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Landeszeitung Lüneburg: "Ich hoffe, dass London zur Vernunft kommt" Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn: No-Deal-Brexit würde auch dem Kontinent schaden

Geschrieben am 05-09-2019

Lüneburg (ots) - Von Joachim Zießler

Wie sieht ein Europäer aus Luxemburg die Landtagswahlen im Osten -
erleichtert, weil die AfD nicht stärkste Partei wurde oder besorgt,
weil Deutschland nicht länger mehr gegen völkische Gedanken immun
scheint? Jean Asselborn: Die Wähler haben klar Position bezogen. Es
scheint offensichtlich zu sein, dass diejenigen, die unzufrieden
sind, die AfD wählen. Aus Sicht eines europäischen Nachbarn ist das
besorgniserregend. Zum Glück wird es für die AfD vorerst nicht
reichen, um in Regierungsverantwortung zu kommen. Es ist allerdings
nicht so, dass die Tausenden von Wählern der AfD über Nacht Nazis
geworden wären. Die Ursachen für ihren Aufstieg liegen auch in
Versäumnissen Europas bei der Regelung der Migration. Es war ein
kapitaler Fehler des Europäischen Rates, im Juni 2018 zu beschließen,
dass die angewandte Solidarität bei der Verteilung der Flüchtlinge
auf freiwilliger Basis geschehen solle. Als Folge dieser schweren
politischen Sünde funktioniert in diesem Bereich nichts. Erreichen
Boote mit wenigen Dutzend Flüchtlingen Mittelmeerhäfen, sind es im
wesentlichen immer dieselben vier Länder, die die Menschen aufnehmen:
Frankreich, Deutschland, Portugal und Luxemburg. Diese
Freiwilligkeitsregelung ist ein Fehler, für den wir mit dem Bankrott
der Solidarität der europäischen Staaten untereinander bezahlen.
Solidarität gehört in der Prioritätenliste Europas ganz nach oben.
Das Weltbild der AfD widerspricht dem Geist des Grundgesetzes. 80
Jahre nach dem Überfall auf Polen hätte man es in vielen europäischen
Staaten nicht mehr für möglich gehalten, dass ein
nationalistisch-völkisches Denken ausgerechnet in Deutschland wieder
Fuß fasst.

Wahlerfolge rechtspopulistischer bis rechtsradikaler Parteien gibt
es bei den europäischen Nachbarn schon seit langen Jahren. Luxemburg
hat keine rechtspopulistische Partei, mit dem "Wee 2050" aber
durchaus eine solche Bewegung. Gehört ein gewisses Maß an
Fremdenfeindlichkeit zur europäischen Normalität? Luxemburg ist in
der Hinsicht einzigartig, dass 48 Prozent seiner Bürger keine
Luxemburger sind. Die Luxemburger wissen also genau, dass wir ohne
Ausländer, die bei uns arbeiten, kein so freies und wohlhabendes Land
wären. Die Bewegung "Wee 2050" gründet sich auf eine Debatte aus dem
Jahr 2015, als erkannt wurde, dass wir in eine Situation geraten, in
der die Bürger mit Wahlrecht in Luxemburg die Minderheit bilden.
Unser Land hat zwar keinen Nährboden für ausländerfeindliche und
nationalistische Tendenzen, aber in den Online-Foren findet man
dieselben Töne wie auch in Deutschland. Tatsächlich ist
übersteigerter Nationalismus und Fremdenhass nichts Neues in Europa.
Man denke nur an Jean-Marie Le Pen, den langjährigen Chef des Front
National, der ab 1987 immer wieder die Gaskammern der
nationalsozialistischen Vernichtungslager zum "Detail" der Geschichte
herabwürdigte. Ich hätte mir allerdings nicht vorstellen können, dass
sich eine Partei, deren Fraktionsvorsitzender Alexander Gauland
Adolf Hitler als "Vogelschiss" der Geschichte verniedlicht, im
Bundestag etablieren könnten. Den deutschen Demokraten muss klar
sein, welches Befremden so etwas im Ausland auslöst, und sie müssen
gegensteuern. Optimismus ist aber erlaubt. An Matteo Salvini, einem
speziellen Freund von mir, kann man derzeit sehen, wie schnell sich
Demokratiegegner verzocken können. Und er ist nicht der Einzige
derzeit. Der Andere spricht englisch.

Kann Deutschland in Sachen Koalitionskultur von Luxemburg lernen?
Indem der kleinere Koalitionspartner den Regierungschef stellt, wird
der Faktor Macht zugunsten des Faktors Kooperation relativiert. Ja,
das gab es in Luxemburg bereits in den 70er-Jahren. Damals waren die
Sozialisten stärker als die Liberalen, dennoch stellten letztere den
Premierminister. Bei uns dominierte über fast hundert Jahre die
Christlich-Soziale Volkspartei. Seit 2013 regiert eine
Dreierkoalition aus Sozialdemokraten, Liberalen und Grünen. Und das
funktioniert. Allerdings muss dazu der Koalitionsvertrag sehr
gewissenhaft ausgearbeitet werden. Der muss sitzen, sonst driften
Dreierkoalitionen auseinander, die in Deutschland eher unüblich sind,
aber in Zukunft offenbar öfter zwingend werden.

Die Kanzlerschaft Merkel neigt sich dem Ende zu. Für die AfD ist
sie das Feindbild Nummer eins. Wie sehen Sie Frau Merkel? Sie ist
eine Weggefährtin in Europa für mich, denn ich bin ein Jahr länger
als sie in der Regierung - wenn auch nicht als Regierungschef. Es hat
sich in den Jahren ihrer Regierung unheimlich viel verändert und sie
musste große Klippen umschiffen: die Krise um den Verfassungsvertrat
für Europa von 2005, der nach den gescheiterten Referenden in
Frankreich und den Niederlanden geplatzt war; die Finanzkrise; der
syrische Bürgerkrieg; die Eroberung der Krim durch Russland und
natürlich die Flüchtlingskrise. In all der Zeit war Merkel eine
Politikerin, die europäisch gedacht und gehandelt hat. Der Vertrag
von Lissabon beendete die Verfassungskrise, daran hat Berlin einen
großen Anteil. In der Finanz- und Schuldenkrise wurde Griechenland
nicht aus dem Euro geworfen. Und stellen sie sich nur einen
Augenblick vor, 2015 hätte in der Bundesrepublik ein Politiker mit
der Mentalität von Viktor Orbán oder Sebastian Kurz regiert - und das
Land abgeriegelt. So stand eine Frau in der Verantwortung, die
wusste, was die Geschichte in diesem Moment von ihr erwartet. Die
Jahre der Regierungszeit Merkels sind keine, für die Deutschland sich
zu schämen braucht.

Ist Frau von der Leyen eine gute Wahl als Kommissionspräsidentin
oder hätte es einer der Spitzenkandidaten werden sollen, wenn es
schon nicht wieder ein Luxemburger sein konnte? Diese Debatte ist
Geschichte, die starte ich nicht neu. Madame von der Leyen hat die
richtige Rede bei ihrer Bewerbung gehalten. An der wird sie nun aber
auch gemessen. Beim Thema Migration ist aber noch mal wichtig,
festzuhalten, dass nicht die Europäische Kommission versagt hat. Die
Kommission hat bereits 2016 eine Reform des Dublin-Systems
vorgeschlagen. Gemauert und damit versagt haben die Mitgliedsländer.
Das ist nur eines von vielen Problemen, die Madame von der Leyen
nicht mit dem Schwenk eines Zauberstabes wird lösen können.

Sie sagten vorhin, Boris Johnson hätte sich verzockt. Gegenthese:
Sind die britischen Parlamentarier in seine Falle getappt, da er
jetzt mit der Brechstange auf einen No-Deal-Brexit und auf Neuwahlen
zusteuert? Ich finde es großartig, dass auch in Großbritannien die
parlamentarische Demokratie lebt, dass sich das Parlament dagegen
gewehrt hat, an die Seite gedrängt zu werden. Der Versuch, das
Parlament in Zwangsferien zu schicken, hat Boris Johnson in eine
missliche Lage gebracht. Um Neuwahlen ausrufen zu können, braucht er
Zweidrittel der Stimmen, also die Labour-Abgeordneten. Einen
No-Deal-Brexit müssen wir auch aus Sicht des Kontinents verhindern,
weil dieser auch hier Verwerfungen nach sich zieht. Und sollten die
britischen Parlamentarier einen No-Deal per Gesetz ausschließen,
wären wir auf einer Wellenlinie. Dann gäbe es eine einfache Lösung:
Die Annahme des ausgehandelten Austrittsvertrages. Gelingt dies
nicht, dürfte das Mandat wieder an das Volk zurückgegeben werden.

Zeigt das Brexit-Drama, dass einem Populismus nur schwer
beizukommen ist, der Feindbilder statt Lösungen anbietet? Ja. Wenn
Sie sehen, mit welchen Unwahrheiten ein intelligenter Mann wie Boris
Johnson operiert hat, um 2016 das Brexit-Referendum zu gewinnen: Ohne
EU hätte Großbritannien wöchentlich 350 Millionen Pfund für das
Gesundheitssystem über. Eine Lüge. Genauso wie die Behauptung, dass
eine Alternative zur Back-Stop-Regelung für die Grenze zwischen
Irland und Nordirland leicht zu finden sei.. Wäre es so, hätten wir
sie schon.

Bedeutet das Ausscheren der Briten den Anfang vom Ende des
Projektes Europa? Ganz im Gegenteil. Nicht mal die EU-kritischen
mittel- und osteuropäischen Regierungen sind der Auffassung, dass ein
EU-Austritt in ihrem nationalen Interesse wäre. Allerdings reicht das
Lippebekenntnis zur EU nicht. Man muss auch verlangen, dass die
europäischen Standards bei der Rechtsstaatlichkeit, der Solidarität
und sozialen Fortschritten eingehalten werden. Das Problem der
verlorenen Generation gerade in den südeuropäischen Ländern - kein
Job, keine Perspektive - ist so gravierend, dass es nur mithilfe der
Europäischen Union gelöst werden kann.

Wäre ein harter Brexit aus Sicht Festlandseuropas zu begrüßen -
schon allein, damit die Lügen und Illusionen des "Leave"-Lagers
aufgedeckt werden? Man würde aber einen zu teuren Preis dafür zahlen.
Denken Sie nur an die niedersächsische Automobilindustrie, an all die
anderen vielfältigen Verknüpfungen mit dem Inselreich. Deshalb wäre
mir am liebsten, man käme in London wieder zur Vernunft. Das
britische Parlament müsste nicht nur sagen, was es nicht will,
sondern auch, was es will. Und was es wollen müsste, liegt längst auf
dem Tisch. Nach der Annahme des Austrittsvertrages blieben noch zwei
Jahre, um eine saubere Scheidung hinzubekommen, in der die Rechte der
EU-Bürger auf der Insel und der Briten auf dem Kontinent ebenso
geklärt werden wie die finanzielle Entflechtung und vor allem die
Grenzlösung für Nordirland.



Pressekontakt:
Landeszeitung Lüneburg
Werner Kolbe
Telefon: +49 (04131) 740-282
werner.kolbe@landeszeitung.de

Original-Content von: Landeszeitung Lüneburg, übermittelt durch news aktuell


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