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Mittelbayerische Zeitung: Leitartikel zu Polen: Polnisches Spinnennetz von Ulrich Krökel

Geschrieben am 19-01-2016

Regensburg (ots) - Man stelle sich vor, der Bundespräsident reist
zur EU nach Brüssel. Am Tag darauf folgt die deutsche Kanzlerin mit
einem Auftritt vor dem Europaparlament in Straßburg. Die
Gesprächspartner der beiden wissen aber: In Wirklichkeit sitzt der
mächtigste Mann der Republik, ein undurchsichtiger Parteivorsitzender
namens K., zu Hause in Berlin und bereitet den nächsten
antidemokratischen oder antieuropäischen Gesetzescoup vor. Undenkbar?
Ja, in Deutschland ist ein solches Szenario undenkbar, im Nachbarland
Polen dagegen ist es Realität. Die Reisen von Staatschef Andrzej Duda
und Premierministerin Beata Szydlo nach Brüssel und Straßburg waren
deshalb von vornherein von zweifelhaftem Wert. Alle Beteiligten
wussten, dass die Richtlinien der polnischen Politik derzeit weder im
Präsidentenpalast noch im Kabinettssaal und auch nicht im Parlament
bestimmt werden, sondern in einem Reihenhaus in Warschau, wo Jaroslaw
Kaczynski residiert, der Vorsitzende der rechtsnationalen
Regierungspartei PiS. Man muss dazu wissen, dass Kaczynski die PiS
nicht nur vor 15 Jahren gegründet hat und ihr seither vorsitzt. Er
hat aus der Partei mit dem irreführenden Namen Recht und
Gerechtigkeit auch von Anfang an eine Kaderorganisation geformt, in
der die Machtstrukturen wie ein Spinnennetz angeordnet sind, in
dessen Mitte Kaczynski thront und die Fäden zieht. Es ist ein
informelles und nach außen hin abgeschottetes Herrschaftssystem. Für
die Partner Polens ist es deshalb extrem schwer, ein verlässliches
Fundament für Gespräche zu finden. Was mag es schon heißen, dass Duda
mit seinem Landsmann Donald Tusk, dem EU-Ratspräsidenten, im Geiste
einer zur Schau gestellten Versöhnung plauderte? Im Grunde heißt es
nichts, denn jeder weiß, dass Tusk im Denken Kaczynskis der Feind
Nummer eins ist, den er seit der Flugzeugtragödie von Smolensk für
den Tod seines Bruders Lech verantwortlich macht. Auch der Auftritt
von Beata Szydlo im EU-Parlament war nichts anderes als ein
Scheingefecht mit den Abgeordneten und den Kommissionsvertretern, die
ihrem Unmut über die polnische Regierungspolitik Luft machten -
jedoch ohne Folgen. Szydlo hatte als ersten Akt ihrer Amtszeit
demonstrativ die EU-Fahnen aus ihrem Pressesaal entfernen lassen.
Anschließend entmachtete die PiS das Verfassungsgericht und legte die
staatlichen Medien an die Kandare. Viele EU-Parlamentarier sehen
darin einen Frontalangriff auf die Demokratie und den Rechtsstaat,
und das sagten sie der Ministerpräsidentin auch offen. Die
EU-Kommission hat eine entsprechende Prüfung eingeleitet. Szydlo
verteidigte sich und die PiS-Politik mit Verweis auf den eigenen Sieg
in einer freien Wahl. Am Ende ging man schiedlich-friedlich
auseinander, frei nach der Devise: Gut, dass wir darüber gesprochen
haben. Noch einmal: Zu bedeuten hat der Meinungsaustausch der
Machtlosen wenig bis nichts. Wenn es Jaroslaw Kaczynski opportun
erscheint, dann trifft er sich persönlich mit dem ungarischen
Ministerpräsidenten Viktor Orban zu einem sechsstündigen (!)
Strategiegespräch, wie Anfang Januar geschehen. Dort wurden
mutmaßlich die wahren "Gefechtspläne" der osteuropäischen
EU-Skeptiker geschmiedet. Und wenn sich Kaczynski nicht direkt
einschalten kann, dann zitiert er Duda und/oder Szydlo zu sich nach
Zoliborz und diktiert ihnen die Regierungsagenda. Über Szydlo heißt
es in Warschau ohnehin, sie sei Premierministerin auf Abruf. Viele
Beobachter geben ihr noch Zeit bis zum Sommer, um die "Drecksarbeit"
der autoritären Machtsicherung zu Ende zu führen. Anschließend könnte
Kaczynski auch offiziell das Ruder übernehmen.



Pressekontakt:
Mittelbayerische Zeitung
Redaktion
Telefon: +49 941 / 207 6023
nachrichten@mittelbayerische.de


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