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Westfalen-Blatt: Das WESTFALEN-BLATT (Bielefeld) zum ersten Jahrestag des Terroranschlags auf den Berliner Weihnachtsmarkt

Geschrieben am 18-12-2017

Bielefeld (ots) - Ein Jahr hat es gedauert. Heute wird von
staatlicher Seite offiziell der zwölf Todesopfer des islamistischen
Terroranschlags vom Berliner Breitscheidplatz gedacht und ein Mahnmal
eingeweiht. Endlich, möchte man meinen.

Aber nach allem, was seit dem 19. Dezember 2016 passiert ist und
was zuvor seit der illegalen Einreise des Tunesiers Anis Amri nach
Deutschland passierte, wirkt alles zu spät. Viel zu spät, nämlich
erst gestern, hat Angela Merkel zum ersten Mal die Angehörigen
getroffen und ihnen ihr Beileid ausgesprochen. Das ist der Versuch
von Schadensbegrenzung im letzten Moment.

Wie der Staat - also Politik und Behörden auf allen Ebenen von der
Bundesregierung über die rot-grüne NRW-Landesregierung bis zum
Berliner Senat - mit dem ersten großen islamistisch motivierten
Attentat umgegangen ist, macht einen auch heute noch sprachlos. Der
Staat sollte sich nicht schämen, er muss sich schämen: für sein
Versagen bei der mehrfach möglichen Festsetzung des Mörders; für sein
selbstverschuldetes Chaos bei den Zuständigkeiten; für sein
gefühlloses Verhalten gegenüber den Angehörigen der Opfer; für seine
Weigerung, politische und rechtliche Konsequenzen aus den Fehlern zu
ziehen.

Nachdem am 7. Januar 2015 zwei Islamisten in den Büroräumen der
französischen Satirezeitschrift »Charlie Hebdo« elf Menschen ermordet
hatten, dauerte es keine vier Tage, bis ein Trauermarsch mit Staats-
und Regierungschefs aus aller Welt durch Paris zog. Kanzlerin Angela
Merkel ging in der ersten Reihe neben dem damaligen französischen
Präsidenten François Hollande.

»Je suis Charlie« (Ich bin Charlie) war als Slogan der Solidarität
in Mode. Dabei galt diese öffentlich mit Buttons zur Schau gestellte
Solidarität nur kurz den Opfern der islamistischen Schlächter.
Zumindest in Deutschland. Schon am 13. Januar 2015 kam es am
Brandenburger Tor zu einer »Mahnwache für Toleranz und gegen
Extremismus«. Dazu aufgerufen hatten islamische Verbände. Auf dem
Pariser Platz gedachte die Spitze des Staates mit Bundespräsident,
Bundestagspräsident und Bundeskanzlerin nicht der Opfer
islamistischen Terrors, sondern rief gegen pauschale Islamkritik auf.
Welch ein Irrsinn, eine Religion, Kultur und Ideologie, in deren
Namen weltweit unschuldige Menschen getötet werden, pauschal gegen
Kritik in Schutz nehmen zu wollen.

Einen Slogan wie »Je suis Breitscheidplatz« hat man in Berlin und
anderswo nicht gesehen. Die sogenannte Zivilgesellschaft fühlt sich
wohl nicht angesprochen. Bis auf ein kurzes Treffen der
Hinterbliebenen mit Joachim Gauck blieb die offizielle Anteilnahme
aus.

Womit ist dieser gleichgültige Umgang mit der Trauer zu erklären?
Lapidar gesagt, wurde die Politik auf dem falschen Fuß erwischt. Anis
Amris Anschlag war ebenso ein Fanal für die verfehlte
Flüchtlingspolitik wie die sexuellen Übergriffe an Silvester 2015.
Beides wird Angela Merkel zur Last gelegt.

Natürlich kann man die Bundeskanzlerin nicht persönlich dafür
verantwortlich machen, dass die Behörden bei Anis Amri trotz klarer
Erkenntnisse für seine Absichten nicht zugreifen wollten. Es ist auch
nicht so, dass Merkel einen Bogen um den Breitscheidplatz gemacht
hätte. Im Februar besuchte sie den Ort des Anschlags mit dem
tunesischen Ministerpräsidenten: Er sollte sehen, wo sein Landsmann
zugeschlagen hatte.

Für die Kanzlerin sind diese letzten Tage des Jahres nicht
einfach. Die Menschen haben auf den mit Betonpollern und Polizisten
gesicherten Weihnachtsmärkten den Eindruck, dass dort die neue, nach
innen verlegte Außengrenze Deutschlands verläuft - und dass dem Staat
die Sicherheit seiner Bürger ziemlich egal ist.

Wenn es anders wäre, hätte es im Wahlkampf und bei den
Jamaika-Sondierungen gar keinen Streit über Obergrenzen und
Familiennachzug und überhaupt keine Forderung, wie von den Grünen,
nach mehr Zuwanderung aus anderen Kulturkreisen gegeben. Hat die
Politik also nichts aus dem Anschlag gelernt?

Es sieht so aus. Beim Blick auf das, worüber Union und SPD erst
sondieren und dann vielleicht verhandeln wollen, kann einem ganz
anders werden. In der aktuellen Studie zu den Ängsten der Deutschen
werden am häufigsten genannt: Terrorismus (71 Prozent), politischer
Extremismus (62 Prozent) und Spannungen durch Zuzug von Ausländern
(61 Prozent). Wer da die Bürgerversicherung zum Heiligtum erklärt,
der verkauft die Wähler für dumm.

Heute ist zu befürchten, dass der Bundespräsident nicht mehr sagt
als das, was unmittelbar nach Terroranschlägen immer gesagt wird.
Doch diese eingeübten Floskeln kann und will niemand mehr hören.
Frank-Walter Steinmeiers Worte zu den brennenden israelischen Fahnen
am Brandenburger Tor waren schon schwach genug. Bei dieser Form des
Antisemitismus und angesichts der arabischen und türkischen
Demonstranten keinen Zusammenhang zum in der muslimischen Welt weit
verbreiteten Judenhass zu erwähnen, darauf muss man erst mal kommen.

Dazu passt die Inschrift des Mahnmals am Breitscheidplatz: Dass
Anis Amri aus islamistischen Motiven handelte, bleibt unerwähnt.



Pressekontakt:
Westfalen-Blatt
Chef vom Dienst Nachrichten
Andreas Kolesch
Telefon: 0521 - 585261

Original-Content von: Westfalen-Blatt, übermittelt durch news aktuell


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