(Registrieren)

Landeszeitung Lüneburg: "Konfliktlösung kann man erlernen" - Interview mit dem Sozialpsychologen Prof. Dr. Andreas Zick

Geschrieben am 18-01-2018

Lüneburg (ots) - Nach den Gewalttaten gegen viele Rettungskräfte
in der Silvesternacht wurden härtere Strafen gefordert oder zumindest
abschreckende Urteile. Reicht das?

Prof. Dr. Andreas Zick: Nein, das reicht in der Regel nie aus.
Das wissen wir aus vielen Erfahrungen. Manchmal kann Abschreckung
aber tatsächlich Wirkung erzeugen. Das belegt der Bereich
Hate-Speach, als die ersten Urteile mit hohen Geldbußen für
Hass-Reden im Internet ergingen. Aber da wir seit einigen Jahren eine
Eskalation von Gewalt sehen, rate ich dringend dazu, über mehr als
über Rechtsprechung nachzudenken. Rechtsprechung ist ultima ratio -
und ist nie einfach oder eindeutig. Es wird Fälle geben, in denen
Täter glimpflich davonkommen - etwa wenn Alkohol im Spiel ist. Was
wir brauchen, ist ein massives Umdenken bei der Gewaltprävention.
Dazu gehört auch eine bessere Dokumentation von Eskalationen. Bisher
gibt es zu wenige verlässliche Daten und zu wenige Studien, die
Eskalations-Szenarien nachzeichnen , damit wir sagen können, wo die
Ursachen liegen. Diese Ursachen sind oft so komplex, dass die
Verfolgung einer einzelnen Straftat nicht hinreichend ist. Hier geht
es um viel mehr.

Ein wenig dokumentiert hat das Janina Lara Dressler in ihrer
Doktorarbeit über Gewalt gegen Rettungskräfte.

Zick: Genau. Aber angesichts des Ausmaßes der Eskalation liegt
doch auf der Hand, dass die Aufarbeitung und Dokumentation Sache der
Nationalen Forschungsförderung sein müsste und nicht Aufgabe einer
Doktorarbeit. Wir haben zwar Daten von Versicherungen und einzelnen
Polizeien der Länder vorliegen. Aber das reicht nicht aus. Die
wenigen Fälle, die gut dokumentiert sind, erlauben Analysen und neue
Wege der Prävention. Nach den dramatischen Ereignissen der Kölner
Silvesternacht 2016 hat die Uni Bielefeld zusammen mit der Kölner
Polizei ein Deeskalationskonzept entwickelt und begleitet - mit
Erfolg. Generell gilt: Man kann viel tun, aber dazu benötigt man auch
genügend Kapazitäten. Und die sind leider immer noch nicht vorhanden.
Sonst wäre die Lücke zwischen der Gewalt, die wir beobachten, und den
Möglichkeiten, die die moderne Gewaltprävention bewirken kann, nicht
so groß.

Frau Dressler hat ausgerechnet, dass es im Jahr 2014 allein in
Hamburg 3,5 Übergriffe auf jede Rettungskraft gegeben hat. Gehen Sie
von einer weiteren Zunahme aus?

Zick: Es gibt zwar auch eine höhere Anzeigebereitschaft, was einen
Teil des Anstiegs erklären könnte. Aber insgesamt deutet alles darauf
hin, dass wir weitere Anstiege haben, die nicht durch eine gestiegene
Anzeigebereitschaft zurückgeführt werden können. Das belegen auch
polizeiliche Statistiken über Körperverletzungen. Hier werden immer
mehr Übergriffe auf Personen registriert, die für Sicherheit sorgen:
Wachdienste, Rettungspersonal, Feuerwehr, Polizei. Übergriffe gibt es
unter anderem auch im Bereich von Fußballspielen. Bei Ausschreitungen
werden immer wieder Rettungskräfte mit hineingezogen. Bei einigen
Gewalttätern gibt es einen deutlichen Respekt-Verlust. Sie nehmen
Rettungskräfte nicht mehr als Rettungskräfte wahr, sondern als Leute,
die ihnen im Weg stehen. Bei anderen werden die Rettungskräfte in
Konflikte hineingezogen, geraten in die Schusslinie. Wir müssen
genauer prüfen, inwieweit sich das Bild von Rettungskräften
qualitativ verändert hat. Sicher ist, dass Retter und Polizisten
heute anders wahrgenommen werden als noch vor zehn Jahren. Neben dem
Respekt-Verlust werden Retter als Gegner wahrgenommen. Und als
Spaßverderber, wenn sie anderen Bürgern - zum Beispiel bei
Veranstaltungen - Wege versperren. Eigentlich sind Bürger einer
Zivilgesellschaft gehalten, in Notfällen zu unterstützen, zu helfen.
Doch in Teilen der Gesellschaft funktionieren solche Grundmuster
nicht mehr. Hinzu kommt, dass im Bereich der medizinischen Versorgung
die Idee eines Kunden- und Dienstleisterverhältnisses implementiert
wurde. Auch das kann zu Missverständnissen führen.

Einer der betroffenen Retter hat gesagt: "Der Respekt ist verloren
gegangen. Weil wir uniformiert sind, werden wir in die Ecke der
Staatsgewalt und Behörden gerückt". Hat er recht?

Zick: Absolut. Gerade bei Großveranstaltungen wie Silvester oder
Fußball packt man Sicherheit und Rettung in eine Kategorie. Die
Uniformierung ist eine Gratwanderung. Retter werden als anonym
wahrgenommen. Uniformierung führt dazu, dass Bürger sogar ihre
Pflicht, minimale Hilfe zu leisten - wie den Weg frei zu machen für
Retter - abgeben, auf die Retter übertragen nach dem Motto: Dafür
sollen die selbst sorgen. Andere sind der Meinung, wenn sie für eine
Veranstaltung bezahlen, tragen Sicherheitskräfte und Retter die
alleinige Verantwortung. Sie sollen selbst für das Freihalten von
Rettungswegen sorgen oder man nimmt an, das werde schon die Polizei
regeln. Hier verschieben sich Normen. Hier verschiebt sich die
Diskussion über Verantwortung in der Gesellschaft.

Brauchen wir eine Art Kulturwandel, wie ihn der Ärztepräsident
Frank Ulrich Montgomery gefordert hat?

Zick: Ja, aber die Frage ist, ob wir diesen Wandel definieren
können. Wir müssen über die Frage der zivilgesellschaftlichen Normen
und Werte reden. Und über Kompetenzen. Wir haben heute andere
Veranstaltungsformen, andere Events, die komplizierte
Sicherheitskonzepte nötig machen. Dabei hilft es nicht, wenn wir nur
sagen, Retter sind gute Menschen. Bei Notsituationen sollte es
eigentlich nach einem Fünf-Stufen-Modell ablaufen: Erstens brauchen
die Bürger Kompetenz in Notsituationen, damit sie überhaupt wieder
wahrnehmen, dass sie selbst beteiligt sind. Zweitens müssen
Situationen richtig interpretiert werden. Die dritte Stufe ist die
Frage der individuellen Verantwortung. Viertens muss entschieden
werden, was man selbst in einer Situation tun kann. Die fünfte und
letzte Stufe ist dann das aktive Einschreiten, die Hilfe. Dem Problem
der Gaffer lässt sich nicht nur mit höheren Strafen begegnen, sondern
auch schon mit einfachen Maßnahmen. Die Polizei stellt an einigen
Unfallstellen einen Sichtschutz auf, damit Gaffer keine Fotos mehr
machen können. Das wirkt. Schnell und einfach.

Ist vielleicht auch die Art der Bestrafung falsch? Es gibt die
Möglichkeit, im Sinne der Resozialisierung Täter zum Ableisten von
Sozialstunden zu verurteilen. Würde es helfen, wenn man diejenigen,
die Retter attackieren, in Uniformen steckt und als Beobachter zu
Einsätzen schickt?

Zick: Das wäre eine richtig gute Maßnahme und würde dazu führen,
dass darüber diskutiert und politisiert wird. Wir haben uns für Täter
in anderen Bereichen individuelle Maßnahmen überlegt. Manche
Täterinnen und Täter trifft es am härtesten, wenn sie den
Führerschein entzogen bekommen.

Das ist ja seit Mitte 2017 möglich.

Zick: Man muss sich die Lebensumstände der Täter anschauen und
überlegen, wo die empfindlichen Stellen sind. Ich halte das
Rollenspiel für eine sehr gute Maßnahme, weil es die Empathie erhöhen
kann. Ein Beispiel: Ein Fußballfan, der gewalttätig geworden ist,
wird dazu verpflichtet, im Beisein von Sozialarbeitern Schülern zu
berichten, warum sie einen anderen Menschen schwer verletzt haben.
Das ist für den Täter eine peinliche Situation. Und hat positive
Effekte. Wir müssen die Idee der Resozialisierung, die Idee, das
Menschen umlernen können, endlich wieder ernster nehmen. Im Moment
geben wir das Thema Sicherheit zu schnell ab. Überall werden Kameras
aufgehängt. Man bekommt das Gefühl vermittelt, dass das System schon
funktioniere. Ein gefährlicher Trugschluss.

Welche Rolle spielt denn der zunehmende Rechtspopulismus, zu dem
auch die Abgrenzung von "denen da oben" gehört?

Zick: Der Rechtspopulismus, der stets härtere Strafen fordert für
Fremde und Andere und so tut, als seien alle ihre Anhänger bessere
Menschen, hat unseren Fokus sehr stark auf Ausländer-, auf
Flüchtlings-Kriminalität gerichtet. Der Rechtspopulismus hat auch die
Bereitschaft befördert, Institutionen in Zweifel zu ziehen - und
zeichnet ein überbordendes Bild von einem Kontrollverlust des
Staates, des Rechtsstaates. In rechten Online-Netzwerken werden
eigene Kriminalitätsstatistiken geführt, die öffentlichen Statistiken
hingegen angezweifelt. Wenn Menschen glauben, dass die Kontrolle
verloren geht, ohne darüber nachzudenken, welchen Anteil sie selbst
daran haben, ist das sehr bedenklich. Hinzu kommt eine immer
aggressivere Sprache gegenüber Institutionen. All das trägt zu einem
Verlust von Respekt bei. Die Gewaltbereitschaft und Billigung von
Gewalt nimmt im rechten Bereich zu. Auch vorher unbescholtene
Bürgerinnen und Bürger aus der Mitte werden plötzlich straffällig,
sehen Polizei und Rettungskräfte als Repräsentanten von Eliten und
Staatsmacht. Das ist eine gefährliche Entwicklung. Einige Menschen
müssten sich endlich Gedanken machen über das Ausmaß ihrer
Verantwortung an dieser Entwicklung. Aber noch sehe ich davon wenig
bis nichts.

Senkt auch die Anonymität des Internets, die Anonymisierung von
Meinungen, die Hemmschwelle?

Zick: Auch das Internet trägt zur Verschiebung von Normen und
Werten bei, weil es keine ausreichenden Regulationsmechanismen gibt.
Es muss mehr her als nur der Appell zu mehr Respekt. Wir müssen
darüber nachdenken, wie man Rettungskräfte stärkt, wie man sie besser
schützt. Wir müssen den Menschen Wege aufzeigen, wie man Konflikten
begegnen kann. Ich halte daran fest, dass man Konfliktlösungen
erlernen kann. Nur so wird es letztlich möglich sein, die Eskalation
von Gewalt zu reduzieren. Das zeigen einige Bereiche, in denen es gut
klappt, in denen aber auch viel in Deeskalationstaktiken investiert
worden ist. Und genau diese Investitionen müssen auf alle Bereiche,
in denen Gewalt eskaliert, ausgeweitet werden.

Zur Person:

Prof. Dr. Andreas Zick (Jahrgang 1962) ist ein bekannter
Sozialpsychologe. Er leitet das Institut für interdisziplinäre
Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) und ist Professor für
Sozialisation und Konfliktforschung an der Fakultät für
Erziehungswissenschaften der Universität Bielefeld. Seine
Forschungsinteressen umfassen unter anderem die Schwerpunkte
Vorurteile und Diskriminierung. Prof. Dr. Zick hat zahlreiche
Schriften verfasst, Bücher geschrieben und ist ein auch bei
TV-Sendern sehr gefragter Experte auf seinem Gebiet.



Pressekontakt:
Landeszeitung Lüneburg
Werner Kolbe
Telefon: +49 (04131) 740-282
werner.kolbe@landeszeitung.de

Original-Content von: Landeszeitung Lüneburg, übermittelt durch news aktuell


Kontaktinformationen:

Leider liegen uns zu diesem Artikel keine separaten Kontaktinformationen gespeichert vor.
Am Ende der Pressemitteilung finden Sie meist die Kontaktdaten des Verfassers.

Neu! Bewerten Sie unsere Artikel in der rechten Navigationsleiste und finden
Sie außerdem den meist aufgerufenen Artikel in dieser Rubrik.

Sie suche nach weiteren Pressenachrichten?
Mehr zu diesem Thema finden Sie auf folgender Übersichtsseite. Desweiteren finden Sie dort auch Nachrichten aus anderen Genres.

http://www.bankkaufmann.com/topics.html

Weitere Informationen erhalten Sie per E-Mail unter der Adresse: info@bankkaufmann.com.

@-symbol Internet Media UG (haftungsbeschränkt)
Schulstr. 18
D-91245 Simmelsdorf

E-Mail: media(at)at-symbol.de

622420

weitere Artikel:
  • Allg. Zeitung Mainz: Heimsuchung / Kommentar von Reinhard Breidenbach zu Trump Mainz (ots) - Da sich die Amerikaner bisweilen selbst als "Gottes eigenes Volk" bezeichnen, sei bei aller weltanschaulichen Unparteilichkeit dieser Satz erlaubt: Gott sei Dank ist ein Jahr der Amtszeit Trumps vorüber. In diesem Jahr hat sich deutlich erwiesen, dass Trumps Sieg bei den Wahlen eine Art von Heimsuchung ist. Kann man ihm zugute halten, dass nichts irreparabel Schreckliches passiert ist? Nun ja. Auf Hawaii hielten die Menschen es kürzlich jedenfalls für möglich, dass Raketen sie treffen. Hintergrund ist Trumps bizarrer mehr...

  • Allg. Zeitung Mainz: Zerreißprobe / Kommentar von Markus Lachmann zur SPD Mainz (ots) - Die SPD, und das ist vielleicht auch ein wenig ihr Schicksal, kennt Zerreißproben. Das war bei den Hartz-IV-Gesetzen der Fall, das war schon 2013 im Vorfeld einer großen Koalition so, und das ist auch jetzt wieder die Ausgangslage. Bei den Genossen geht die Angst um. Das Einzige, was sich mit Blick auf den Bundesparteitag am Sonntag sicher sagen lässt, ist, dass es ein knappes Ergebnis geben wird. Rafft sich die SPD noch einmal auf zu vier weiteren Jahren ungeliebter Partnerschaft mit Angela Merkel? Geht sie womöglich mehr...

  • Mittelbayerische Zeitung: Kommentar zur Bundeswehr Regensburg (ots) - Unter dem Radar von Reinhard Zweigler Flugzeuge, die unter dem Radar, also in geringer Höhe fliegen, sind für die jeweilige Luftabwehr eines Landes ein Gräuel. Der damals 18-jährige Mathias Rust flog mit einer Cessna vor über 30 Jahren unter dem Radar der sowjetischen Luftwaffe und landete auf dem Roten Platz in Moskau. Das war für die Sowjetarmee eine peinliche Niederlage und beförderte deren Zusammenbruch. Rust jedoch wurde für seine kühne, bis halsbrecherische Aktion gefeiert. Die Bundeswehr scheint mehr...

  • BERLINER MORGENPOST: Es kommt auf die Konsequenz an / Kommentar von Thomas Fülling zu Diesel-Fahrverbot und Falschparker Berlin (ots) - Kurzfassung: Ein Diesel-Fahrverbot könnte die Stadt und ihre Bewohner ernsthaft treffen. Betroffen wären eben nicht allein die Fahrer hubraumstarke SUV, sondern vor allem kleine Handwerker, Pflegedienste oder Lieferanten, die nicht das Geld haben, sich schnell ein schadstoffarmes oder gar vollelektrisches Fahrzeug zu kaufen. So ist es auch richtig, dass das Aktionsprogramm des Senats nicht allein auf neue Verbote und Vorschriften setzt, sondern den betroffenen Unternehmen auch finanzielle Unterstützung für den Umstieg mehr...

  • Berliner Zeitung: Kommentar zum Amri-Untersuchungsausschuss. Von Markus Decker Berlin (ots) - Nun mag man sich fragen, wozu es eines Untersuchungsausschusses des Bundestages eigentlich noch bedarf, wenn es derartige Ausschüsse doch in Berlin und Nordrhein-Westfalen bereits gibt. Die Antwort darauf ist freilich sehr klar. Zunächst einmal nehmen die genannten Gremien vorrangig das Versagen in den Ländern in den Blick, in denen sich der Attentäter Anis Amri überwiegend aufhielt: in Berlin und Nordrhein-Westfalen. Das ganze Bild kann nur der Bundestag gewinnen. Und allein der Bundestag kann auch wirksame Empfehlungen mehr...

Mehr zu dem Thema Aktuelle Politiknachrichten

Der meistgelesene Artikel zu dem Thema:

LVZ: Leipziger Volkszeitung zur BND-Affäre

durchschnittliche Punktzahl: 0
Stimmen: 0

Bitte nehmen Sie sich einen Augenblick Zeit, diesen Artikel zu bewerten:

Exzellent
Sehr gut
gut
normal
schlecht