(Registrieren)

DER STANDARD-Kommentar "Die Politik tritt zurück" von Christoph Prantner

Geschrieben am 21-11-2011

In immer mehr Ländern sind nicht mehr Wähler, sondern Märkte
der Souverän //Ausgabe vom 22.11.2011

Wien (ots) - Der Spitzenkandidat landet einen historischen
Erdrutschsieg, gewinnt die absolute Mehrheit an Sitzen, hat als
kommender Ministerpräsident so viel Macht, wie sie zuletzt vor
Jahrzehnten ein Diktator in seinem Land hatte - und dann stellt sich
Mariano Rajoy in Madrid vor die Öffentlichkeit, spricht von einer
Kooperation mit der schmählich abgewählten Linken und erwägt sogar
die Berufung von Experten in sein zukünftiges Kabinett. Wie verzagt
muss der Mann sein, dass ihm so etwas einfällt?
Offenbar sehr. Dabei stehen die Spanier nicht einmal alleine da. Sie
geben nur das vorerst jüngste Beispiel in einer Serie von Ereignissen
ab, die nichts weniger als den Rücktritt der Politik illustriert. Es
zeigt sich, wie in vielen anderen europäischen Staaten nun auch in
Spanien, wie sehr die Demokratien bereits zerschlissen, wie sehr die
herkömmlichen Regierungssysteme in dieser Großkrise schon erodiert
sind.
Rajoy, den sie wegen seines _knochentrockenen, technokratischen
Auftretens den "Notar aus Galicien" nennen, Professor Mario Monti in
Italien und der Eurobanker Lucas Papademos in Griechenland sind
Regierungschefs neuen Zuschnitts. Sie müssen sich - auch wenn sie,
wie Rajoy, eben gewählt wurden - nicht mehr vor dem Volk als Souverän
verantworten, sondern vor allem vor den Finanzmärkten. Ihre Aufgabe
ist nicht mehr das Gestalten und Verwalten. Dazu sind die politischen
Spielräume längst zu eng geworden. Sie müssen sparen, kürzen und vor
allem jene Anweisungen befolgen, die - schon wieder Technokraten - in
den Bürotürmen in Brüssel ausgegeben werden.
Von nationaler Souveränität, die noch so etwas wie einen politischen
Manövrierraum ermöglichen könnte, ist schon lange keine Rede mehr.
Selbst bei den europäischen Schwergewichten Deutschland, Frankreich
oder Großbritannien nicht. Auch deren Regierungen haben in der
Zwischenzeit erkennen müssen, dass ihnen in einem globalisierten
Finanzsystem längst eine kritische Masse an Einfluss fehlt, um den
Lauf der Dinge nach ihren Interessen zu beeinflussen. Ganz zu
schweigen von der Bundesregierung in Österreich, die gelegentlich den
Anschein erweckt, heilfroh zu sein, dass sie in der gegenwärtigen
Krise ohnehin nichts zu melden hat.
Hatte man sich früher taxfrei mehr europäische Integration und
Brüsseler Expertise wünschen können, um die ärgsten nationalen
Seltsamkeiten abzufedern, kann der Sachzwang als Regierungsform heute
gefährlich und unkontrollierbar werden. Schon bisher hatten die
Europäer in ihrer Union nicht das Gefühl, besonders viel mitbestimmen
zu können. Das wird in der neuen Situation nicht besser werden. Und
davon dürften vor allem jene Populisten profitieren, die so wenig
Verantwortung tragen wollen, wie sie Verständnis für die gegenwärtige
Notlage haben.
Gegen diese Gefahr hilft nur, dass ernstzunehmende Politiker ihren
Beruf auch wieder ernsthaft ausüben und das vielbeschworene Primat
der Politik wiederherstellen. Die Techniker mögen ihre Zeit haben,
die Politiker müssen um ihre Zukunft - und jene der Demokratie -
kämpfen.
Verlieren sie diesen Kampf, wird weder von den europäischen
Nationalstaaten noch von deren Union viel übrigbleiben. Denn mit dem
Diktat des Sachzwangs lässt sich keine Zukunft gestalten. Damit
lassen sich bestenfalls Sünden aus lange vergangenen Zeiten abbüßen.

Rückfragehinweis:
Der Standard, Tel.: (01) 531 70/445

Digitale Pressemappe: http://www.ots.at/pressemappe/449/aom


Kontaktinformationen:

Leider liegen uns zu diesem Artikel keine separaten Kontaktinformationen gespeichert vor.
Am Ende der Pressemitteilung finden Sie meist die Kontaktdaten des Verfassers.

Neu! Bewerten Sie unsere Artikel in der rechten Navigationsleiste und finden
Sie außerdem den meist aufgerufenen Artikel in dieser Rubrik.

Sie suche nach weiteren Pressenachrichten?
Mehr zu diesem Thema finden Sie auf folgender Übersichtsseite. Desweiteren finden Sie dort auch Nachrichten aus anderen Genres.

http://www.bankkaufmann.com/topics.html

Weitere Informationen erhalten Sie per E-Mail unter der Adresse: info@bankkaufmann.com.

@-symbol Internet Media UG (haftungsbeschränkt)
Schulstr. 18
D-91245 Simmelsdorf

E-Mail: media(at)at-symbol.de

364708

weitere Artikel:
  • Berliner Zeitung: Kommentar zu den Buh-Rufen gegen Putin Berlin (ots) - Putins Partei wird schon länger ausgebuht. Nun aber ist dies Putin selbst passiert. Das ist neu. Putins Autorität als starker Mann der russischen Politik beruht bisher darauf, dass er - anders als ein Boxer - gar nicht herausgefordert werden kann. Er ist unangefochten und unanfechtbar, im Grunde also gar keine Figur der Politik mehr, sondern eine oberhalb aller Politik. So schien es jedenfalls bisher, und so sollte es auch scheinen, wenn es nach Putin ging. Das Bild hat einen Riss bekommen. Pressekontakt: Berliner mehr...

  • Berliner Zeitung: Kommentar zu den jüngsten Unruhen in Ägypten Berlin (ots) - Die ägyptischen Militärs steuern das Land nicht in Richtung Demokratie. Vielmehr scheint eine neue Diktatur ihr Ziel zu sein. Es ist höchste Zeit, dass sich Parteien und Aktivisten aller Lager zusammentun und den Generälen Paroli bieten. Mit immer neuen Dekreten haben diese versucht, ihre Macht zu festigen. Zuletzt hatten sie sich das Recht herausgenommen, gegen Parlamentsentscheidungen Veto einzulegen. Das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen und die Menschen auf die Straße brachte. Jetzt ist der Moment, Zugeständnisse mehr...

  • Westfalen-Blatt: Das WESTFALEN-BLATT (Biefeld) zu den Wahlen in Spanien Bielefeld (ots) - Irland, Portugal, Slowakei, Griechenland, Italien und jetzt Spanien: Seit Februar hat die europäische Währungs- und Wirtschaftskrise sechs Regierungschefs um ihr Amt gebracht. Die unter der Krise leidenden Bürger schicken ihre Ministerpräsidenten mittlerweile reihenweise in die Wüste. Sie wissen sich nicht anders zu helfen und machen den Wahlzettel zum Denkzettel - ohne dass die neuen Kräfte unbedingt die Besseren sein müssen. So auch in Spanien, wo sich die sozialistische Regierung von José Luis Rodríguez Zapatero mehr...

  • Rheinische Post: Euro-Verzweiflung Düsseldorf (ots) - Vier Wochen ist der letzte Euro-Gipfel her, der den Flächenbrand in der Eurozone stoppen sollte. Doch seine Wirkung ist verpufft. Das Misstrauen der Finanzmärkte wächst, Spanien und Italien müssen Rekordzinsen von sieben Prozent bieten, was ein Staat auf Dauer nicht durchhalten kann. Und nun frisst sich die Krise bis ins Herz der Euro-Zone vor: Gestern warnte die Rating-Agentur Moody's, sie werde Frankreich das Top-Rating streichen, wenn Paris weiter hohe Zinsen zahlen müsse. Die Lage wird verzweifelter - und mit mehr...

  • Mitteldeutsche Zeitung: zu Spanien Halle (ots) - Doch ein Machtwechsel allein bringt noch keine Besserung. Europäische Union wie Finanzmärkte werden dem kommenden Mann keine Schonfrist einräumen, um ein überzeugendes Reform- und Sanierungsprogramm zu präsentieren. Gestern stiegen die Schuldzinsen für spanische Anleihen auf eine Höhe, die kein Land lange aushalten kann. So lässt sich unschwer voraussagen, dass Spanien das Schlimmste noch vor sich hat. Rajoy wird als erstes die Axt aus dem Schrank holen und Staatsausgaben massiv kappen müssen. Der Rotstift wird mehr...

Mehr zu dem Thema Aktuelle Politiknachrichten

Der meistgelesene Artikel zu dem Thema:

LVZ: Leipziger Volkszeitung zur BND-Affäre

durchschnittliche Punktzahl: 0
Stimmen: 0

Bitte nehmen Sie sich einen Augenblick Zeit, diesen Artikel zu bewerten:

Exzellent
Sehr gut
gut
normal
schlecht