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Landeszeitung Lüneburg: Wenn unbegrenzte Macht lockt Grünen-Europaabgeordnete Rebecca Harms: Erdogans Präsidialsystem erzwingt die Einfrierung des EU-Beitrittsprozesses

Geschrieben am 28-06-2018

Lüneburg (ots) - Von Joachim Zießler

Lüneburg/Straßburg. Die Wahlen in der Türkei haben Europa einen
Kater beschert. Zu sehr hatten die Europäer sich zuvor an den Bildern
einer ungewohnt kämpferischen, ja siegesgewissen Opposition
berauscht. Angesichts einer schwächelnden Wirtschaft schien Recep
Tayyip Erdogan mit seinem Griff nach der absoluten Macht überreizt zu
haben. Das Ende einer Ära wurde erwartet. Von wegen. Erdogan holte
bei den Präsidentschaftswahlen die absolute Mehrheit der Stimmen
schon im ersten Wahlgang. Das ihn als Jubel-Türken unterstützende
Parteienbündnis aus konservativ-religiöser AKP und
ultra-nationalistischer MHP holte die Mehrheit im Parlament. Wie soll
sich Europa gegenüber dem neuen Sultan am Bosporus verhalten, der die
Türkei vor Jahren erst liberalisierte und nun in eine
Schein-Demokratie umwandelt? Grünen-Europapolitikerin Rebecca Harms
sieht die Türkei "weiter von der EU entfernt denn je". Im
LZ-Interview der Woche fordert sie: Setze Erdogan wie angekündigt ein
Präsidialsystem ohne Gewaltenteilung und Machtkontrolle um, "müssen
nach der Mehrheitsmeinung des Europäischen Parlaments die
Beitrittsverhandlungen ausgesetzt werden". Dass Erdogan in
Deutschland mehr Stimmen erhielt als unter den Bedingungen der
gelenkten türkischen Demokratie sei ein Alarmsignal. Harms: "Bei den
Auslandstürken in den angelsächsischen Ländern hat Erdogan verloren."
Ein Ende der Ära Erdogan ist nicht abzusehen. Ganz im Sinne des neuen
Sultans, der sich einen Palast bauen ließ mit einer vier Mal größeren
Grundfläche als Versailles.

Vor dem Wahlgang war die Opposition erstmals seit Jahren
optimistisch gewesen, Erdogans Macht beschneiden zu können. Was war
fehlerhaft: die Arbeit der Demoskopen oder die Selbsteinschätzung der
Erdogan-Gegner? Rebecca Harms: Die Demoskopen haben relativ gut
gelegen bei den Einschätzungen der Ergebnisse der
Oppositionsparteien. Überschätzt wurde das Abschneiden der früheren
Innenministerin Aksener. Eine der Erwartungen war auch, dass sich
mehr konservative Wähler gegen den Allmachtanspruch von Recep Tayyip
Erdogan stemmen und für sie stimmen würden. Dann wäre es zur
Stichwahl gekommen. Hier war die Opposition zu optimistisch. Offenbar
wurde auch der Erfolg der AKP-Strategie unterschätzt, die
rechtsradikale MHP quasi im Huckepack-Verfahren zum Wahlerfolg zu
tragen. Die Opposition in der Türkei war und ist weiterhin stark.
Angesichts der schwierigen und unfairen Umstände während des sehr
kurzen Wahlkampfes, also der Inhaftierung von Mitgliedern der
Oppositionspartei, ohne pluralistische Presselandschaft, damit ohne
faire Wahlberichterstattung und angesichts von Gewalt und Drohungen
gegen Oppositionspolitiker nutzte die Opposition ihre Chancen auf
beeindruckende Weise. Es ist besonders bemerkenswert, dass die HDP
trotz zunehmender Unterdrückung und Kriminalisierung und mit ihrem
Kandidaten Selahattin Demirtas hinter Gittern es nun zum dritten Mal
geschafft hat die 10%-Hürde zu überschreiten.

15 Jahre lang hat Erdogan davon profitiert, dass die Wähler ihm
die wirtschaftlichen Erfolge der Türkei zugute schrieben. Die Phase
des Aufschwungs endet aber gerade. Wenn nicht mal die Inflation
Erdogan gefährlich wird, muss sich Europa dann auf einen ewigen
Erdogan einstellen? Harms: Das ist aus heutiger Sicht schwer
einzuschätzen. Für uns als Europäisches Parlament ist erstmal
wichtig, eine Antwort zu formulieren, wenn Erdogan nun wie
angekündigt ein Präsidialsystem mit nahezu unbegrenzter Macht für
sich selbst einführt. Er ist Staats- und Regierungschef zugleich,
kann Minister entlassen und Verfassungsrichter benennen. Ein
derartiges System ohne Gewaltenteilung und Kontrolle ist nicht mit
der Perspektive einer EU-Mitgliedschaft vereinbar ist und muss nach
der Mehrheitsmeinung des Europäischen Parlaments zur offiziellen
Aussetzung der Beitrittsverhandlungen führen

Kurdische Spitzenpolitiker in Haft, Verhaftungen noch am Wahltag,
Ausnahmezustand, eine weitgehend auf Linie gebrachte Presse. Waren
diese Wahlen so frei wie die Märzwahlen zum Reichstag 1933? Harms:
Die Wahlen waren nicht fair und nicht frei. Ohne Pressefreiheit und
mit weitgehend gleichgeschalteten Medien, die für oppositionelle
Stimmen nur noch Nischen lässt, mit einem Staatsfernsehen, das
Erdogan zehn Mal mehr Sendezeit einräumt als allen
Oppositionskandidaten zusammen, sind wir von Fairness weit entfernt.
Oppositionspolitiker wurden schon vor Jahren aus dem Parlament
geworfen und vor Gericht gestellt. Doch trotz aller
Einschüchterungstaktiken fand in der Türkei im Gegensatz zu anderen
autoritär regierten Ländern noch ein Wettstreit der beiden
politischen Blöcke statt. Schwer zu beurteilen ist, ob das bei der
nächsten Wahl noch mal so sein wird.

Also noch ist die Türkei nicht Russland, aber die Möglichkeit
besteht... Harms: ...klar ist, dass die Türkei mit der Umsetzung des
Verfassungsreferendums nicht in Richtung Rechtsstaat und Demokratie
vorangehen wird.

Kam es zu Manipulationen? Harms: Da möchte ich dem Bericht der
Wahlbeobachter von OSZE und dem Europarat nicht vorgreifen. Viele
Berichte aus der Wahlnacht zeigen, dass es zu Übergriffen und
vielfältigen Behinderungen von Wahlbeobachtern gekommen ist, dass
Wahlurnen beschlagnahmt wurden. Die Bewertung müssen wir den
Beobachtermissionen vor Ort überlassen.

Wie stark verfängt die Propaganda, wonach alle Missstände in der
Türkei Ergebnis von Verschwörungen sind? Harms: Erdogan hat in den
letzten Jahren verschiedene Gruppen in der Türkei gegeneinander
ausgespielt und aufgehetzt. Er verschärft innere Konflikte. Da nicht
davon auszugehen ist, dass er diesen Kurs nach den Wahlen ändern
wird, bleibt die türkische Gesellschaft in einer Zerreißprobe.

Einer der Sündenböcke ist die Gülen-Bewegung. Kann über die
Hexenjagd gegen den einstigen Verbündeten das Experiment, Islam und
Demokratie in der Türkei zu versöhnen, scheitern? Harms: Die
massenhafte Verfolgung der Gülen-Bewegung, die Sippenhaft gegen
Familienangehörige und Kollegen von Beschuldigten verhöhnt
rechtsstaatliche Prinzipien und Menschenrechte. Eine derartige
Massenverfolgung sucht ihres gleichen. Was wir heute in der Türkei
sehen, habe ich noch in keinem anderen Land erlebt. Klar muss der
Putschversuch aufgeklärt werden, aber die internationale Gemeinschaft
muss sich viel klarer gegen diese Massenverfolgung wenden.

Ist nicht eher eine Verschärfung zu erwarten? Knapp die Hälfte der
türkischen Wähler wollte einen starken Führer. Wird Erdogan dies als
Mandat nehmen, für eine Hexenjagd gegen die moderne, laizistische
Hälfte der türkischen Gesellschaft? Harms: Erdogan hatte angekündigt,
den Ausnahmezustand zu beenden. Das allein wird aber nicht reichen,
um sich demokratischen Gepflogenheiten und dem Respekt vor dem Recht
wieder anzunähern. Es muss endlich Gerechtigkeit geben für Hunderte
und Tausende von Türkinnen und Türken, die im Gefängnis sitzen, die
ihr Vermögen oder ihre Jobs verloren haben oder die ins Exil
geflüchtet sind. Auch die Pressefreiheit muss wiederhergestellt
werden.

Ist nicht eher ein Durchregieren zu erwarten? Künftig dürfte noch
mehr als schon bisher Frömmigkeit zum Leitbild der Türkei werden.
Wird Erdogan das Erbe Atatürks wegwischen und die Türkei bei den
Autokratien Zentralasiens verankern? Harms: Derartige Befürchtungen
sind berechtigt. Ich würde mir wünschen, dass es nicht so kommt,
sondern dass die Türkei zurückfindet auf einen Weg des Respekts für
die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen. Am wichtigsten wäre, so
schnell wie möglich den Friedensprozess mit den Kurden wieder zu
beleben. Es wurde so viel Wut gegeneinander neu entfacht. Dies ist
für eine Gesellschaft schwer zu tragen.

Rund dreiviertel der Türken in Deutschland, die nicht direkt der
Propagandamaschine Erdogans ausgesetzt waren, stimmten für Erdogan.
Warum? Harms: Eine meiner Erfahrungen ist, dass in der Diaspora die
politischen Entwicklungen in der Heimat radikdaler gespiegelt werden.
Das kann man auch unter den Russlanddeutschen beobachten. Aber was
Stoff für intensives Nachdenken liefert, ist die Tatsache, dass die
wahlberechtigten Türken in den Niederlanden und Deutschland weit
überproportional die AKP wählten, während die Türken in den USA und
Großbritannien umgekehrt mit großer Mehrheit für die oppositionelle
CHP gestimmt haben.

Ist dort die Integration besser gelungen als bei uns? Harms: Das
gilt es herauszufinden. Hat Europa noch eine Option, um die
demokratischen Kräfte in der Türkei in der heraufziehenden harten
Phase zu stärken? Harms: Business as usual darf keine Option sein. Es
gilt, die noch immer starken Kräfte zur Verteidigung der
laizistischen, demokratischen Türkei zu unterstützen. Die EU ist
gegenüber der Türkei und auch der türkischen Opposition in der
Pflicht. Die Umsetzung der Verfassungsänderungen lässt eine
Fortsetzung der Beitrittsverhandlungen nicht mehr zu. Wie eine neue
aktive Türkeipolitik von nun an aussehen soll, muss gemeinsam in der
EU geklärt werden.



Pressekontakt:
Landeszeitung Lüneburg
Werner Kolbe
Telefon: +49 (04131) 740-282
werner.kolbe@landeszeitung.de

Original-Content von: Landeszeitung Lüneburg, übermittelt durch news aktuell


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