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Landeszeitung Lüneburg: Landeszeitung Lüneburg: Herkulesaufgabe für die Libyer -- Menschenrechtsexperte Ulrich Delius ist skeptisch, ob Regimewechsel die Lage der Minderheiten verbessert

Geschrieben am 03-03-2011

Lüneburg (ots) - Der Wind der Veränderung fegt durch die arabische
Welt. Die Menschen revolutieren gegen die verkrusteten Regime.
Despoten fallen. Noch hofft Libyens Diktator Gaddafi, das Blatt mit
seinen Prätorianern wenden zu können. Ein Sturz Gaddafis würde die
Lage der Minderheiten wie der Tuareg nicht per se verbessern, meint
Ulrich Delius von der Gesellschaft für bedrohte Völker.

Die arabischen Völker schütteln ihre Herrscher ab. Holt die Region
die Demokratisierungswelle nach, die Osteuropa in den neunziger
Jahren erfasst hatte, oder entsteht etwas Neues?

Ulrich Delius: Wir wissen noch nicht, wohin die Reise geht. In der
Region rufen gerade junge Leute massiv nach Veränderungen,
Perspektiven und einer Beseitigung der korrupten Regime. Die Hoffnung
bei Menschenrechtlern ist natürlich groß, dass es zu einem echten
demokratischen Neuanfang kommt, den diese Staaten bitter nötig haben.
Am Beispiel Libyen: Welche Hindernisse stehen der Gesellschaft für
einen solchen demokratischen Neuanfang im Weg, wenn der Diktator erst
aus dem Weg geräumt ist?

Delius: Libyen ist eine gewaltige Herausforderung. Gaddafi war 42
Jahre an der Macht. 42 Jahre lang hat er alles zerschlagen, was es an
demokratischer Opposition -- überhaupt an Zivilgesellschaft -- gab.
Jetzt muss das in kürzester Zeit nachgeholt werden. Diejenigen, die
Gaddafi und seine Familie verdrängen wollen, müssen das Land in jeder
Beziehung von Grund auf neu strukturieren. Das ist eine
Herkulesaufgabe.

Welchen Nachholbedarf haben die arabischen Staaten auf dem Gebiet
des Minderheitenschutzes?

Delius: Der stand ganz am Ende der Prioritätenliste der Herrscher.
Noch im Januar hatten sich die Wirtschaftsminister der arabischen
Staaten auf einer Konferenz in Ägypten gegen jede Einmischung in die
inneren Angelegenheiten ihrer Staaten verwahrt, nachdem der Papst die
Verfolgung christlicher Kopten in Ägypten gerügt hatte. Eine fatale
Haltung, weil wir in nahezu allen arabischen Staaten beobachten, dass
religiöse wie ethnische Minderheiten massiv unterdrückt werden.

Können Frauen und ethnische Minderheiten in demokratisierten
Staaten automatisch auf Gleichberechtigung hoffen?

Delius: Es kann sein und wäre zu wünschen, dass ein Regimewandel
zu einem besseren Schutz von Minderheiten und Frauen führt --
ausgemacht ist das aber wahrlich nicht. Denn es geht um Macht, es
geht um die Kontrolle wichtiger Rohstoffe und um Profite für einzelne
Gruppen. Nehmen wir das Beispiel Libyen. Dort begehren jetzt die
Tuareg auf, die im äußersten Süden des Landes leben. Dort wird seit
1997 Öl gefördert, wovon die Tuareg nicht profitieren. Im Gegenteil:
Sie leiden unter den ökologischen Folgen der Förderung, verelendeten
wirtschaftlich. Jetzt reklamieren die Tuareg mehr Anteile aus den
Exporterlösen für sich. Das wird auf Widerstand bei den Ethnien im
Norden stoßen.

Haben Libyens Tuareg angesichts der Zersplitterung der
Gesellschaft in 140 Stämme eine Chance?

Delius: Sie hätten eigentlich ein gewichtiges Wort mitzureden,
weil rund ein Drittel des libyschen Erdöls und Erdgases in
Tuareg-Regionen gefördert wird. Doch die Durchsetzung eigener
Ansprüche wird sehr schwer sein, weil sie ein Umdenken in der
arabischen Welt erfordert, um die Anliegen nichtarabischer Völker als
berechtigt anzuerkennen. Die Tuareg sehen sich zusammen mit den
anderen Berber-Gruppen als die eigentlichen Ureinwohner Nordafrikas,
waren schon lange da, bevor die Araber im siebten Jahrhundert die
Region besiedelten. Gaddafi leugnete systematisch die Existenztenz
dieser Ureinwohner, behandelt wurden sie als Bürger zweiter Klasse.

War der Öl-Reichtum für Libyen und die Golf-Emirate ein Fluch,
weil er traditionell-konservative Kräfte stärkte?

Delius: Es ist in jedem Fall ein Fluch, weil nur wenig Geld in den
Ölförderregionen selbst blieb. Weil etwa in den Emiraten viel Geld am
Volk vorbeifloss, wurden die Verteilungskämpfe härter -- etwas, das
auch Libyen droht. Die traditionelle Stammesstruktur Libyens hingegen
hätte sich auch ohne Öl ausgeprägt.

Diktator Gaddafi spielte die Stämme Libyens gegeneinander aus, um
seine Macht zu festigen und Rivalitäten zu bändigen. Droht ohne die
eiserne Klammer der Diktatur ein Bürgerkrieg wie in Afghanistan oder
im Irak?

Delius: Gaddafi hat mit der Herrschaftstechnik des "Teilen und
Herrschens" mit dem Feuer gespielt -- und dies in den letzten Jahren
nicht mehr allzu geschickt. Das Austarieren über Postengeschacher
funktionierte nicht mehr, weil er Ämter am Ende fast nur noch an
Mitglieder seines Clans vergeben hat. Das war mit einer der Gründe,
warum ihm die Unterstützung einer Reihe der rund 30 einflussreichen
Clans in Libyen abhanden gekommen ist.

Die angebliche "Einzigartigkeit der arabischen Kultur" wurde oft
von Despoten bemüht, um Ansprüche von Minderheiten auszusitzen. Wird
sie künftigen Mehrheiten als Argument dienen, um die Minderheit zu
arabisieren?

Delius: Diese Staaten haben bis zu 60 Jahre Arabisierungspolitik
hinter sich. Nach einer so langen Ära wird dies nicht mehr in Frage
gestellt. Ein Beispiel: Ich sprach jüngst mit einem Berber aus
Algerien. Der sagte: "Ich freue mich darüber, dass sich die
Opposition in Algerien vehement bemüht, uns Berber in die
Protestbewegung einzubinden. Aber: Die Araber, die um uns werben,
sprechen mit uns Arabisch -- aber wir dürfen nicht in unserer Sprache
-- auf Kabylisch -- antworten." Sogar innerhalb der Protestbewegung
zeigen sich also die Grenzen der Erneuerung. Es ist noch ein langer
Weg zurückzulegen, bis arabische Gesellschaften anerkennen, dass es
in ihrer Mitte Minderheiten gibt, die Rechte haben sollten. Sei es in
religiöser Hinsicht, dass sich etwa Ägypten säkularisiert -- und der
Islam nicht länger Staatsreligion ist --, was von Kopten, Juden und
Bahai als bedrückend empfunden wird. Sei es in ethnischer Hinsicht,
dass Staaten wie Marokko, Libyen und Algerien einräumen, nicht nur
arabische Nationen zu sein, sondern zum Beispiel auch
Berber-Nationen. In Marokko stellen die Berber sogar die Mehrheit der
Bevölkerung, trotzdem werden sie massiv unterdrückt. Ob die
Bevölkerungen und die Erneuerer in der arabischen Welt fähig sein
werden, diese Herausforderung zu meistern, da bin ich skeptisch. Es
bedarf aber auf jeden Fall eines langen Prozesses.

Gibt es Ansätze, die Vielfalt Arabiens zur Stärke und nicht zum
Problem werden zu lassen?

Delius: Es gibt sehr schöne Ansätze zum Beispiel in Ägypten: Einen
engen Schulterschluss von Muslimen und Angehörigen anderer
Religionen, um die Minderheiten vor Übergriffen von Radikalen zu
schützen. Nehmen wir Tunesien, wo vor wenigen Tagen ein koptischer
Priester ermordet wurde. Als Reaktion demonstrierten Tausende
Muslime. Das sind hoffnungsvolle Zeichen, die überwiegend von jungen
Leuten gesetzt werden.

Neben hoffnungsvollen Zeichen gibt es aber auch bedrohliche. So
kam es in Kairo erst Weihnachten zu einem mörderischen Anschlag auf
die koptische Gemeinde. Auch in Libyen gibt es islamistische
Fundamentalisten, die bisher im Irak und in Afghanistan kämpften.
Könnte deren Rückkehr den Neuanfang des Staates belasten?

Delius: Die Voraussetzungen sind in den Ländern schon sehr
unterschiedlich. In Ägypten kam es auch nach Mubaraks Sturz zu
Terrorakten gegen Kopten. Letzte Woche wurde ein Priester ermordet,
davor ein Jugendlicher. Zu Übergriffen kommt es vor allem in
abgelegenen Regionen, wo die Minderheiten immer noch als Freiwild
gelten. Der Einfluss radikaler Islamisten ist in Ägypten hingegen
gering. Die Anti-Mubarak-Bewegung war eine demokratische. Dort könnte
es in den kommenden Monaten gelingen, auch die Muslimbrüder in ein
halbwegs demokratisches Regierungssystem einzubinden, weil diese
ohnehin nicht so radikal sind wie Islamisten in anderen Ländern.
Libyen ist eine ganz andere Herausforderung, weil es eigentlich keine
organisierte Opposition gibt. Die Demonstranten eint einzig die
Gegnerschaft zu Gaddafi. Ob das als Band auch bei einem Neuanfang
reicht, ist die große Frage. Die Demokraten sind sich der Gefahr
bewusst, dass das Land auseinanderdriften könnte. Übrig blieben dann
drei Regionen. Eine solche "Somalisierung" Libyens ist nicht
auszuschließen. Das Interview führte Joachim Zießler

Mit freundlichen Grüßen

Dietlinde Terjung

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