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Türkei: ROG kritisiert Verfassungsreferendum ohne Medienvielfalt

Geschrieben am 14-04-2017

Berlin (ots) - Wegen der massiven Einschränkung der Medienfreiheit
in der Türkei zweifelt Reporter ohne Grenzen (ROG) an der Gültigkeit
des bevorstehenden Verfassungsreferendums. Der Wahlkampf hat inmitten
einer Repressionswelle beispiellosen Ausmaßes gegen unabhängige
Medien stattgefunden (http://t1p.de/ievg). Deshalb konnte die von der
Regierung vorgeschlagene, für die politische Zukunft des Landes
entscheidende Reform nur völlig unzureichend öffentlich diskutiert
werden.

Dies wiegt umso schwerer, als etwa Menschenrechtsorganisationen
die geplante Verfassungsreform scharf kritisieren und die
Verfassungsexperten des Europarats vor einem "gefährlichen
Rückschlag" für die Demokratie sowie vor der Entwicklung eines
"Ein-Personen-Regimes" gewarnt haben (http://t1p.de/y3vw).

"Die drastische Beschneidung der Medienvielfalt und der immer
weiter zunehmende Druck auf kritische Journalisten haben die
Freiräume für eine demokratische Auseinandersetzung erheblich
verringert", sagte ROG-Geschäftsführer Christian Mihr. "Wie sollen
die Bürger der Türkei ohne Zugang zu einer umfassenden
Medienberichterstattung und zu einem breiten Meinungsspektrum eine
informierte Entscheidung treffen? Demokratie braucht Medienfreiheit,
und die muss sofort wieder erlaubt werden."

EINSEITIGER WAHLKAMPF

Wahlbeobachter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit
in Europa (OSZE) beobachten den Wahlkampf für das
Verfassungsreferendum seit Anfang März und haben am vergangenen
Wochenende ihren Zwischenbericht vorgelegt (http://t1p.de/381r). Der
Direktor des zuständigen OSZE-Büros für Demokratische Institutionen
und Menschenrechte (ODIHR), Michael Link, kritisierte, es gebe "ein
deutliches Übergewicht der Pro-Bewegung in den AKP-nahen Medien, die
mit großem Abstand die Berichterstattung im Fernsehen und im
Printbereich dominieren" (http://t1p.de/v7ik).

Im Zuge des Ausnahmezustands, der nach dem Putschversuch im
vergangenen Juli ausgerufen wurde, haben Regierung und Justiz die
Medienvielfalt in der Türkei fast völlig ausgelöscht
(http://t1p.de/l7xk). Mehr als 150 Medien wurden wegen vermeintlicher
Zusammenarbeit mit "terroristischen" Organisationen geschlossen.

Einigen von ihnen, darunter den Zeitungen Zaman, Bugün, Millet und
Taraf, wurde eine Zusammenarbeit mit der Bewegung des in den USA
lebenden Predigers Fethullah Gülen vorgeworfen, die nach Darstellung
der Regierung hinter dem Putschversuch stand. Andere wie die
Fernsehsender IMC und Hayatin Sesi wurden der Kooperation mit der
verbotenen kurdischen Untergrundorganisation PKK bezichtigt. Im
Ergebnis sind ganze Teile der Medienlandschaft per Federstrich
ausgelöscht worden. Viele Teile der Gesellschaft sind dadurch ihrer
gewohnten Vielfalt an Nachrichten- und Informationsquellen beraubt
worden.

AUSGEWOGENE BERICHTERSTATTUNG PER DEKRET ABGESCHAFFT

Diese vernichtenden Schläge bilden aber nur den vorläufigen
Höhepunkt eines fortgesetzten Angriffs auf die Medien, der schon vor
rund einem Jahrzehnt begonnen hat. Seitdem wurden führende Medien
entweder vom Staat übernommen oder von regierungsnahen Investoren
aufgekauft. Politische Einflussnahme, Selbstzensur und die Entlassung
kritischer Journalisten sind dabei alltäglich geworden. So haben nach
den Recherchen des ROG-Projekts Media Ownership Monitor
(http://turkey.mom-rsf.org) sieben der zehn Besitzer der
meistgesehenen landesweiten Fernsehsender direkte Verbindungen zu
Präsident Recep Tayyip Erdogan und seiner Regierung
(http://t1p.de/9znz).

Mit einem Dekret, das am 10. Februar in Kraft getreten ist, hat
die Regierung den Artikel des Wahlgesetzes aufgehoben, der Rundfunk
und Fernsehen unter Androhung von Geldstrafen oder einer
Suspendierung verpflichtete, in Wahlkämpfen allen Seiten gleich viel
Sendezeit einzuräumen. Mit der Streichung dieses Artikels hat die
Regierung den letzten Schutz gegen eine offene "Ja"-Kampagne der
regierungstreuen Medien beseitigt. Die Hohe Wahlkommission flankierte
den Schritt, indem sie die einjährige Frist für das Inkrafttreten von
Änderungen am Wahlgesetz für hinfällig erklärte.

STAATLICHE MEDIEN WERBEN FÜR ZUSTIMMUNG ZUM REFERENDUM

Am 27. März reichte ein Vertreter der pro-kurdischen Partei HDP
bei der Rundfunkaufsicht RTÜK eine Beschwerde darüber ein, dass der
staatliche Fernsehsender TRT Haber einseitig berichte. Zwischen dem
1. und dem 22. März habe der Sender 1390 Minuten über Präsident
Erdogan und 2723 Minuten über die Regierungspartei AKP berichtet,
aber nur 216 Minuten über die größte Oppositionspartei CHP und 48
Minuten über die nationalistische MHP. Die HDP sei in diesem Zeitraum
überhaupt nicht in der Berichterstattung von TRT Haber vorgekommen.
Auch Parlamentsabgeordnete der CHP haben Beschwerde gegen TRT Haber
eingelegt.

"NEIN"-WÄHLER WERDEN DÄMONISIERT

Während des ganzen Wahlkampfs herrschte ein Klima der
Einschüchterung gegen Unterstützer eines "Nein" zu den
Verfassungsänderungen, das auch Journalisten und Medien zu spüren
bekamen. So weigerte sich Mitte Februar die Zeitung Hürriyet, ein
Interview mit Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk abzudrucken, in
dem der weltbekannte Autor ankündigte, gegen die Verfassungsreform zu
stimmen.

Wenige Tage zuvor hatte die Dogan-Mediengruppe, zu der auch
Hürriyet gehört, einen bekannten Moderator des Fernsehsenders Kanal D
gefeuert, weil er per Twitter erklärt hatte, warum er mit "Nein"
stimmen wolle. Eine Sendung von Haber Türk nahm Anfang März den
bereits eingeladenen ehemaligen MHP-Parlamentsabgeordneten Yusuf
Halacoglu wieder aus dem Programm, der als Gegner der
Verfassungsreform bekannt ist.

Regierungstreue Medien schrecken auch nicht davor zurück,
Vertreter eines "Nein" zum Referendum zu dämonisieren. Ausgiebig
greifen etwa die Zeitungen Takvim, Aksam, Günes, Sabah, Yeni Akit und
Yeni Safak die heftigen Angriffe der Regierung auf die Opposition
auf. Damit tun sie es Präsident Erdogan gleich, der die Gegner des
Referendums in die Nähe der Putschisten vom vergangenen Juli gerückt
hat.

Auf der Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen
nimmt die Türkei Platz 151 von 180 Ländern ein. Weitere Informationen
zur Lage der Journalisten und Medien dort finden Sie unter
www.reporter-ohne-grenzen.de/türkei.

WEITERFÜHRENDE INFORMATIONEN:

- ROG-Analyse "Fehlende parlamentarische Kontrolle über Dekrete"
(PDF, Englisch): http://t1p.de/o7gc (Januar 2017)
- ROG-Länderbericht zum Ausnahmezustand (PDF, Englisch):
http://t1p.de/770f (September 2016)
- Media Ownership Monitor Türkei (Englisch/Türkisch):
http://turkey.mom-rsf.org



Pressekontakt:
Reporter ohne Grenzen
Ulrike Gruska / Christoph Dreyer / Anne Renzenbrink
presse@reporter-ohne-grenzen.de
www.reporter-ohne-grenzen.de/presse
T: +49 (0)30 609 895 33-55
F: +49 (0)30 202 15 10-29
Wochenendbereitschaft: +49 (0)151-5663 1806

Original-Content von: Reporter ohne Grenzen e.V., übermittelt durch news aktuell


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