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Landeszeitung Lüneburg: "Ein tief greifender Mentalitätswandel" / Islamwissenschafter Prof. Dr. Thomas Bauer analysiert Situation in Ägypten und sieht einen Aufbruch in der gesamten arabischen Welt

Geschrieben am 03-02-2011

Lüneburg (ots) - Aufstände in Tunesien und Ägypten,
Demonstrationen in Algerien, "Tag des Zorns" im Jemen -- die
arabische Welt ist in Aufruhr. "Die Zeit der Erstarrung und
Autoritätshörigkeit ist vorbei, in der gesamten arabischen Welt ist
ein tief greifender Mentalitätswandel zu beobachten", sagt Prof. Dr.
Thomas Bauer von der Uni Münster im Gespräch mit unserer Zeitung. Die
politischen Folgen sind schwer abzuschätzen. Aber die Zeit für
Ägyptens Präsident Husni Mubarak ist längst abgelaufen, sagt Prof.
Bauer.

Herr Prof. Dr. Bauer, erwarten Sie nach den blutigen
Straßenkämpfen in Kairo zwischen Gegnern und Anhängern Mubaraks am
Wochenende eine weitere Eskalation etwa, wenn das Militär seine
bisherige Zurückhaltung aufgibt?

Prof. Dr. Thomas Bauer: Ich kann mir nicht vorstellen, dass die
Armee ihre bisher gezeigte Zurückhaltung vollständig aufgeben wird.
Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass ägyptische Soldaten ohne
weiteres dazu zu bringen sind, auf ihre eigenen Landsleute zu
schießen.

Herr Mubarak hatte in seiner Rede immer wieder betont: Chaos oder
Stabilität. Wollte er den Gegnern Angst machen?

Bauer: Er wollte erreichen, dass die Gegner zuhause bleiben und
seine weitere Herrschaft akzeptieren. Viele Beobachter sagen, dass
bisherige Ausschreitungen und Plünderungen bewusst von der Regierung
geschürt worden sind, um in einem Klima der Anarchie die Sehnsucht
nach Ordnung zu wecken.

Glauben Sie, dass sich Mubarak noch bis September im Amt halten
kann?

Bauer: Das kann ich mir nur sehr schwer vorstellen. Zu viele
Menschen haben sich zu engagiert für seinen Rückzug ausgesprochen. Im
anderen unwahrscheinlichen Fall kämen sieben weitere Monate unter
Mubarak einer Agonie gleich, die Ägypten nicht zu wünschen ist.

Wer käme denn als Führer einer Übergangsregierung infrage: El
Baradei oder Amre Mussa?

Bauer: Ich glaube, sie wollen gar nicht das gleiche Amt. El
Baradei möchte Ministerpräsident einer Übergangsregierung werden und
wäre dafür auch ein idealer Kandidat, weil er sowohl für den Westen
akzeptabel ist als auch für die Muslimbrüder. Es ist auch ein
Vorteil, dass er keine charismatische Figur ist, sondern eher der
Diplomat und ehrliche Makler. Dies prädestiniert ihn für das Amt des
Ministerpräsidenten einer Übergangsregierung. Mussa hat sich als
Präsidentschaftskandidat ins Spiel gebracht und hätte meiner Meinung
nach gute Chancen.

Beide sind vom Westen akzeptiert. Wie sieht es mit der
Muslimbrüderschaft aus: Gehen Sie davon aus, dass sie an einer
Regierung beteiligt wird?

Bauer: Im Westen herrscht eine übertriebene Islamisten-Furcht, die
schon groteske Züge annimmt. Schon allein die Bezeichnung Islamist
für alle politischen Kräfte, die sich auf den Islam berufen, ist ganz
unangemessen. Es gibt vielmehr ein breites Spektrum. Das gilt auch
für die Muslimbrüderschaft, die erkennen lassen hat, dass sie daran
interessiert ist, in demokratischen Organen mitzuarbeiten. Die
vielbeschworene Machtergreifung der Islamisten wird in Ägypten ganz
sicher nicht stattfinden. Eine Regierungsbeteiligung der Muslimbrüder
in demokratischen Institutionen ist nicht nur wahrscheinlich, sondern
im höchsten Maße wünschenswert. Denn auch islamisch orientierte
Parteien verändern sich durch die Mitarbeit in der Demokratie. Das
zeigt das Beispiel Türkei. Es wäre zudem eine absurde Situation, wenn
es in islamischen Ländern nicht auch politische Kräfte gäbe, die sich
auf den Islam berufen.

Was hätte die EU in Ägypten tun können oder was hat sie versäumt?

Bauer: Die Unterstützung für die Demokratie schon in Tunesien und
jetzt in Ägypten war viel zu schwach. Auch jetzt ist nur von Sorge
und Befürchtungen die Rede und nirgendwo von Freude. Ich hätte nach
all den Erfahrungen, die man in Europa mit dem Zusammenbruch des
Kommunismus gemacht hat, wesentlich positivere Reaktionen und eine
deutlichere Ermutigung der Opposition erwartet. Schließlich ist
Demokratie ein großer europäischer Wert. Ich frage mich wirklich, ob
die Politiker wollen, dass in zehn Jahren in arabischen Schulbüchern
der Satz steht: Wir Araber mussten uns unsere Demokratie mühsam gegen
den entschiedenen Widerstand des Westens erkämpfen.

Hat auch die einst von Frankreich initiierte Mittelmeerunion
versagt?

Bauer: Auch in den Reihen der Mittelmeerunion hätte entschieden
stärker Stellung bezogen werden müssen.

Die arabischen Länder verbindet, dass der Bevölkerungsanteil der
unter 25-Jährigen bei rund 50 Prozent liegt. Erwarten Sie auch aus
dieser Sicht Dominoeffekte in weiteren arabischen Ländern?

Bauer: In der gesamten arabischen Welt ist ein tief greifender
Mentalitätswandel zu beobachten. Ich sage gerne leicht scherzhaft,
der arabischen Welt fehlte nicht die Aufklärung, die inzwischen
Allgemeingut in der Welt geworden ist, sondern die 68er-Revolte.
Bisher herrschte ein unglaubliches Klima der Erstarrung, eine
Autoritätshörigkeit. Alte Meinungen wurden nie infrage gestellt. Doch
wenn jetzt ein junger Mann auf die Straße geht und zu dem
Staatsoberhaupt, dem Landesvater und Kriegshelden Mubarak ganz
respektlos sagt "Zisch ab!", dann zeigt sich darin ein
Mentalitätswandel, der zu einem Aufbruch in der gesamten arabischen
Welt führt. Was das für politische Folgen in den einzelnen Ländern
haben wird, lässt sich nur schwer vorhersagen.

Welche Rolle würde Syrien spielen, wenn der Dominoeffekt auf
weitere arabische Länder übergreift und Muslimbrüder an den
Regierungen beteiligt werden? Schließlich wurde 1982 in Syrien ein
Aufstand der Muslimbrüder brutal niedergeschlagen, es gab mehr als
10.000 Tote. Ist da noch eine Rechnung offen?

Bauer: Ich würde nicht immer wie ein Kaninchen auf die Schlange
auf Muslimbrüder starren: Eine islamistische Machtübernahme ist in
keinem der Länder zu erwarten. Syrien ist eine schlimme
Unterdrückungsdiktatur. Der Wes"ten betrachtet Syrien als feindliches
Land und müsste wenigs"tens da froh sein, wenn es zu einem Wandel
käme. Bisher scheinen die Unterdrückungsmaßnahmen des syrischen
Regimes noch gut zu funktionieren. Aber auch hier wird der
Mentalitätswandel auf Dauer dazu führen, dass es Veränderungen in
Syrien geben muss.

Welche Rolle haben die neuen Medien bei den Protes"ten in Tunesien
und Ägypten gespielt?

Bauer: Bei der Organisation der Proteste hat das Internet
sicherlich eine größere Rolle gespielt. Aber man darf auch nicht
vergessen, dass die Zahl der Menschen, die dort über einen
Internetanschluss verfügen, geringer ist als bei uns.

Sie haben das Beispiel der Türkei genannt. Dort gibt es aber die
Trennung von Staat und Religion. Die Muslimbrüder sind aber gegen
eine Trennung und für eine Einführung der Scharia.

Bauer: Zum einen: Man kann die Scharia in Gänze nicht einfach
einführen, sondern man müsste einzelne Vorschriften über einen
normalen Gesetzgebungsprozess einführen. Die Wahrscheinlichkeit, dass
in einem der Länder, in denen jetzt protestiert wird, Händeabhacken
als Strafe zur Regel wird, ist gleich null. Die Menschen, die jetzt
protestieren, wollen keinen strengen religiösen Staat. Zum anderen
ist die Scharia schon jetzt Quelle der Gesetzgebung. Unter Mubarak
hat bereits eine Islamisierung stattgefunden, um den Muslimbrüdern
den Wind aus den Segeln zu nehmen. Ich glaube, dass selbst die
Beteiligung der Muslimbrüder an einer Regierung nicht zu einer
radikalen Islamisierung des Landes beitragen würde, sondern deren
Hauptanliegen eher der soziale Bereich ist. Zudem haben viele der
anderen Oppositionsparteien einen säkularen Zuschnitt.

Glauben Sie, dass der von Ihnen angesprochene Mentalitätswandel in
der arabischen Welt zur Lösung des Nahost-Konfliktes beitragen wird?

Bauer: Derzeit ist der sogenannte Friedensprozess vollständig
erstarrt. Dank der Papiere, die Al Dschasira veröffentlicht hat,
wissen wir, dass die Paläs"tinenser vor einem Jahr bereit waren, bis
zur Selbstaufgabe den Israelis entgegenzukommen. Israel hat sich aber
geweigert, sich auch nur ein kleines Stück zu bewegen. Das Einzige,
was sich bewegte, waren die Bagger und Kräne, mit denen man
Siedlungen baut. Diese Situation wird sich aber -- das hat auch die
Bundeskanzlerin betont, als sie von einer Scheinruhe sprach -- nicht
ewig durchhalten lassen. Das kann auch nicht im Interesse Israels
sein. Wenn zum Beispiel eine demokratische Regierung in Ägypten die
Blockade des Gazastreifens infrage stellt, wäre das eine positive
Entwicklung, weil Israel gezwungen wäre, über grundsätzliche Dinge zu
reden und sich seinerseits zu verändern.



Pressekontakt:
Landeszeitung Lüneburg
Werner Kolbe
Telefon: +49 (04131) 740-282
werner.kolbe@landeszeitung.de


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