(Registrieren)

Landeszeitung Lüneburg: ,,Schmerzhafter Spagat" -- Interview mit dem Russland-Experten Heinrich Schwabecher.

Geschrieben am 13-11-2008

Lüneburg (ots) - Heute findet der jährliche EU-Russland-Gipfel
statt. Die Europäische Union strebt ein neues Partnerschaftsabkommen
mit dem schwierigen Nachbarn im Osten an. Kommende Woche soll in Genf
über die Zukunft Georgiens entschieden werden, dessen Spaltung die
Europäer nicht hinnehmen wollen. Muss sich der Westen vor Russland
wieder fürchten? Heinrich Schwabecher, Russland-Experte der
Konrad-Adenauer-Stiftung, beruhigt und mahnt zugleich: Russlands
Streitkräfte steckten in der Krise, aber ein schwaches Russland sei
für den Westen die größere Gefahr.

Russlands Präsident Medwedew sah in dem Sieg in Georgien den
Beweis, dass die russischen Streitkräfte "die Krise der neunziger
Jahre überwunden" hätten. Ist dem so?
Heinrich Schwabecher: Nein, das stimmt nicht. Was nach innen wie nach
außen als großer Sieg verkauft wurde, hat tatsächlich viele interne
Probleme der russischen Streitkräfte offenbart. Die Armee befindet
sich in einer tiefen Krise, die in der Amtszeit von Präsident Putin
nicht überwunden werden konnte.

Im georgischen Fünftagekrieg kämpften auf russischer Seite --
anders als in Tschetschenien, wo vor allem Wehrpflichtige eingesetzt
wurden -- 70 Prozent Zeitsoldaten. Gelingt dem Kreml die
Professionalisierung der Armee?
Schwabecher: Es war ein zentrales Ziel des Kreml, bis 2008 70 Prozent
der Streitkräfte zur Berufsarmee umzubauen. Allerdings sieht die
Zwischenbilanz eher ernüchternd aus. Weil die geplante Quote längst
nicht erreicht wurde, kämpften auch Wehrdienstleistende in Georgien,
was gesetzlich eigentlich verboten ist. Zudem stieg die
Kriminalitätsrate gerade unter den Zeit- und Berufssoldaten in den
vergangenen Monaten um mehr als 50 Prozent. Und lediglich 17 Prozent
von ihnen wollen ihren Vertrag verlängern. Dies sind keine Indizien
für eine Hebung des Ansehens der Streitkräfte.

Damit verliert die Armee die bestausgebildetsten Soldaten?
Schwabecher: Es ist sehr umstritten, ob die Zeitsoldaten wirklich so
gut ausgebildet sind. Nach Angaben des ,,Komitees der
Soldatenmütter", das seit den neunziger Jahren die Misshandlung von
Wehrpflichtigen anprangert, werden viele Rekruten gezwungen, einen
Vertrag als Zeitsoldat zu unterzeichnen. Indirekt wird dies von
offiziellen Angaben des Verteidigungsministeriums bestätigt, wonach
40 Prozent der Zeitsoldaten ihren Dienst verweigern -- was bei
überzeugten Freiwilligen keinen Sinn machen würde.

Setzt Moskau die Einnahmen aus dem Gas-Export ein, um den Sold der
Soldaten anzuheben?
Schwabecher: Nein, weil die Finanzkrise Russland mit noch größerer
Wucht getroffen hat als die westlichen Staaten. Russlands Reserven
sind geschmolzen. Laut russischen Medien schlugen im Oktober die
Verantwortlichen für den Bau der Trägerrakete Sojus Alarm. Wenn sie
nicht in Wochenfrist Geld aus Moskau bekommen würden, könnten sie die
Raketen, die zur Internationalen Raumstation starten sollen, nicht
fertigstellen. Wenn sogar strategisch wichtige Projekte
unterfinanziert sind, dürfte klar sein, wie wenig bei den Soldaten
ankommt.

Die georgischen T-72-Panzer erwiesen sich den russischen T-72 auf
Grund ihrer moderneren Ausstattung als überlegen. Sind Russlands
Waffensysteme veraltet?
Schwabecher: Über die georgischen und russischen Panzer liegen mir
keine Informationen vor. Dennoch zeigte der Kaukasuskrieg
Schwachstellen der russischen Streitkräfte. Nach meiner Auffassung
ist die Transformation der Streitkräfte unter Putin gescheitert.
Moderne Waffen konnte die Armee nicht einsetzen, die Aufklärung war
mangelhaft, moderne Kommunikationsmittel fehlten überall -- oft
telefonierten die Soldaten mit ihren eigenen Handys. Selbst die
schnelle Mobilisierung von 10000 Soldaten, für die das Militär sich
feiert, erweist sich bei näherem Hinsehen als Mogelpackung.
Tatsächlich wurden bereits im Juli für das Manöver "Kaukasus 2008"
acht- bis zehntausend Soldaten an die georgische Grenze verlegt. Das
Gros davon marschierte dann im August in Georgien ein. Diese Mängel
und nicht die Triumphmeldungen der politischen Elite erklären, warum
Medwedew kurz nach dem Kaukasuskrieg eine umfassende Reform der
Streitkräfte ankündigte.

Macht diese technologische Rückständigkeit die russischen
Streitkräfte zu einem Papiertiger?
Schwabecher: Betrachtet man das nukleare Potenzial, heißt die
Antwort: Nein. Bei jüngsten Manövern im Fernen Osten zeigte sich,
dass die zum Teil aus den achtziger Jahren stammenden Atomraketen
noch einsatzfähig sind. Prompt wurde ihre Einsatzzeit um weitere zehn
Jahre verlängert -- auch wenn ihre Sicherheit zumindest fragwürdig
ist. Die konventionellen Streitkräfte befinden sich dagegen in einem
katastrophalen Zustand. Direkt nach dem Kaukasuskrieg verkündete
Präsident Medwedew die umfassenden Militärreformen. Am 26. September
2008 formulierte er fünf Schwerpunkte des Aufbaus der russischen
Streitkräfte bis 2020: 1. Bei sämtlichen Streitkräften sollte
Einsatzbereitschaft hergestellt werden. 2. Erhöhung der Effektivität
der Führungsebene. 3. Verbesserung der Ausbildung. 4. Verbesserung
der sozialen Lage von Soldaten und Offizieren. 5. Die Umrüstung und
Modernisierung aller Waffensysteme. Zumindest vier der Schwerpunkte
Medwedews haben wir bereits als zentrale Punkte der Militärreformen
2001-2005 gesehen. Offenbar hat sich in den zurückliegenden drei
Jahren nichts verbessert. Dies belegt das Scheitern von Putins
Reform. Im Oktober 2008 stellte Medwedew die zentralen fünf Punkte
seines Reformplanes vor: 1. Die Zahl der Soldaten sollte von 1,2
Millionen auf 1 Million reduziert werden. 2. Der Generalstab sollte
um 20 Prozent schrumpfen von 1100 auf 880 Generäle. 3. Die Zahl der
Offiziere sollte von 300000 bis 2012 auf 150000 halbiert werden. 4.
Die Ebene der Unteroffiziere sollte abgeschafft werden. 5. Statt 61
Militärakademien und Hochschulen sollte es nur noch 10
Wissenschaftszentren geben. Diese Reformen stoßen auf Widerstand
innerhalb der Streitkräfte und lösten großen Unmut in der Generalität
aus. Ob diese Reformen erfolgreich durchgesetzt werden können, darf
aus der Erfahrung der letzten Jahre durchaus angezweifelt werden.

Medwedew kündigte an, den Verteidigungshaushalt um 27 Prozent auf
50 Milliarden Dollar zu erhöhen. Reicht dies, um die Schlagkraft zu
erhöhen?
Schwabecher: Nein, bei weitem nicht. Zwar steigt das Militärbudget
Russlands seit einiger Zeit jährlich um mehrere Prozent. Doch diese
Tatsache darf man nicht überbewerten. So belief sich der Etat des
russischen Verteidigungsministeriums 2008 auf rund 36 Milliarden
US-Dollar. Im selben Zeitraum verfügten die US-Streitkräfte über
Mittel von 650 Milliarden Dollar. Betrachtet man die geopolitische
Lage Russlands, sind dies äußerst wenig Mittel. Im Süden liegen
China, Nordkorea, Afghanistan, Irak und der Iran. Moskau vollführt
einen schmerzhaften Spagat zwischen der Begrenztheit seiner Mittel
und den strategischen Erfordernissen. Nähme man nur die geopolitische
Lage Russlands mit dem immensen Konfliktpotenzial in Zentralasien als
Maßstab, müsste das Land ein Militärbudget in US-Dimensionen haben.
Zwar ist der Anstieg der staatlichen Rüstungsaufträge immens: Während
2001 noch Systeme für 50 Milliarden Rubel geordert wurden, waren es
2008 solche für 800 Milliarden. Im kommenden Jahr will Moskau 1,3
Billionen Rubel für Waffen ausgeben. Doch trotz dieser bedrohlich
wirkenden Ausgabensteigerung misslang Putin die Wende in den
Streitkräften. Kein Wunder, bei einer Inflationsrate zwischen sieben
und elf Prozent, erhöhten Transport- und Energiekosten und der
allgegenwärtigen Korruption.

Vermutlich versickert viel dieser astronomisch wirkenden Summen im
korrupten Militärisch-Industriellen Komplex?
Schwabecher: Genau. Allein zwischen Januar und September 2008 stieg
die Zahl der Korruptionsdelikte innerhalb der Streitkräfte um 35
Prozent. Zwischen Januar und Juni 2008 wurden 22 Milliarden Rubel
verschwendet oder veruntreut. In diesem Zeitraum zählten die
Ermittler 1000 Korruptionsstraftaten, von denen 720 durch Offiziere
begangen wurden. Dies ist das Problem Nummer 1. Hier spielen sich,
vom Wes"ten weitgehend ignoriert, menschliche Tragödien ab: 120000
Offiziersfamilien haben keine Wohnung. Der Sold ist minimal. Unter
diesen Bedingungen gedeiht Korruption.

Erweist sich die weitgehende Entmachtung der Duma als Handicap,
weil damit ein Kontrollinstrument entfällt?
Schwabecher: Über die Frage, ob eine zivile Kontrolle des Militärs
existiert, sind die Experten unterschiedlicher Ansicht. Russen
bejahen eine solche Kontrolle, weil die Duma über die Militärausgaben
entscheidet. Allerdings dürfen die Abgeordneten nur über die
Endsummen abstimmen. Die Verwendung des Geldes, also etwa die
Aufteilung auf Unterhalt, Modernisierung oder Neuanschaffungen liegt
außerhalb ihrer Einflussmöglichkeiten.

Zeigt die Neuauflage des Raketenschachs mit den USA, dass Moskau
nach wie vor im Westen den Hauptgegner sieht?
Schwabecher: Zumindest die Elite sieht in den USA und der NATO
eindeutig den Kontrahenten Nummer 1. Aber hinsichtlich Medwedews
Antwort auf den US-Raketenschutzschild empfehle ich Gelassenheit.
Zunächst mal war das nur ein Vorschlag. Sollte Barack Obama von der
Stationierung der Raketen in Polen und Tschechien abrücken, werden
die Russen höchstwahrscheinlich auch keine Raketen im Kaliningrader
Gebiet aufstellen. Wirklich überraschen konnte der Vorstoß ohnehin
nicht, hatte doch der damalige Verteidigungsminister Iwanow schon vor
einem Jahr eine asymmetrische, billige Antwort auf die
US-Herausforderung angekündigt. Und was ist billiger und effektiver,
als die alten Raketen westlicher zu stationieren?

Kann es sich Moskau erlauben, gegenüber der NATO mit starker
Symbolpolitik aufzutrumpfen, aber den erstarkenden Rivalen China zu
ignorieren?
Schwabecher: Das ist eine sehr gute Frage. Hier fehlt mir das
Verständnis, vor allem angesichts des demographischen Problems. Das
russische Volk schrumpft. Heute leben in Russland rund 142 Millionen
Menschen, 75 Prozent davon im europäischen Teil. 2050 wird es nach
optimistischen Schätzungen lediglich noch 100 Millionen Russen geben.
Das heißt, in Sibirien und dem Fernen Osten stünden nur noch 25
Millionen Russen hunderte Millionen Chinesen gegenüber, deren
Interesse an Russlands Ressourcen wächst. Die Einschätzung im Kreml
ist grotesk: China wird als strategischer Partner betrachtet, obwohl
die westliche Grenze, wo die NATO steht, die sicherste Grenze
Russlands ist. Der Westen darf aber nicht übersehen, dass auch er
unter Russlands Problemen leiden wird. Ein schwaches Russland kann
dem Vordringen des islamistischen Fundamentalismus aus dem Süden
nichts entgegensetzen. Unser Interesse muss also darin liegen, dass
Russland ein starker, demokratischer Staat wird.

Das Interview führte Joachim Zießler

Originaltext: Landeszeitung Lüneburg
Digitale Pressemappe: http://www.presseportal.de/pm/65442
Pressemappe via RSS : http://www.presseportal.de/rss/pm_65442.rss2

Pressekontakt:
Landeszeitung Lüneburg
Werner Kolbe
Telefon: +49 (04131) 740-282
werner.kolbe@landeszeitung.de


Kontaktinformationen:

Leider liegen uns zu diesem Artikel keine separaten Kontaktinformationen gespeichert vor.
Am Ende der Pressemitteilung finden Sie meist die Kontaktdaten des Verfassers.

Neu! Bewerten Sie unsere Artikel in der rechten Navigationsleiste und finden
Sie außerdem den meist aufgerufenen Artikel in dieser Rubrik.

Sie suche nach weiteren Pressenachrichten?
Mehr zu diesem Thema finden Sie auf folgender Übersichtsseite. Desweiteren finden Sie dort auch Nachrichten aus anderen Genres.

http://www.bankkaufmann.com/topics.html

Weitere Informationen erhalten Sie per E-Mail unter der Adresse: info@bankkaufmann.com.

@-symbol Internet Media UG (haftungsbeschränkt)
Schulstr. 18
D-91245 Simmelsdorf

E-Mail: media(at)at-symbol.de

170498

weitere Artikel:
  • Neue Westfälische: Schülerrückgang Bielefeld (ots) - Wen die nackten Zahlen schon erschrecken, den sollten die Prognosen erschüttern, die für die Übergänge von der Grundschule zu den weiterführenden Schulen gegeben werden. So zementiert ist das Bildungssystem in NRW, dass sich für Jens und Jasmina, für Bülent und Burca bereits heute voraussagen lässt, in welche Schulform sie dereinst gehen werden. Es macht keinen Sinn mehr, wenn sich die CDU in NRW weiterhin als Partei des rechten Weges profiliert und damit Zukunft verspielt. Die Kommunen müssen selbst entscheiden können, mehr...

  • Stuttgarter Nachrichten: zu Rezession: Stuttgart (ots) - Gerade in der Krise macht es sich bezahlt, dass viele Firmen im Südwesten in guten Zeiten hart an ihrer Wettbewerbsfähigkeit gearbeitet haben. Gemessen an den großen Fortschritten bei der Produktivität sind die Löhne moderat gestiegen; zudem wird in vielen Branchen heute extrem flexibel gearbeitet. Hinzu kommt, dass die Autohersteller dabei sind, Quantensprünge bei der Energieeffizienz zu erzielen - und selbst mit großen Fahrzeugen immer näher an die Verbrauchswerte kleinerer Autos zu kommen. Deshalb stehen die Chancen mehr...

  • WAZ: Kinderpornografie im Netz - Widerwärtig - Leitartikel von Christoph Meinerz Essen (ots) - Gewerblicher Missbrauch von Kindern zur Befriedigung der Gelüste Pädophiler ist ein widerwärtiges Verbrechen. Seit Einführung von Videotechnik und Internet ist Kinderpornografie ein großer Wachstumsmarkt. Was früher höchstens unter Ladentischen gehandelt werden konnte, wird heute massenhaft übers Web vertrieben. Jeder technische Fortschritt findet auch seine kriminelle Verwendung. Ob Bundes-, Landeskriminalamt, Staatsanwaltschaften oder die Polizeibehörden vor Ort: Auf allen Ebenen werden seit Jahren Spezialisten eingesetzt, mehr...

  • Westdeutsche Zeitung: Hauptschule = von Anja Clemens-Smicek Düsseldorf (ots) - Eindeutiger hätte das Signal der Kultusminister nicht ausfallen können: Die Hauptschule hat in Deutschland keine Zukunft mehr. Wenn die Politik der Ansicht ist, dass Bildungsstandards dort keine Gültigkeit haben, koppelt sie eine ganze Schulform vom allgemeinbildenden Schulwesen ab. Die Hauptschule wird nicht nur den Stempel "Restschule" nie mehr los, sie bekommt sogar noch einen zweiten, ebenso hässlichen aufgedrückt: "Verwahranstalt". Denn nichts anderes ist eine Schule, in der Kindern und Jugendlichen nicht zugetraut mehr...

  • WAZ: Lernstandstests in der Debatte - Aus der Traum von der guten Hauptschule - Leitartikel von Sigrid Krause Essen (ots) - Die Zahlen sind jedes Mal aufs Neue erschreckend. Seit dem Pisa-Schock vom 4. Dezember 2001 wissen wir: Deutschlands Schulen bringen im weltweiten Vergleich extrem viele Bildungsverlierer hervor. Fast jeder vierte 15-Jährige liest und rechnet kaum besser als ein Viertklässler. Seitdem ist auch für jeden, der Statistiken lesen und verstehen will, offenkundig: Hauptschüler - in der Mehrzahl Jungen - bilden den harten Kern dieser Risikogruppe. Junge Männer und Frauen, die im Einstellungstest zum Klempner oder zur Kaufrau mehr...

Mehr zu dem Thema Aktuelle Politiknachrichten

Der meistgelesene Artikel zu dem Thema:

LVZ: Leipziger Volkszeitung zur BND-Affäre

durchschnittliche Punktzahl: 0
Stimmen: 0

Bitte nehmen Sie sich einen Augenblick Zeit, diesen Artikel zu bewerten:

Exzellent
Sehr gut
gut
normal
schlecht