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Mittelbayerische Zeitung: Tunesien? Ja, richtig. Der Friedensnobelpreis in diesem Jahr ist eine Überraschung. Aber auch eine kluge Entscheidung. Von Christian Kucznierz

Geschrieben am 09-10-2015

Regensburg (ots) - Nehmen wir für einen Moment einmal an, Angela
Merkel wäre wirklich im Rennen gewesen für den Friedensnobelpreis.
Was hätte es gebracht, wäre sie ausgezeichnet worden? Sie wäre zu
einer Art Säulenheiligen geworden, die innerhalb Europas und im
eigenen Land ohnehin bis auf weiteres nicht kritisierbar gewesen
wäre. So viel Charme es vielleicht gehabt hätte, wenn die Kanzlerin
durch die Auszeichnung für ihre Arbeit und ihre Politik belohnt
worden wäre, so sehr hätte der Preis doch auch eine Belastung
dargestellt. Zumindest noch. Aber Tunesien? Und das tunesische
Dialog-Quartett? Auf der offiziellen Nobelpreis-Homepage befindet
sich eine Umfrage, bei der man anklicken kann, ob der diesjährige
Preisträger dem Nutzer bekannt war oder nicht. Aber selbst wenn die
Auszeichnung einer Vierergruppe von tunesischen Organisationen der
Weltöffentlichkeit weitgehend unbekannt sein mag, so hat der Preis
doch aus mehreren Gründen eine Berechtigung. Tunesien war 2011 das
erste Land Nordafrikas, in dem sich die Menschen gegen ihren
langjährigen Herrscher auflehnten. Die Jasmin-Revolution war der
Beginn dessen, was als Arabischer Frühling bekannt wurde - und in den
meisten Staaten gescheitert ist. Am drastischsten zeigt sich das in
Syrien, wo nun im fünften Jahr Baschar al-Assad versucht, mit
Fassbomben, früher auch mit Gasangriffen, seine Legitimität durch das
Ermorden seiner Gegner und der Zivilbevölkerung zu festigen.
Neuerdings bekommt er dafür sogar russische Unterstützung unter dem
Vorwand, dem Terror Einhalt zu gebieten. Was für ein Zynismus. Syrien
aber ist nur das krasseste Beispiel dafür, wie sehr der einst als
Aufbruch und lang erwarteter Wandel zum Besseren gefeierte Arabische
Frühling vom Westen im Stich gelassen wurde. Und dort, wo er versucht
hat, ihn zu beschleunigen, hat der Westen am Ende den Extremisten das
Feld überlassen: in Libyen. War der Arabische Frühling für die
Menschen der Versuch, ihr Leben aus den Händen von Dauerdespoten zu
entreißen und in die eigenen zu legen, war er für den Westen nur
eines: weit weg. Zumindest, so die Hoffnung, musste man sich in
Nordafrika und dem Nahen Osten nicht selbst die Hände schmutzig
machen wie im Irak oder in Afghanistan. Zusammen mit Libyen sind
diese Staaten Beleg für eine gescheiterte Interventionspolitik des
Westens. Die Rechnung ging nur in Tunesien auf, und auch dort nicht
ganz. In diesem Jahr starben im März 20 Menschen beim Anschlag auf
das Bardo-Museum. Im Juni tötete ein islamistischer Attentäter am
Strand von Sousse 38 Menschen. Beide Anschläge ereigneten sich nach
Ende der Nominierungsfrist des Nobel-Komitees, das seine Liste am 1.
Februar erstellt. Der Terror war ein Rückschlag im Kampf des Landes
um eine Stabilisierung der noch jungen Demokratie. Vielleicht hat
genau das einen Einfluss auf die Entscheidung des Komitees gehabt.
Die vermeintlich unverständliche Auszeichnung macht sehr wohl Sinn:
Sie lenkt die Aufmerksamkeit hin zu einer ganzen Region, die in der
öffentlichen Wahrnehmung nicht die Aufmerksamkeit bekommt, die sie
verdient hätte. Dabei liegt hier eine der Hauptursachen eines
Konflikts, dessen Auswirkungen Europa zuerst vor seinen Küsten und
dann an seinen Grenzen sah und nun vor der eigenen Haustüre
vorfindet. Die Boote der Schleuser kamen aus Libyen. Die Tausenden
von Familien, Kindern, Frauen und Männern in Passau oder Freilassing
kommen aus Syrien. Es hat lange gedauert, bis Europa und die Welt
zugegeben haben, dass sie mitschuldig sind an der Flüchtlingskrise.
Der Friedensnobelpreis 2015 könnte helfen, den Blick darauf zu
richten, wie die Konflikte, die Menschen in die Flucht treiben,
vielleicht gelöst werden könnten.



Pressekontakt:
Mittelbayerische Zeitung
Redaktion
Telefon: +49 941 / 207 6023
nachrichten@mittelbayerische.de


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