Landeszeitung Lüneburg: Kriminologe Prof. Christian Pfeiffer im Interview zum Amoklauf von Winnenden: "Tims Eltern müssen endlich reden"
Geschrieben am 19-03-2009 |   
 
    Lüneburg (ots) - Erfurt im Jahr 2002, Emsdetten 2006 und nun  Winnenden: Immer wieder ereignen sich blutige Amokläufe an Schulen.  Und es sind stets dieselben Erklärungsmuster. Professor Dr. Christian Pfeiffer, Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts  Niedersachsen, spricht über die Gefahr von Computerspielen, den zu  leichten Zugang zu Waffen, über den Frust von Jugendlichen, der oft  unentdeckt bleibt, und er kritisiert die Eltern von Tim K., die  bisher zu den familiären Hintergründen schweigen.
     Tim K. galt als ganz normaler Jugendlicher. Warum ist er dennoch  zum Mörder geworden? Wer hat versagt? Die Eltern, Lehrer, Mitschüler, die Politik?
     Professor Christian Pfeiffer: Ich denke, dass er nicht normal war  und dass die These der Unauffälligkeit dem Selbstschutz der Lehrer  dient. Wenn man genau hinschaut, kann man feststellen, dass er schon  seine Besonderheiten hatte, dass er relativ isoliert war und auch  nicht überall richtig dabei war. Aber das Problem ist, dass Lehrer  sich rein zeitlich nicht hinreichend um Kindern kümmern können, die  am Rande stehen. Solange Schüler nicht massiv durch Gewaltakte  auffällig werden, sind die Lehrer -- und das ist kein Vorwurf -- eher passiv. Lehrer haben in Deutschland nicht die Spielräume, sich aktiv  beratend einzumischen. Sie sind überlastet mit Bürokratie,  Unterrichtspflichten und organisatorischen Dingen. Dann heißt es, der war unauffällig, obwohl man insgeheim schon mal dachte: Der arme  Junge -- sollte ich vielleicht doch mal ein Gespräch mit ihm  führen... Die Quelle der ohnmächtigen Wut, die Tim K. mit der Tat umgesetzt  hat, liegt ja irgendwo in seinem Leben, nicht in Computerspielen. Wo  und warum die Wut entstanden ist, das wissen wir nicht. Da wäre es  hilfreich, wenn die Eltern reden würden und wenn die Psychologen, bei denen er offenkundig in Behandlung war, reden dürften. Die Eltern  haben bisher nichts sachdienliches beigetragen und sie haben keine  Aussagegenehmigung erteilt. Ich halte es für nicht akzeptabel, dass  der Vater und die Mutter schweigen, dass sie der Öffentlichkeit etwas vorenthalten. Nicht zuletzt die Opfer haben einen Anspruch darauf zu  erfahren, was mit dem Jungen los war. Es ist -- aus der Erfahrung mit anderen Fällen dieser Art -- nicht vorstellbar, das ein geliebtes  Kind, ein heranwachsender Mensch, der im Leben gut verankert ist,  Freunde hat, Anerkennung bekommt, zu Hause jegliche Unterstützung  hat, dass so jemand einen Amoklauf begeht. Der Vater ist ein  Waffennarr. Waffennarren sind Menschen, die Machtbedürfnisse  befriedigen müssen. Waffen bedeuten Macht. Da fragt man sich, wie der Erziehungsstil eines so machtbewussten Menschen ist. Es kann auch  sein, dass Tim K. seinen Vater oder seine Familie für irgend etwas  "bestrafen" wollte. Aber das alles sind hilflose Fragen. Wir wissen  noch zu wenig, um diese Tat erklären zu können. Es muss hier Erklärungen geben. Auch bei dem Täter von Erfurt haben  wir erst viel später erfahren, dass er in der Familie ein Außenseiter war, dass der ältere Bruder ihm den Rang abgelaufen hat.
     Welche Rolle spielen gewaltbetonte Video- und PC-Spiele bei solche Taten?
     Pfeiffer: Computerspiele sind nur ein Verstärkungsfaktor, aber sie erzeugen nicht die Wut, die einen zum Amokläufer macht. Erzeugt wird  sie durch reale Lebensbezüge, durch Verletzungen, negativen  Erfahrungen, ohnmächtige Situationen. Computerspiele sind dann der  Modus, sie können die Wut in bestimmte Bahnen der Umsetzung lenken.
     Warum entlädt sich solche Gewalt immer wieder in Schulen? Ist sie  der Ort der Enttäuschungen schlechthin?
     Pfeiffer: Das hat mit der Altersphase der Amokläufer in der Zeit  zwischen geborgener Kindheit und dem Erwachsensein zu tun. Wenn man  später eingebettet ist in Familie, Beruf, Netzwerke, wenn das Leben  einen stabilisiert -- meistens jedenfalls, kommt man nicht mehr auf  solche Ideen, rastet nicht so aus. Bei Jugendlichen dagegen gehört es definitorisch dazu, dass sie in einer Phase des Übergangs, noch nicht sehr gefestigt sind. Und deshalb ist es nicht überraschend, dass sich Krisen bei jungen Menschen eruptiv entladen -- viel häufiger als bei  Erwachsenen. Solange sie dazu keine Schusswaffen haben, äußert sich  das eher "harmlos", in Sachbeschädigung etwa. Gefährlich wird es,  wenn sie den Zugang zu Waffen haben.
     Warum sind immer junge Männer die Täter?
     Pfeiffer: Weil Frauen wenig Interesse an Gewalt haben. Jungen  fiebern allem entgegen, was visuelle Gewalt ist.
     Gibt es den typischen "Schulhof-Täter"?
     Pfeiffer: Die Merkmale sind immer dieselben. Es sind Außenseiter,  die wenig Erfolg haben, die sich gemobbt fühlen, die keine  Bezugspersonen haben, mit denen sie Krisen besprechen können, die  sich selbst als gescheitert empfinden, als ohnmächtig, und die nach  Macht gieren. Macht verleiht ihnen eine Waffe, und Macht verleiht  ihnen natürlich der Amoklauf, weil sie dann Herr über Leben und Tod  sind und die Panik im Auge des Gegenübers sehen können.
     Lässt sich ein Amoklauf im Vorfeld erkennen?
     Pfeiffer: Wohl nur dann, wenn der Täter vorher Ankündigungen  macht. Sonst nicht.
     Wir müssen uns also eingestehen, dass solche Taten nicht zu  verhindern sind...
     Pfeiffer: Solange es Menschen gibt, wird es immer auch Destruktive geben, die verzweifelt sind und solche Taten begehen. Die komplette  Verhinderung wird kein Politiker versprechen können.
     Sind solche Taten Kurzschlussreaktionen oder langfristig geplant?
     Pfeiffer: Das ist unterschiedlich, es gibt kein klares Muster. Es  gibt Amokläufe am Tag nach der als massiv ungerecht erlebten  Kündigung. Dann "mäht" man den Chef oder Kollegen, die man als  "Schleimer" angesehen hat, nieder. Das sind ganz spontane Taten. Und  es gibt andere, die sind durch stetiges Kleben von Rabattmarken in  einem "Ärgerbüchlein" entstanden, wieder und wieder hat man über  Jahre etwas in sich hineingefressen und irgendwann reicht's.
     Oft beziehen sich Amokläufer auf andere Täter. Bekannt sind zum  Beispiel auch Selbstmordwellen unter Jugendlichen. Wie hoch ist der  Nachahmungseffekt bei Amokläufern?
     Pfeiffer: Sehr hoch. Je intensiver die Berichterstattung, umso  höher.
     Müssen wir also unsere Berichterstattung in solchen Fällen  überdenken?
     Pfeiffer: Nicht Sie. Die Printmedien sind harmlos. Aber das  Fernsehen berichten viel zu intensiv. Das ist doch alles nur noch  Unterhaltungsmache. Das hat mit Aufklärung nichts zu tun. Es ist  absurd, dass polizeiliche Pressekonferenzen live übertragen werden,  dass die Nachbarn rauf und runter befragt werden, dass man über Tage  nichts anderes im Sinne hat, als über einen Amoklauf zu berichten.  Das ist völlig kontraproduktiv und erzeugt negative Helden. Was muss die Politik tun? Das Waffenrecht verschärfen?  Zugangskontrollen an Schulen einführen? Killerspiele verbieten? Oder  schlicht mehr Geld in das Bildungssystem investieren?
     Pfeiffer: Man kann den Zugang zu Waffen noch weiter einschränken,  man kann verhindern, dass Leute zu Hause Waffenarsenale ansammeln. Es ist überhaupt nicht einzusehen, dass ein mittelständischer  Kleinunternehmer, der keinen Beruf ausübt, bei dem er damit rechnen  kann, angegriffen zu werden, solche Waffen in seinem Haus hat. Wenn  er im Schützenverein schießen will, kann er seine Waffen dort  unterbringen. Dafür gibt es Waffenschränke, die nicht geknackt werden können. Ich halte diese Waffenvergabe für risikoreich und  überflüssig. Im Waffenrecht gibt es sicher Möglichkeiten, die nicht  ausgeschöpft werden. Aber der Zugang zu Waffen ist nur die letzte Frage. Schließlich kommt man ja auch illegal an Waffen ran, auch wenn das für Jugendliche  etwas schwierig ist. Die zentralen Punkte sind andere. Da zu vermuten ist, dass bei Tim K. -- wie vorher bei anderen auch -- eine  Hauptquelle der Verunsicherung, der Enttäuschungen und Ärgernisse  auch die Familie ist, in der sich Dinge abgespielt haben, die dem  Jungen nicht die Stabilität vermittelt haben, um in seinem Leben  konstruktiv und erfolgreich zu sein, entzieht sich da noch viel den  aktuellen Erklärungsversuchen und den Präventionsvorschlägen. Was wir machen können ist, nachmittags eine bessere Betreuung in Schulen zu  organisieren, indem die Lehrer die Möglichkeit bekommen, neben aller  Wissensvermittlung ein Programm umzusetzen, das ich "Lust auf Leben  wecken" nennen würde, durch Sport, Musik, Theater, soziales Lernen.  Also eine attraktive Nachmittagsgestaltung, die Kinder davon  abbringt, stundenlang am Computer zu spielen. Das wäre ein sinnvolles Programm, aber nicht um Amokläufe zu verhindern, sondern um  Leistungskrise der Jungen zu beenden und sie insgesamt auf einen  besseren Kurs zu bringen.
  Originaltext:         Landeszeitung Lüneburg Digitale Pressemappe: http://www.presseportal.de/pm/65442 Pressemappe via RSS : http://www.presseportal.de/rss/pm_65442.rss2
  Pressekontakt: Landeszeitung Lüneburg Werner Kolbe Telefon: +49 (04131) 740-282 werner.kolbe@landeszeitung.de
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