschihadisten in Syrien steigert die Terrorgefahr im Innern. Die
Boomjahre endeten in einer Rezession. Rächt sich, dass korrigierende
Kritik Alleinherrscher immer seltener erreicht, je länger sie
regieren? Seufert: Das ist auf jeden Fall richtig. In der Türkei ist
zu hören, dass Erdogan praktisch abgeschirmt wird von seinen
Beratern. In seinem Umfeld traut sich keiner mehr, ihn mit
unangenehmen Wahrheiten zu konfrontieren. Selbst die Minister haben
es schwer, zu ihm durchzudringen. Erdogan lebt in einem Kokon und
erfährt kaum noch sachdienliche Beratung.

Die AKP ist kein monolithischer Block. Kommt es über der
Wahlniederlage zur Spaltung? Seufert: Das ist offen. Sicher ist
hingegen die Gründung zweier neuer Parteien durch ehemalige
AKP-Mitglieder. Die große Niederlage der AKP in Istanbul werden diese
Parteineugründungen erleichtern.

Könnte Erdogan versuchen, dem innenpolitischen Druck ein Ventil zu
geben, indem er den Türken einen Sündenbock anbietet - die Kurden
etwa? Seufert: Das kann man nicht ausschließen. Allerdings müsste die
AKP gemerkt haben, dass eine derart polarisierende Strategie nicht
zum Erfolg führt. Beim ersten Wahlgang hatte Erdogan bereits Ankara
und Antalya verloren sowie Izmir nicht gewonnen. Er hat die moderne
Türkei verloren. Nach dem ersten Wahlgang hat die Regierung deshalb
versucht, die Strategie der Opposition zu kopieren und schlug einen
moderaten Ton an. Als dies in den Umfragen nicht verfing, schwenkte
sie wieder auf einen polarisierenden Kurs ein.

Imamoglu gibt sich nicht säkular, wie andere CHP-Politiker,
sondern bekennt sich zu seinem Glauben. Könnte er der Mann sein, der
den Kulturkampf in der Türkei überwindet? Seufert: Die Tatsache, dass
er einen solchen Zuspruch bekam, für den Kurs, den er bisher verfolgt
hat, zeigt, dass das Potenzial für einen Versöhnungskurs durchaus
vorhanden ist. Die Türkei wartet auf eine solche Politik. Die CHP war
oft nicht nur säkular, sondern vielmehr säkularistisch, das heißt,
sie wollte die türkischen Bürger zu einem säkularen Lebensstil
zwingen. Mit Imamoglu hat sie erstmals die Chance, auch konservative
Wähler zu überzeugen. Und angesichts der Tatsache, dass konservative
Bürger in der Türkei mit 55 bis 60 Prozent die Mehrheit stellen, ist
dies die einzig erfolgversprechende Strategie. Die Kluft zwischen
Frommen und Weltlichen kann nur durch Personen überwunden werden, die
zwar für die Trennung von Staat und Religion eintreten, aber selbst
mit dem Glauben keine Schwierigkeiten haben.

Während die Opposition feiert, läuft in Istanbul der Gezi-Prozess,
in dem damaligen Protestierern der Prozess wegen eines vermeintlichen
Umsturzversuches gemacht wird. Wie sehr ist die Türkei Teil des Nahen
Ostens und wie weit entfernt von Europa? Seufert: Wenn man
berücksichtigt, dass das Europa zwischen den Weltkriegen sehr
nationalistisch und militaristisch war, und zugleich die Renaissance
des Nationalen in der Gegenwart konstatiert, sieht man wie
gegensätzlich Europa sein kann. Heute lebt die Türkei ein verspätetes
Europa. Mit Politikern wie Imamoglu ist das Land dabei, sich dem
Nachkriegseuropa anzunähern.

Die Türkei ist der erste Versuch, Demokratie und Islam zu
versöhnen. Zeigt die Wahl vom Sonntag, dass die Demokratie auch unter
schwierigen Bedingungen nicht so leicht zu beerdigen ist? Seufert:
Das würde ich schon sagen. Die Wahl ist ein großer Hoffnungsschimmer
- sowohl für die Türken selbst als auch für die internationale
Gemeinschaft. Die Bürger haben nach wie vor auf demokratische
Prozesse vertraut, obwohl die erste Wahl annulliert worden war. Sie
blieben ruhig und gingen erneut zur Wahl, statt gewaltsam zu
protestieren. Die Wahlbeteiligung von um die 85 Prozent war viel
höher als bei uns. Und die Wähler zeigten einen demokratischen
Reflex, indem sie einem autokratischen Herrscher einen Denkzettel
verpasst haben.

Dr. phil. Günter Seufert, 64, ist Journalist und Soziologe. Er
forscht für die Stiftung Wissenschaft und Politik, den größten
Thinktank Europas, der Bundestag und -regierung berät. Seufert lebte
über ein Jahrzehnt in Istanbul, verfasste mehrere Bücher und
zahlreiche Aufsätze zur politischen Lage in der Türkei.



Pressekontakt:
Landeszeitung Lüneburg
Werner Kolbe
Telefon: +49 (04131) 740-282
werner.kolbe@landeszeitung.de

Original-Content von: Landeszeitung Lüneburg, übermittelt durch news aktuell


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