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Landeszeitung Lüneburg: "Eine klare Risikobewertung fehlt" - Landesärztekammer-Präsidentin Wenker kritisiert Informationspolitik und rät nur Risikopatienten Grippe-Impfung

Geschrieben am 22-10-2009

Lüneburg (ots) - Impfen oder abwarten? Pandemrix oder Celvapan --
welches Serum ist besser. Die geplante Impfkampagne gegen die
Schweinegrippe sorgt zunehmend für Verunsicherung -- bei Bürgern und
bei Ärzten. "Wir kennen weder das Virus noch die Impfstoffe genau",
sagt Dr. Martina Wenker, Präsidentin der Ärztekammer Niedersachsen.
Zurzeit rät sie nur Hochrisikopatienten dringend, sich impfen zu
lassen.

Lassen Sie sich gegen die neue Influenza impfen?

Dr. med. Martina Wenker: Ich habe mich gerade gegen die saisonale
Grippe impfen lassen. Mit der Spritze gegen die neue Grippe warte ich
noch ein paar Wochen. Sobald die Grippe massiv wird, werde ich mich
impfen lassen.

Wovon machen Sie die Entscheidung abhängig?

Wenker: Da ich momentan kerngesund bin und in den nächsten Wochen
nicht im Krankenhaus arbeiten werde, gehöre ich nicht zu einer
Risikogruppe. Ich warte den Verlauf der Grippe ab. Eine Impfung
empfehlen wir derzeit Patienten mit chronischen Vorerkrankungen der
Atemwege, des Herz-Kreislaufsystems, der Leber oder Nieren,
Diabetikern und Übergewichtigen.
Die neue Grippe verläuft im Moment noch harmlos, hat aber durchaus
das Potenzial für schwere Krankheitsverläufe. Aber besonders bei
Menschen mit chronischen Atemwegserkrankungen, vor allem mit schwerem
Asthma oder schwerer Bronchitis, kann es zu Komplikationen kommen,
nämlich zu eine Virus-Lungenentzündung. Die beiden Patienten, die
bisher in Deutschland an dem Virus gestorben sind, sind an genau
dieser Komplikation verstorben. Wir müssen jeweils das Risiko und den
Nutzen abwägen. Hochrisikopatienten würde ich dringend zu einer
Impfung raten.

Mit welchem Mittel lassen Sie sich gegebenenfalls impfen?

Wenker: Mit Pandemrix. Das ist der Impfstoff mit dem
Wirkverstärker, der vom Land zur Verfügung gestellt wird und um den
die Diskussion entbrannt ist. Es ist definitiv kein anderer
verfügbar. Das Mittel Celvapan, das für die Bundeswehr beschafft
worden ist, ist anders, aber nicht besser. Celvapan enthält keine
Wirkverstärker, aber Celvapan ist ein sogenannter Vollzellimpfstoff.
Von diesen Impfstoffen haben wir schon vor 20 Jahren Abstand
genommen. Man setzt inzwischen nur noch Spaltimpfstoffe ein, die nur
noch jene Teile der Erreger enthalten, auf die es ankommt. In den
Vollzellmitteln sind etliche andere Antigene, die gar nicht benötigt
werden. Beide Mittel, Pandemrix und Celvapan, haben auch Nachteile.

Sie beklagen, dass die Debatte über die "Zweiklassen-Impfung" das
Vertrauen in die Immunisierungsaktion untergräbt. Aber auch die
Ärzteschaft ist, was diese Impfung angeht, tief gespalten. Ist es
nicht gerade deshalb besonders wichtig, die Impfung und ihre
Begleitumstände öffentlich zu diskutieren?

Wenker: Wir haben es mit einem neuen Virus zu tun, vom dem keiner
weiß, wie es sich in den nächsten Monaten entwi"ckelt, aber
ungewöhnlich ist, dass sich schon in den Sommermonaten ein Virus
verbreitet hat. Zudem sollen Impfstoffe eingesetzt werden, den wir
auch noch nicht genau kennen. Das erzeugt Unsicherheit bei den
Menschen und bei den Ärzten --- die ja in der Regel ein guter
Ratgeber sein sollen. Und nun kommen aus Berlin immer nur
scheibchenweise Informationen. Das Bundesgesundheitsministerium und
das Paul-Ehrlich-Institut müssen endlich eine klare Risikobewertung
erstellen, damit jeder Einzelne entscheiden kann, ob er sich impfen
lassen will oder nicht. Das kann man niemandem abnehmen.

Was raten Sie schwangeren Frauen und kleinen Kindern?

Wenker: Mit Sicherheit nicht Pandemrix. Das wird auch kein Arzt
tun. Es wird in den nächs"ten Wochen, wahrscheinlich Mitte bis Ende
November, einen Impfstoff für Schwangere und Kleinkinder geben, der
keine Wirkverstärker enthält.

Celvapan? Darüber weiß man doch noch weniger als über Pandemrixu

Wenker: Genau, und deshalb wird es ein ganz anderes Mittel sein.

Warum hat man sich in Deutschland -- anders als etwa in den USA --
für das Mittel mit den umstrittenen Zusätzen entschieden?

Wenker: Schon im Zuge der Diskussion über die Vogelgrippe gab es
ein Musterzulassungsverfahren für Impfstoffe mit Wirkverstärkern,
weil man davon ausgeht, dass im Falle einer Pandemie möglichst
schnell für einen großen Teil der Bevölkerung einen wirksamen
Impfstoffe haben müssen. Der Musterimpfstoff ist also vor Jahren
schon hergestellt und zugelassen worden.
Die Idee war: Wenn die Pandemie dann kommt, muss man das
entsprechende Virus nur noch einbauen und kann das Mittel im
beschleunigten Zulassungsverfahren freigeben. Das Problem ist, dass
dieses Virus nur sehr langsam wächst und die Ausbeute ziemlich gering
ist --- deshalb die Verstärker. Von dem Mittel ohne diese Zusätze
müsste man möglicherweise die vierfache Menge spritzen und hätte
nicht die nötigen Mengen zur Verfügung.
Im Sommer glaubte jeder, der mit leichtem Fieber aus dem Urlaub kam,
er müsse sterben. Inzwischen haben die Menschen mehr Angst vor der
Impfung als vor der Grippe. Ich hoffe, dass in den kommenden Wochen
jeder für sich eine vernünftige Nutzen-Schaden-Bewertung machen kann.

Beim derzeitigen Verlauf ist der Nutzen eher geringu

Wenker: Ja, das stimmt, aber das kann sich schnell ändern, wenn
die Bedrohung wächst, also die Zahl der schweren Fälle zunimmt. Die
Entscheidung --- übrigens in ganz Europa --- für diesen Impfplan war
sicher richtig.

Eine Entscheidung, zu der Experten geraten haben. Die
Antikorruptions-Organisation Transparency International hält aber
eben jenen Kommissionen und Komitees, etwa der Ständigen
Impfkommission beim Robert-Koch-Institut, eine zu große Nähe zur
Pharmaindus"trie vor. Wird die Pandemie -- wie angeblich schon bei
der Vogelgrippe --- aus wirtschaftlichen Interessen herbeigeredet?
Wenker: Herbeigeredet wurde das Virus H1N1 sicher nicht, es ist ja
entstanden. Aber klar ist: Das Paul-Ehrlich-Institut und die
europäische Zulassungsbehörde EMEA müssen unabhängig sein.
Mitarbeiter dieser Behörden dürfen nicht für Pharmakonzerne Vorträge
halten können. Das hat eine fatale Außenwirkung. Wir brauchen
neutrale Wissenschaftler. Das müssen wir jetzt aus dieser Kampagne
lernen.

Angeblich haben die Impfstoffhersteller mit Ministerien und
Ländern Verträge geschlossen, die jegliche Haftung ausschließen. Ist
das üblich?

Wenker: Wenn es sich um eine Impfung handelt, die von der
Ständigen Impfkommission empfohlen wird, haftet die Impfschäden immer
das Land. Das ist bei allen Impfungen so. Über den Standard von
Verträgen des Landes liegen mir keine Erkenntnisse vor.

Gesundheit ist oft sehr teuer, und wo viel Geld verteilt wird,
blüht die Korruption. Hausärzte sollen dafür bezahlt worden sein,
dass sie Patienten an bestimmte Kliniken überwiesen haben. Sind das
Einzelfälle oder gibt es einen regelrechten Patientenhandel?

Wenker: Ein regelrechter Handel ist mir nicht bekannt. Aber es
gibt seit einigen Jahren einen von der Politik gewollten Wettbewerb
im Gesundheitswesen, wir haben die sogenannte integrierte Versorgung
und es gibt deshalb alle möglichen Formen von Kooperationsverträgen.
Im Rahmen dieser Verträge scheint es in einigen Fällen besagte
Zuweiserpauschalen gegeben zu haben.
Ich bin sehr daran interessiert, das ich diese Fälle mit Ross und
Reiter genannt bekomme, damit wir als Kammer mit allen uns zur
Verfügung stehenden Mitteln dagegen vorgehen können. Die Zuweisung
gegen Entgelt ist verboten. Ich wehre mich aber gegen das
Pauschalurteil, dass viele Kliniken Schmiergelder zahlen.

Bundesärztekammer-Präsident Jörg-Dietrich Hoppe sieht die Gefahr,
dass sogenannte Kassenberater Ärzte bedrängen, sich bei ihren
Diagnosen an jenen 80 definierten Krankheiten zu orientieren, für die
die Kassen deutlich mehr Geld aus dem Gesundheitsfonds bekommen.
Teilen Sie seine Sorge?

Wenker: Die Sorge teile ich. Wenn Kassen sich so verhalten, ist
das nicht in Ordnung. Aber auch das ist die Folge gesetzlicher
Regelungen. Mit dem Risikostrukturausgleich wurde der Wettbewerb
verstärkt, aber es sind zum Teil auch fragwürdige Anreizsysteme
geschaffen worden.

Über eine Zweiklassen-Medizin wird nicht erst im Zusammenhang mit
der Impfkampagne gegen die Schweinegrippe diskutiert. Warum muss ein
Kassenpatient ein halbes Jahr auf einen Facharzttermin warten?

Wenker: In einer älter werdenden Gesellschaft steigt der Bedarf an
medizinischer Behandlung und viele Ärzte haben ihre Praxen schon
lange geöffnet. Die Zeiten der großen Versorgungsdichte sind vorbei.
Wir kommen in Niedersachsen in bestimmten Bereichen langsam in eine
Mangelsituation. Wer aber akute Beschwerden hat, wird unverzüglich
behandelt.

Originaltext: Landeszeitung Lüneburg
Digitale Pressemappe: http://www.presseportal.de/pm/65442
Pressemappe via RSS : http://www.presseportal.de/rss/pm_65442.rss2

Pressekontakt:
Landeszeitung Lüneburg
Werner Kolbe
Telefon: +49 (04131) 740-282
werner.kolbe@landeszeitung.de


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