(Registrieren)

Mittelbayerische Zeitung: Die Stunde der Floskeln - Für die Briten wird die Lage immer verheerender, während sich Europa halbherzig um Zuversicht müht. Von Daniela Weingärtner

Geschrieben am 29-06-2016

Regensburg (ots) - Für Triumphgeheul ist es noch deutlich zu früh.
Ob die EU den Verlust Großbritanniens, eines wirtschaftsstarken und
international einflussreichen Mitglieds, halbwegs unbeschadet
übersteht, wird sich erst in ein paar Jahren sagen lassen, wenn die
Austrittsverhandlungen abgeschlossen sind. Aber eine Woche nach dem
Exit-Votum der britischen Wähler lässt sich immerhin feststellen,
dass der Schock für Kontinentaleuropa längst nicht so drastisch
ausgefallen ist, wie fast alle Kommentatoren im Vorfeld fürchteten.
Die Lage auf der Insel hingegen ist weitaus verheerender, als
erwartet wurde. Doch den verbleibenden 27 Regierungen ist klar, dass
der Katzenjammer der Briten zwar kurzfristig ein ganz gutes Gegengift
gegen den Höhenflug rechtspopulistischer Bewegungen in Frankreich und
den Niederlanden ist. Der allgemeinen Unzufriedenheit vieler Europäer
mit der EU und dem Brüsseler Politikbetrieb muss aber mit
nachhaltigeren Mitteln begegnet werden. Ihren zweiten Gipfeltag
wollten die Chefs der verbliebenen 27 Staaten deshalb darauf
verwenden, einen Fahrplan für die Erneuerung der EU festzulegen.
Außer den alt bekannten Floskeln zu Wachstum und Beschäftigung kam
aber nicht viel dabei heraus. Angesichts der historisch einmaligen
Lage fällt die Schlusserklärung erstaunlich dürr und dürftig aus. Man
versichert sich gegenseitig, entschlossen zusammenzustehen und die
Herausforderungen des 21. Jahrhunderts im Interesse der eigenen
Nationen und Völker zu meistern - was immer das heißen soll. Die
Begeisterung der Europäer für das gemeinsame Projekt wird man mit
diesen angestaubten Worten nicht neu entfachen. Doch es gibt gute
Gründe, warum die Treueschwüre europäischer Politiker meist so
substanzlos klingen wie Waschmittelwerbung. Ginge man ins Detail,
würden unüberbrückbare Gegensätze offenbar. Nord gegen Süd,
Nettozahler gegen Hilfsempfänger, Verfechter der Schwarzen Null gegen
Vertreter eines öffentlich angekurbelten Wachstums, Protektionisten
gegen Wirtschaftsliberale - im Vergleich zu den
Interessensgegensätzen, die auf europäischer Ebene überbrückt werden
müssen, ist die große Koalition in Berlin ein äußerst homogener
Verein. Deshalb hat die Methode, Konflikte nicht offen auszutragen,
sondern hinter verschlossenen Türen zu mauscheln, in der EU eine so
stabile Tradition. Das glasklare "Raus ist raus" in Richtung
Britannien ist eine für die EU untypisch eindeutige Reaktion, die vom
Schock des völlig unerwarteten Referendumsergebnisses provoziert war.
Zu ähnlicher Klarheit werden sich die verbleibenden 27 Regierungen
nicht noch einmal durchringen. Kommissionschef Junckers Rücktritt
fordern, um ein Zeichen für einen Neuanfang zu setzen? Wer sollte ihn
denn beerben? Und vor allem: Würde eine Personaldebatte nicht ganz
sicher offenen Streit unter den Europäern auslösen? Endlich Ernst
machen mit der Forderung, große Dinge in Brüssel zu regeln und die
kleineren zurück in die Hauptstädte zu verlagern? Wie aber soll man
sich einigen, was denn die großen und was die kleinen Dinge sind? Und
was tun mit den Mitgliedsstaaten, die unstrittig große Dinge wie
Migration, Wirtschaftsreformen und Sozialsysteme keinesfalls in die
Hände einer europäischen Regierung legen wollen? Solange der
europäische Club so groß und uneinheitlich bleibt, wird man mit dem
kleinsten gemeinsamen Nenner leben müssen. Die Debatte um ein enger
kooperierendes Kerneuropa ist nach diesem Gipfel erst einmal wieder
vom Tisch. Auf eindeutige Bekenntnisse und begeisternde Impulse aus
Brüssel wird man auch in Zukunft vergeblich warten. Aber immerhin hat
der Brexit allen Kontinentaleuropäern deutlich vor Augen geführt,
dass nationale Alleingänge auch keine Alternative sind.



Pressekontakt:
Mittelbayerische Zeitung
Redaktion
Telefon: +49 941 / 207 6023
nachrichten@mittelbayerische.de


Kontaktinformationen:

Leider liegen uns zu diesem Artikel keine separaten Kontaktinformationen gespeichert vor.
Am Ende der Pressemitteilung finden Sie meist die Kontaktdaten des Verfassers.

Neu! Bewerten Sie unsere Artikel in der rechten Navigationsleiste und finden
Sie außerdem den meist aufgerufenen Artikel in dieser Rubrik.

Sie suche nach weiteren Pressenachrichten?
Mehr zu diesem Thema finden Sie auf folgender Übersichtsseite. Desweiteren finden Sie dort auch Nachrichten aus anderen Genres.

http://www.bankkaufmann.com/topics.html

Weitere Informationen erhalten Sie per E-Mail unter der Adresse: info@bankkaufmann.com.

@-symbol Internet Media UG (haftungsbeschränkt)
Schulstr. 18
D-91245 Simmelsdorf

E-Mail: media(at)at-symbol.de

594012

weitere Artikel:
  • Stuttgarter Zeitung: Kommentar: Brüssel-Korrespondent Markus Grabitz über die Pflicht, Europa zu stärken Stuttgart (ots) - Auch jeder Bürger ist gefragt. Es gilt, im Kleinen, in der Diskussion im Bekanntenkreis Europa zu verteidigen. Zugegeben, die Strukturen der EU sind etwas unübersichtlich. Doch der aufgeklärte Wähler sollte sich schon die Mühe machen, mehr Durchblick zu bekommen. Wer näher hinschaut, erkennt, dass die EU kein Demokratiedefizit hat. Das Europaparlament ist machtvoll, die Abgeordneten haben bei der Auswahl der Kommissare mehr mitzureden als der Bundestag bei der Kabinettsliste. Geldverschwendung? Der Haushalt der EU mehr...

  • Westfalen-Blatt: Das WESTFALEN-BLATT (Bielefeld) zum Anschlag von Istanbul Bielefeld (ots) - Der Anschlag von Istanbul ist in vielerlei Hinsicht eine Katastrophe. Der Tod von mehr als 40 Menschen ist zu beklagen; die Mörder unter dem Label des »Islamischen Staates« (IS) verlegen sich immer mehr darauf, westliche oder westlich orientierte Metropolen zu terrorisieren; das Attentat trifft die Türkei - das klingt zynisch, weil es für Anschläge keine »günstigen Zeitpunkte« gibt - zu einem politisch ungünstigen Zeitpunkt. Einen Tag vor dem Angriff auf den Flughafen in Istanbul hat die Türkei Signale der mehr...

  • Westfalen-Blatt: Das WESTFALEN-BLATT (Bielefeld) zum Brexit und zur EU Bielefeld (ots) - Die Wehmut des Abschieds passte nicht zur Realität. Denn die weihevollen Erinnerungen einiger europäischer Staats- und Regierungschefs konnten die erneute tiefe Verärgerung nicht überdecken. Dass der britische Premier David Cameron es wagte, auch nach dem nunmehr feststehenden Brexit mit leeren Händen bei den EU-Partnern in Brüssel aufzutauchen, hat die Wut auf den Mann, der dieses Referendum zu verantworten hat, nur noch angeheizt. Der Konservative konnte nichts vorweisen: keinen Plan, kein Ziel, keinen Vorschlag mehr...

  • Rheinische Post: Kommentar / Die Bauern sind am Zug = Von Jan Drebes Düsseldorf (ots) - Die Bundeskanzlerin hat recht, wenn sie feststellt, dass die Bauern nicht für alle Verwerfungen auf dem Agrarmarkt aufkommen müssen. Gemeint hatte sie die Milchbauern, die sich aufgrund niedriger Preise in einer schweren Krise befinden. Hofbetreiber fürchten um ihre Existenz, können kaum mehr mithalten im Wettbewerb. Und das Vertriebssystem aus Erzeugern, Molkereien und Handel ist komplex, vom einzelnen Landwirt nicht steuerbar. Liquiditätshilfen könnten die Lage vorerst entschärfen - aber nicht lange. Es wäre mehr...

  • Rheinische Post: Kommentar / Vereint gegen den IS = Von Eva Quadbeck Düsseldorf (ots) - Der türkische Präsident trägt Mitschuld daran, dass sich der IS-Terror in seinem Land ausbreiten konnte. So lange der IS ihm als Machtinstrument gegen die Kurden diente, bekämpfte Erdogan die Terroristen nicht konsequent. Nun ist der IS in der Türkei so stark, dass er den inneren Frieden dort gefährden kann. Ein schulterzuckendes "selbst Schuld" hilft nun aber niemandem weiter. Auch die Europäer tun sich keinen Gefallen, wenn sie den IS in der Türkei nur als dortiges Problem betrachten. Der IS ist eine internationale mehr...

Mehr zu dem Thema Aktuelle Politiknachrichten

Der meistgelesene Artikel zu dem Thema:

LVZ: Leipziger Volkszeitung zur BND-Affäre

durchschnittliche Punktzahl: 0
Stimmen: 0

Bitte nehmen Sie sich einen Augenblick Zeit, diesen Artikel zu bewerten:

Exzellent
Sehr gut
gut
normal
schlecht