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Landeszeitung Lüneburg: Fremdkörper in der Demokratie / Dr. Rolf Gössner wurde 38 Jahre lang zu Unrecht observiert und kritisiert die Antiterrorhysterie der Politik

Geschrieben am 13-10-2011

Lüneburg (ots) - Wie viel Sicherheit verträgt die Freiheit?
Brandanschläge auf die Bahn oder auf Autos schre"cken die Bürger auf;
Überwachungssoftware und Nacktscanner empören sie. Schmal ist der
Grat, auf dem etwa der Verfassungsschutz wandelt, meint Dr. Rolf
Gössner, der 38 Jahre lang zu Unrecht überwacht worden ist. Er warnt
vor einer Einschränkung der Grundrechte.

38 Jahre wurden Sie zu Unrecht vom Verfassungsschutz ausgespäht --
so hat es das Verwaltungsgericht Köln festgestellt. Wissen Sie
mittlerweile, was auf 2000 Seiten über Sie zusammengetragen worden
ist?

Dr. Rolf Gössner: Das wüsste ich gerne. Es ist aber leider so,
dass das Bundesamt für Verfassungsschutz zwar fast vier Jahrzehnte
lang Informationen über mich zusammengetragen hat. Aber meine
Personenakte bleibt überwiegend geheim, weil das
Bundesinnenministerium eine Sperrerklärung verfügt hat. Die sorgt
dafür, dass 80-85 Prozent der Aktenseiten ganz oder teilweise
geschwärzt sind. Drei Gründe werden genannt: Erstens Quellenschutz,
das heißt, wenn mir die Identität von beteiligten V-Leuten oder
Informanten bekannt würde, sei -- laut Amt -- deren Leib und Leben
gefährdet. Zweitens die Ausforschungsgefahr, das heißt, ich könnte
herausfinden, wie das Bundesamt arbeitet. Und drittens wäre das
Staatswohl gefährdet, wenn ich wüsste, was über mich gesammelt wurde.
Den letzten Grund könnte ich noch am ehesten verstehen, wäre die
Öffentlichkeit doch bestimmt zu Recht empört, wenn bekannt würde,
welche Belanglosigkeiten zusammengetragen wurden. Ohnehin ist diese
ganze Sache ein Fall für den Bundesrechnungshof.

Das heißt, Sie wissen immer noch nicht, ob die Quellen in Ihrem
persönlichen Umfeld sitzen?

Dr. Gössner: Nein, aber die Beobachtung ist offiziell Ende 2008
beendet worden. Begründet wurde diese Einstellung unter anderem
damit, dass die Bedrohungslage der Bundesrepublik sich mittlerweile
verändert habe, weshalb die knappen Ressourcen anderweitig eingesetzt
werden müssten.

Wann bemerkten Sie, dass Sie bespitzelt wurden?

Dr. Gössner: Es gab manche Indizien, aber es war ja nicht so, dass
hinter mir pausenlos irgendwelche Observanten her waren. Erfahren
habe ich von meiner Überwachung, weil ich 1996 beim Bundesamt einen
Antrag auf Auskunft über die zu meiner Person gespeicherten Daten
gestellt hatte. Die Dossiers, die ich erhielt, listeten meine
Schriften, Interviews, Vorträge und ähnliches auf, die gesammelt,
gespeichert und ausgewertet wurden. Dies insbesondere in
Zusammenhängen, die vom Verfassungsschutz als "linksextremistisch"
oder ,,linksextremistisch beeinflusst" deklariert wurden. Darunter
fielen meine beruflichen Kontakte als Anwalt, Publizist, Referent
oder auch als Menschenrechtler zu Gruppierungen wie der VVN, der
Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes, der Rechtshilfegruppe
"Rote Hilfe" oder der DKP. Verdächtig waren auch Kontakte zu
Presseorganen wie zu den renommierten "Blättern für deutsche und
internationale Politik", die im Kalten Krieg als DDR-mitfinanziert
galten. Gespeichert wurden meine Beiträge für "Neues Deutschland"
oder "Junge Welt", aber auch für die "Frankfurter Rundschau", "Die
Woche" oder den "Freitag".

Haben Sie aus Angst vor der Überwachung durch den
Verfassungsschutz eine Schere im Kopf entwickelt?

Dr. Gössner: Die Frage habe ich mir oft gestellt. Ich denke, dass
dies trotz allen Einschüchterungspotentials nicht der Fall war. Das
beste Gegenmittel gegen eine schleichende Anpassung ist, sich genau
diese Frage immer wieder zu stellen.

Welche Lehren sind aus Ihrem Fall zu ziehen etwa für die Sammelwut
nach 9/11?

Dr. Gössner: Mit den "Antiterrorgesetzen" von 2002 wurden die
polizeilichen und geheimdienstlichen Befugnisse erheblich
ausgeweitet. Seitdem werden in noch größerem Maße personenbezogene
Daten auch von Menschen gespeichert, die selbst nicht verdächtig
sind. Das liegt am Prinzip der Prävention, - am Beispiel der
Rasterfahndung lässt sich dies veranschaulichen. Nach dem vom
Bundeskriminalamt (BKA) erstellten "Schläfer-Profil" wurden nach 9/11
folgende Daten aus diversen Dateien zusammengeführt: männliche
Technikstudenten, aus arabischen Ländern stammend, mutmaßlich
islamische Religionszugehörigkeit, viel reisend, finanziell
unabhängig und bisher nie mit dem Gesetz in Konflikt gekommen. Für
sich genommen sind dies alles unverdächtige Kriterien, in der
Zusammenführung reichten sie aber aus, um die Betroffenen unter
elektronischen Verdacht zu stellen. Sie mussten sich gegenüber
Polizei oder Verfassungsschutz rechtfertigen -- was letztlich eine
Umkehr der Beweislast bedeutet. Zu Fahndungserfolgen hat die
aufwändige Prozedur nicht geführt - aber zu massenhaften
Verdächtigungen, vor allem von Migranten und Muslimen. Im Nachhinein
hat das Bundesverfassungsgericht diese Maßnahmen für
verfassungswidrig erklärt.

Befürchten Sie eine ähnliche Verschiebung der Grenzen der
Rechtsstaatlichkeit wie im Deutschen Herbst, in dem der damalige
BKA-Präsident Horst Herold die Rasterfahndung konzipierte?

Dr. Gössner: Wir sind inzwischen längst in einem präventiven
Sicherheitsstaat gelandet. Zu der Rasterfahndung gesellen sich noch
der Große Lauschangriff in Wohnungen, die Online-Durchsuchung mit
Trojaner-Software, die mittlerweile gekippte Vorratsdatenspeicherung
zur Überwachung der Telekommunikation, biometrische Ausweise mit
digitalen Fotos und Fingerabdrücken auf Funkchips. Gleichwohl geht es
immer weiter. In der "Antiterrordatei" werden Erkenntnisse von
Polizei und Geheimdiensten zusammengeführt, was gegen das Gebot der
Trennung dieser beiden Sicherheitsorgane verstößt -- eine wichtige
Konsequenz aus den bitteren Erfahrungen mit der Gestapo der Nazizeit.
Grundrechte werden auch massiv eingeschränkt durch ausufernde
Sicherheitsüberprüfungen in privaten und öffentlichen Unternehmen,
die als "lebens- oder verteidigungswichtig" gelten. Auch eine
wachsende Militarisierung der inneren Sicherheit, etwa über den
Bundeswehreinsatz im Innern wie bei der Fußball-WM oder beim
G-8-Gipfel in Heiligendamm, gibt zu denken. Das sind nicht nur
punktuelle Änderungen im Staatsgefüge, sondern strukturelle -- das
Ergebnis nennt sich neue Sicherheitsarchitektur. Wofür soll diese
dienen? Für den ganz alltäglichen Ausnahmezustand?

Gefährdet eine solche Sicherheitsarchitektur die Grundrechte, die
der Verfassungsschutz eigentlich schützen soll?

Dr. Gössner: Meines Erachtens ja. Dabei erweist sich der
Verfassungsschutz selbst als Fremdkörper in der Demokratie, weil er
als Geheimdienst den demokratischen Prinzipien der Transparenz und
Kontrollierbarkeit widerspricht. Wäre er transparent, könnte er nicht
im Geheimen arbeiten. Daraus resultiert eine mangelhafte Kontrolle,
wie die Arbeit der eigens eingerichteten parlamentarischen
Kontrollgremien eindrucksvoll belegt.

Inwieweit wirken staats"autoritäre Traditionen nach?

Dr. Gössner: Der Verfassungsschutz hat wie so manche andere
deutsche Institution braune und staatsautoritäre Wurzeln, die erst
jetzt aufgearbeitet werden sollen. Für Entwicklung und Arbeit dieses
Geheimdienstes war das prägend. Erinnert sei etwa an die exzessive
Kommunistenverfolgung der 50er und 60er Jahre, als nicht nur
Verfassungsschutz und Polizei, sondern auch die Justiz mit ihren
personellen "Altlasten", etwa das Lüneburger Landgericht, eine
unsägliche Rolle spielten. Seit den 90er Jahren verstrickt sich der
Verfassungsschutz mit seinen V-Leuten in Neonazi-Szenen -- eine
Problematik, die das NPD-Verbotsverfahren zum Scheitern brachte und
die ich in einem meiner Bücher aufgearbeitet habe. Vom
Verfassungsschutz bezahlte V-Leute machen sich in diesen Szenen
regelmäßig strafbar, werden aber vom Verfassungsschutz gegen
Ermittlungen der Polizei abgeschirmt. All dies ist in einer
Demokratie inakzeptabel.

Würden Sie den Verfassungsschutz abschaffen?

Dr. Gössner: Gute Idee, wäre aber gegenwärtig eine eher
unrealistische Forderung. Praktikabler ist der Weg, den wir in den
90er-Jahren hier in Niedersachsen gegangen sind. Damals war ich
Berater der Fraktion der Grünen im Landtag, die zu der Zeit in
Hannover mitregierten. Ich habe maßgeblich an der Liberalisierung des
hiesigen Verfassungsschutzes mitgearbeitet. Es galt, ihn -- nach
vielen Skandalen -- rechtsstaatlich zu zähmen. Das ist uns gelungen.
Seine Aufgaben und Befugnisse wurden reduziert, sodass er nicht mehr
auf der Gesinnungs-, sondern erst ab einer gewissen
Handlungsintensität tätig werden konnte -- etwa bei
Gewaltorientierung oder bei Verstößen gegen Verfassungsgrundsätze.
Zwar funktionierte die Reform, doch die spätere SPD-Alleinregierung
hat einiges davon zurückgedreht. Eine Auflösung wäre zwar denkbar,
dann bedarf es aber anderer -- nicht geheimer -- Institutionen, die
zum Beispiel Neonazi-Szenen erforschen und darüber aufklären.

Bleiben Sicherheit und Freiheit auf ewig verfeindete Schwestern?

Dr. Gössner: Diesen Widerspruch gibt es, und er wird verschärft,
indem uns -- gerade in Zeiten des Terrors oder auch in
Wahlkampfzeiten -- mit immer neuen Einschränkungen der
Freiheitsrechte mehr Sicherheit versprochen wird. Ob die vielen
Gesetze, die im Laufe der Jahre im Namen der Sicherheit aufgehäuft
wurden -- und von denen einige vom Bundesverfassungsgericht für
verfassungswidrig erklärt werden mussten --, wirklich der Sicherheit
dienen, ist kaum je überprüft worden. Ich denke, etliche der neuen
Antiterrorbefugnisse halten kaum, was sie versprechen. Zwar sind von
Sicherheitsbehörden einzelne Anschläge schon verhindert worden. Die
Frage ist aber, ob dies nicht auch mit klassischen Methoden gelungen
wäre. Die Verschärfung der Sicherheitsinstrumente ist nicht
gleichbedeutend mit der Verbesserung der Sicherheitslage. Die
Bundesrepublik gehört zu den sichersten Staaten der Welt. Allerdings
driften reale Bedrohungslage und Ängste in der Bevölkerung immer
stärker auseinander.

Das Interview führte

Joachim Zießler



Pressekontakt:
Landeszeitung Lüneburg
Werner Kolbe
Telefon: +49 (04131) 740-282
werner.kolbe@landeszeitung.de


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