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Wann dürfen Menschen vor sich selbst geschützt werden?

Geschrieben am 01-11-2018

Berlin (ots) - Der Deutsche Ethikrat hat am heutigen Donnerstag in
Berlin seine Stellungnahme "Hilfe durch Zwang? Professionelle
Sorgebeziehungen im Spannungsfeld von Wohl und Selbstbestimmung"
veröffentlicht.

Mit Wohltätigkeit und Fürsorge begründete Zwangsmaßnahmen sind in
vielen Feldern des Sozial- und Gesundheitswesens verbreitet. Dabei
handelt es sich etwa um freiheitsentziehende Maßnahmen, wie die
Unterbringung in Kliniken und anderen stationären Einrichtungen gegen
den Willen der betroffenen Person oder das Anbringen von Bettgittern
oder Fixierungsgurten, um medizinische Behandlungen oder
Pflegemaßnahmen gegen den Willen eines Patienten oder um sogenannte
intensivpädagogische Maßnahmen in der Kinder- und Jugendhilfe. Wenn
eine Person sich selbst schwer zu schädigen droht, können solche
Zwangsmaßnahmen dem Wohl der betroffenen Person dienen. Gleichwohl
stellt jede Anwendung solchen "wohltätigen Zwangs" einen
schwerwiegenden Eingriff in die Grundrechte der betroffenen Person
dar und ist folglich in besonderem Maße rechtlich und ethisch
rechtfertigungspflichtig. Dies führte immer wieder zu kritischen
Diskussionen über entsprechende Praktiken in der Medizin, in
Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe sowie in Pflege- und
Behindertenheimen. Der Deutsche Ethikrat greift mit seiner
Stellungnahme diese Diskussionen mit dem Ziel auf, Politik,
Gesetzgeber und Angehörige von Gesundheits- und Sozialberufen auf
Regelungs- und Umsetzungsdefizite im schwierigen Problemfeld der
professionellen Hilfe durch Zwang hinzuweisen und Lösungsvorschläge
aufzuzeigen.

Grundsätzlich ist der Ethikrat der Auffassung, dass die Anwendung
von Zwang im Kontext professioneller Sorgebeziehungen nur als Ultima
Ratio in Betracht kommt. Das heißt zunächst, dass Rahmenbedingungen,
Strukturen und Prozesse so gestaltet werden sollten, dass Zwang
möglichst vermieden wird. Kommt es dennoch zu Situationen, in denen
eine Person schweren Schaden zu nehmen droht, etwa weil sie sich
einer erforderlichen medizinischen Maßnahme widersetzt, so muss durch
beharrliche Überzeugungsarbeit versucht werden, die freiwillige
Zustimmung oder Mitwirkung des Betroffenen zu erzielen. Auch müssen
vor der Durchführung einer Zwangsmaßnahme alle zur Verfügung
stehenden weniger eingreifenden Möglichkeiten ausgeschöpft werden,
mit denen das gleiche Ziel erreicht werden kann.

Zwangsmaßnahmen dürfen nur in Situationen in Erwägung gezogen
werden, in denen ein Sorgeempfänger in seiner Fähigkeit zur
Selbstbestimmung so stark eingeschränkt ist, dass er keine
freiverantwortliche Entscheidung zu treffen vermag. Das bedeutet
umgekehrt, dass der freie Wille einer voll selbstbestimmungsfähigen
Person auch dann zu respektieren ist, wenn ihr erhebliche Risiken für
Leib und Leben drohen. Die Fähigkeit zur Selbstbestimmung ist damit
der zentrale normative Bezugspunkt im Umgang mit Zwang, auch wenn die
Grenze der fehlenden Freiverantwortlichkeit in der Praxis schwer zu
ziehen ist.

Jede Zwangsmaßnahme bedeutet in letzter Konsequenz eine
Fremdbestimmung des Gezwungenen. Umso wichtiger ist es, ihre
Durchführung so zu gestalten, dass Achtung und Respekt vor der
individuellen Person und ihrer Selbstbestimmung soweit als möglich
gewährleistet bleiben. Das bedeutet unter anderem, dass ihr Anspruch
auf Partizipation durch Einbeziehung in die Planung und Durchführung
sowie die Nachbereitung einer Zwangsmaßnahme durchgesetzt werden
muss.

Bei der Abwägung der Vor- und Nachteile einer Zwangsmaßnahme muss
stets auch die Möglichkeit sekundärer Schäden etwa in Form von
Demütigung, Traumatisierung oder Vertrauensverlust berücksichtigt
werden. Die Dauer von Zwangsmaßnahmen sollte so kurz wie möglich
gewählt werden. Um dies sicherzustellen, muss in angemessenen
zeitlichen Abständen regelmäßig überprüft werden, ob die
Voraussetzungen für den Einsatz von Zwangsmaßnahmen weiterhin
vorliegen. Wegen ihres exzeptionellen Charakters müssen
Zwangsmaßnahmen sorgfältig dokumentiert und in regelmäßigen Abständen
ausgewertet werden. Maßnahmen der Qualitätssicherung inklusive
Fehlermeldesysteme und Beschwerdemanagement sollten auch
Zwangsmaßnahmen erfassen.

An Zwangsmaßnahmen beteiligtes Personal sollte speziell geschult
sein. Die interkulturelle Kompetenz der professionell Sorgenden
sollte gefördert werden. Auch sollten Strukturen geschaffen werden,
die kulturelle und sprachliche Barrieren minimieren. Professionell
Sorgende, die an Zwangsmaßnahmen beteiligt sind, sollten
Unterstützung und Begleitung erhalten, um die im Umgang mit Zwang
gemachten eigenen Erfahrungen kognitiv und emotional zu verarbeiten.
Kollegiale Beratungsgremien sollten etabliert werden, die sich mit
dem Einsatz von Zwangsmaßnahmen prospektiv und retrospektiv befassen.

Die Öffentlichkeit sollte für die ethisch und rechtlich
problematischen Aspekte von Zwangsmaßnahmen im Umgang mit psychisch
Kranken in Krisensituationen, Kindern und Jugendlichen in schwierigen
familiären und sozialen Verhältnissen sowie pflegebedürftigen alten
und behinderten Menschen sensibilisiert werden. Dabei fällt den
Medien die wichtige Aufgabe einer differenzierten und
sachangemessenen Berichterstattung zu.

Zusätzlich zu diesen (und weiteren) grundsätzlichen Empfehlungen
für den verantwortungsvollen Umgang mit Zwang in professionellen
Sorgebeziehungen hat der Ethikrat eine Vielzahl bereichsspezifischer
Empfehlungen für die drei Praxisfelder Psychiatrie, Kinder- und
Jugendhilfe sowie Altenpflege und Behindertenhilfe formuliert, die in
der Stellungnahme nachgelesen werden können.

Die Stellungnahme wurde ohne Gegenstimmen vom Deutschen Ethikrat
verabschiedet. Ein Mitglied äußert in einem Sondervotum Bedenken
bezüglich des zentralen Begriffs der Freiverantwortlichkeit. Der
Begriff werde in der Stellungnahme nicht klar genug bestimmt, um die
ihm aufgebürdete normative Last zu tragen.

Die Stellungnahme ist online verfügbar unter http://ots.de/8yvu4f.



Pressekontakt:
Ulrike Florian
Deutscher Ethikrat
Referentin für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Jägerstraße 22/23
D-10117 Berlin

Telefon: +49(0)30/20370-242
Telefax: +49(0)30/20370-252
E-Mail: florian@ethikrat.org
URL: www.ethikrat.org

Original-Content von: Deutscher Ethikrat, übermittelt durch news aktuell


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