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BERLINER MORGENPOST: Leitartikel: Die Koalition des kalten Krieges; Hajo Schumacher nennt neun Gründe, warum das schwarz-rote Bündnis vom falschen Gleis aus startet

Geschrieben am 23-11-2013

Berlin (ots) - Als Volker "Campino" Kauder das Mikrofon ergriff
und "An Tagen wie diesen" anstimmte, da kam es zu einem kleinen, aber
bedeutungsschweren Zwischenfall. Im Moment ihres größten Triumphes
schnappte und entsorgte Angela Merkel ein schwarzrotgoldenes
Fähnchen, das den Weg auf die Bühne zwischen die CDU-Spitzen gefunden
hatte. Die Chefin ahnte offenbar, dass es in den nächsten Wochen
wieder mal nicht um Deutschland, sondern allein um die Macht gehen
würde. So kam es dann auch. Zwei Monate nach dem Wahlsieg erstellen
die mutmaßlichen Koalitionspartner von Union und SPD keinen Plan fürs
Land, sondern Wunschlisten. Aufbruch? Fehlanzeige. Leitplanken?
Abgeschraubt. Zukunft? Egal. Dafür richten Angela Merkel und Sigmar
Gabriel ihre Waffen aufeinander. Neun Gründe, warum diese Große
Koalition vom falschen Gleis startet.

1. Misstrauen

Klingt altmodisch, aber ein wenig Ehrlichkeit wäre hilfreich, wenn
es um 80 Millionen Schicksale geht. Leider drängt sich der Eindruck
auf, dass sowohl die Kanzlerin als auch ihr künftiger Vize nicht
unbedingt bis 2017 auf ihren Posten bleiben werden. Beide eint
gegenseitiges Misstrauen, weil beide eine persönliche Lebensplanung
verfolgen, die einer wünschenswerten Koalitionsstabilität zuwider
läuft. Hartnäckig hält sich das Gerücht, dass Angela Merkel zur Mitte
der Legislaturperiode gen Brüssel strebt, erstens wegen
Geschichtsbuch, zweitens, um sich nicht der Schmach der Abwahl
aussetzen zu müssen wie ihre Vorgänger. Zugleich dürfte Sigmar
Gabriel mit dem - natürlich rein theoretischen - Gedanken spielen,
eines Tages selbst in das würfelförmige Gebäude einzuziehen. Mit der
Öffnung nach Links hat er den Finger am Abzug, hält derzeit aber
still, weil Merkel schlicht zu populär ist. Dass in Hessen nun
überraschend Schwarzgrün funktionieren soll, könnte das
Abschreckungspotenzial der Kanzlerin jedoch schlagartig wieder
erhöhen. Die Linke ist Gabriels SS20, die Öko-Partei Merkels Pershing
- eine Koalition wie Kalter Krieg.

2. Richtlinienkontinenz

Es scheint einen schweigenden Konsens unter Wahlsiegern zu geben,
dass die politische Arbeit mit der ersten Hochrechnung vorerst als
erledigt gilt. Das war 1998 bei Schröder so und 2009 vor
Schwarz-Gelb. Der Wahlkampf war anstrengend genug.
Richtlinienkompetenz ist gerade in jenen Zwischenzeiten ebenso
gefragt wie rar. So ließen sich ganz simple Regeln festlegen, etwa
die, dass für jede neue Ausgabe ein Sparvorschlag unterbreitet werden
muss. Man könnte Vorrang für Investitionen befehlen oder jede Wohltat
für Ministerpräsidenten an eine Entflechtung von
Bund-Länderkompetenzen knüpfen. Stattdessen gibt Horst Seehofer die
Richtung vor, mit seiner Maut-Operette. Warum donnert die in der
Tasche geballte Faust der Kanzlerin nicht einfach mal auf den
Verhandlungstisch?

3. Investitionen

Das Land fährt auf Reserve. Firmen schieben Investitionen trotz
billigsten Geldes auf, deutsche Maschinen werden in aller Welt
installiert, aber nicht daheim. Bürger und Unternehmer horten Geld
anstatt die Binnennachfrage anzukurbeln. Straßen, Netze, Gebäude
müssten dringend modernisiert werden. Ein Masterplan "Neues
Deutschland" würde Jobs schaffen, ein paar gammelige Ecken im Land
verschwinden lassen und den Bürgern das Gefühl geben, dass die da
oben es ernst meinen mit Zukunft.

4. Erwartungs-Management

Ratespiel: Welche exklusive Kernforderung aus dem CDU-Programm
wurde in den Koalitionsverhandlungen durchgesetzt? Hm. Eigentlich
keine. "Die haben gar keine Positionen", stellte ein SPD-Unterhändler
verblüfft fest, "deswegen müssen die auch keine räumen." Als Erfolg
verkauft die Kanzlerinnenpartei das Verhindern, vor allem von
Steuererhöhungen. Die Gegenseite feiert Mindestlohn und Quote und
demnächst wohl noch die doppelte Staatsbürgerschaft. Das Murren in
der CDU schwillt an, zumal im Vergleich zu Schwarzgelb auch noch ein
Ministerposten wegfällt. Wer hatte die Wahl noch mal mit nahezu
absoluter Mehrheit gewonnen?

5. Ritualitis

Warum sitzen fast 100 Politiker um einen Tisch? Erstens fürs Foto
und zweitens für das gute Gefühl des Eingebundenseins. SPD-Chef
Gabriel hätte am liebsten noch jeden Ortsvereinsvorsteher nach Berlin
gebeten, weil Mitmachen gerade im Trend ist. Klar, dass jeder
Teilnehmer beweisen will, dass er auch eine Milliardenforderung
unterzubringen schafft. Wie schwachsinnig aber ist es, zuerst den
Wettbewerb der Wunschzettel zu befeuern, um die 50 aufgetürmten
Milliarden an diesem Wochenende im Kreis der Vorsitzenden wieder
zurückzuverhandeln. Seit Adenauers Zeiten hat die Wissenschaft einige
durchaus vernünftige Kompromisstechniken entwickelt, die dem
Stuhlkreis an Kosten und Resultaten überlegen sind.

6. Regime der Sozialingenieure

Parteiübergreifend wird akzeptiert, dass es einen anhaltenden
Widerspruch gibt zwischen dem Wust von Sozialleistungen einerseits
und ungelösten Problemen andererseits: Deutschland hat zu wenig
Kinder, zugleich wird der Nachwuchs aus prekären Verhältnissen früh
und konsequent abgehängt. Statt aber das Förderdurcheinander zu
entrümpeln und wirkungsvolle Instrumente zu etablieren, wird immer
mehr Geld ausgeschüttet. Wann spricht sich herum, dass Wohltaten
nicht zwangsläufig Gerechtigkeit erhöhen?

7. Selbsterfahrungsgruppe SPD

Die sozialdemokratische Volkspartei ist eine Fiktion. Obgleich
Interessengruppen wie Grüne und Linke längst ausgelagert wurden, hat
die SPD 2013 noch immer keine Linie gefunden. Verfeindete
Mittelmächte beherrschen den Laden. SPD-Chef Gabriel ist machtschlau
genug, um keine große Linie vorzugeben, an die sich eh keiner hielte.
Stattdessen bedient er seine schwer erziehbaren Fürsten mit allerlei
Aufmerksamkeiten. Es geht ja nicht um Europa, sichere Rente,
florierende Wirtschaft, sondern um das Ergebnis der
Mitgliederbefragung. Die muss erkauft und erschmeichelt werden von
disparaten Interessengruppen: Trauerarbeiter, die Oskars Weggang noch
immer beweinen, reichlich Post-Schröder-Traumatisierte und dazwischen
einige Pragmatiker, die still am mangelnden ökonomischen Bewusstsein
der SPD verzweifeln, werden nicht von einer gemeinsamen Idee, sondern
von rückwärtsgewandtem Zwist geeint.

8. Geisel Merkel

Es gehört zu den Absurditäten dieser Verhandlungen, dass die
Zukunft der klaren Wahlsiegerin vom Votum einer emotional verwirrten
SPD-Basis abhängt. Ausgerechnet die Machtfrau, die viel Wert auf
Unabhängigkeit legt, steckt im Würgegriff von Ortsvereinen, die
nichts lieber tun als Merkel-Quälen. Alternativen: Schwarz-Grün?
Rot-Rot-Grün? Neuwahlen? Ach, lieber nicht.

9. Wo bleibt der Präsident? Von John F. Kennedy gibt es eine nette
Zettel-Anekdote: Geschockt von Sputnik und Gagarin soll der
US-Präsident seinem Vize Lyndon B. Johnson 1961 eine Notiz mit Fragen
auf den Schreibtisch gelegt haben: Haben wir im Kampf ums Weltall
eine Chance gegen die Sowjetunion? Welche Technologien sind nötig?
Arbeiten wir täglich 24 Stunden daran? Das Ergebnis war eine
gemeinsame Aufholjagd von Wirtschaft, Wissenschaft, Politik und
Gesellschaft. Am Ende stand Neil Armstrong auf dem Mond und gab
seinem Land Stolz und Zuversicht. Wann legt Joachim Gauck der
Kanzlerin einen Zettel auf den Schreibtisch, gleich neben das Bild
von Katharina der Großen. Textvorschlag: "Liebe Angela, wir gelten
als Land der Dichter und Denker. Lasse doch bitte einen Überblick
erstellen, wo wir bei den Themen Energiewende, Digitalwirtschaft,
Familien- und Bildungspolitik stehen? Wo können wir besser werden?
Was lässt sich sparen? Was kann das Silicon Valley, was wir nicht
können? Arbeiten wir 24 Stunden am Tag daran, hier Weltspitze zu
werden? Wenn nicht, dann bitte damit anfangen. Jetzt."



Pressekontakt:
BERLINER MORGENPOST

Telefon: 030/2591-73650
bmcvd@axelspringer.de


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