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Landeszeitung Lüneburg: Flüchtlingswelle ist nur ein Rinnsal / Kai Weber, Geschäftsführer des Niedersächsischen Flüchtlingsrates: Absurd verengte Zuwanderungsdebatte

Geschrieben am 31-10-2013

Lüneburg (ots) - Weltweit werden die Grenzen dichtgemacht. Ein
Zaun trennt Erste und Dritte Welt zwischen den USA und Mexiko.
Australien vertrat in den 1990er-Jahren - und jetzt auch wieder - die
"Pazifische Lösung", also die Abdrängung von Flüchtlingsbooten auf
hoher See. Kai Weber, Geschäftsführer des Niedersächsischen
Flüchtlingsrates, meint: "Europa macht sich der unterlassenen
Hilfeleistung schuldig, wenn Flüchtlinge im Mittelmeer ertrinken."

Die UNO hat nach Lampedusa die Einwanderungspolitik der EU hart
kritisiert. Fällt der EU nichts anderes ein als die Zugbrücke
hochzuziehen?

Kai Weber: Es sieht so aus. Wir hoffen zwar, dass wir eine
grundsätzliche Änderung erleben dürfen, also eine Politik, die die
Augen nicht schließt, sondern die Not lindert. Aber es ist zu
befürchten, dass die EU sich dazu nicht aufraffen kann. Seit längerem
ist das Mittelmeer eines der bestbewachten Meere der Welt. Kaum eine
Bewegung bleibt unbemerkt. Trotzdem ertranken und verhungerten
Hunderte von Menschen unter den Augen von Frontex. Es gab zwar
Strafverfahren, doch diese verlaufen im Sand, weil sich wegen der
Informationspolitik der Agenten des Grenzregimes die Verantwortlichen
letztendlich nicht identifizieren lassen. Das, was dort passiert,
erfüllt den Straftatbestand der unterlassenen Hilfeleistung.

Wer profitiert von der Abschottung der Grenzen?

Weber: Die EU verfolgt nicht das Ziel, Menschen umzubringen. Die
EU hat ein Interesse daran, die Kontrolle über die Struktur der
Zuwanderung zu behalten. Wir haben zum Beispiel in Deutschland 2012
eine Zuwanderung von 1,08 Millionen Menschen gehabt. Davon waren
77·000 Flüchtlinge. Das heißt, nur 7,1 Prozent der Zuwanderer waren
Asylsuchende. Die Debatte wird allerdings auf eine absurde Weise auf
eben diese Minderheit verengt. Das Gros der Zuwanderer sind ganz
andere Gruppen. Das sind Personen, die aus wirtschaftlichen Gründen
erwünscht sind; das sind Menschen, die im Rahmen des Familiennachzugs
einwandern. Die ungesteuerte Zuwanderung soll begrenzt, ja sogar
bekämpft werden. Hier müssen wir zu einem Umdenken kommen, weil davon
letztendlich nur die Schlepper profitieren. Es liegt auf der Hand,
dass der Schnitt der Flüchtlinge nicht das Maß an Bildung und
beruflichen Fertigkeiten mitbringt, das eine gezielte Auswahl unter
den Zuwanderern erbringen würde. Wir sollten unsere eigenen
wirtschaftlichen Interessen wahren, indem wir die Fähigkeiten auch
der Flüchtlinge frühzeitig fördern, müssen aber gleichzeitig
akzeptieren, dass wir ihnen auch humanitär verpflichtet sind und
manche dauerhaft Hilfe brauchen werden.

Müsste der alternde alte Kontinent nicht ein Interesse am Zuzug
junger, hochmotivierter Menschen haben?

Weber: Sicher. Und das passiert auch massenhaft. So hat
Deutschland 2012 um die 180·000 junge Menschen aus Polen aufgenommen.
Das wurde nicht thematisiert, weil diese Zuwanderer uns nützen. Da
fragt auch niemand, was dieser Abfluss von fähigen Menschen aus der
polnischen Gesellschaft macht. Diese Zuwanderung wird begrüßt und
also geräuschlos organisiert. Die sehr viel weniger Asylsuchenden
werden eigentlich nur deswegen bemerkt, weil es bürokratische Formen
gibt, diese Einwanderung sichtbar zu machen. Hier sind der
Flaschenhals der Erstaufnahmeeinrichtungen zu nennen und Engpässe im
Unterbringungsverfahren, die an neuralgischen Punkten Probleme
entstehen lassen. Man könnte hier vieles erleichtern, wenn man die
Tore ein wenig weiter öffnen würde und die bestehenden Gesetze
liberaler handhaben würde - auch bei der Teilhabe von Flüchtlingen.
Nach wie vor dürfen sie in den ersten vier Jahren nicht oder nur
eingeschränkt arbeiten, erhalten keinen Zugang zu Integrations- und
Sprachkursen. Diese Politik, Flüchtlinge zu isolieren, ist
anachronistisch. Die Kosten einer nachholenden Integration nach
mehrjährigem Aufenthalt sind entsprechend hoch. Ein afghanischer
Arzt, der erst nach fünf Jahren unsere Sprache erlernen darf, wird
nicht umstandslos auf dem Arbeitsmarkt Erfolg haben. Der kann auch
nicht einfach zurückgehen und helfen, sein Land wieder aufzubauen,
wie es so oft gefordert wird. Sowohl die Integration in Deutschland
als auch die Re-Integration im Herkunftsland setzen voraus, dass die
Menschen permanent lernen und nicht aus dem Prozess der Beschäftigung
und des Qualifizierens herausgerissen werden.

Sind Ihre Hoffnungen auf eine Kehrtwende in der Asylpolitik durch
den Regierungswechsel in Niedersachsen erfüllt worden?

Weber: Es hat einige positive, grundsätzliche Veränderungen
gegeben, die wir begrüßen. Aber noch fehlt eine organisierte Politik
des Willkommenheißens und der Integration der Flüchtlinge. Wir
wünschen uns, dass die Kommunen entsprechende Konzepte entwickeln,
wie es sie etwa für Aussiedler auch gibt. Das Land hat die
Pauschalen, die den Kommunen gezahlt werden, zwar erhöht, aber sie
decken die Kosten noch nicht. Allerdings haben die Kommunen die
Chance, in die Menschen zu investieren: Jeder Flüchtling, der seine
beruflichen Fähigkeiten nutzen und entwickeln darf, sich in die
Gesellschaft einbringt und arbeitet, verwandelt sich von einem
Hilfeempfänger zum gewinnbringenden Mitglied der Kommune. Einige
Städte gehen hier voran: Bad Hersfeld etwa. Gute Ansätze für ein
Unterbringungs- und Aufnahmekonzept entwickeln auch Osnabrück und
Hannover. Dazu zählt auch, dass Flüchtlinge aus Sammelunterkünften in
eigene Wohnungen ziehen dürfen. Das würde den Lagerkoller
unterbinden.

Rechtspopulistische Bewegungen profitieren von der verbreiteten
Angst vor einer gewaltigen Flüchtlingswelle. Ist dieses Gefühl
gerechtfertigt?

Weber: Diese Welle ist eigentlich nur ein Rinnsal, gemessen an der
Gesamtzuwanderung. Deutschland ist wie kein anderes europäisches Land
auf Migration angewiesen. Ministerin von der Leyen hat es deshalb
jüngst als "Glücksfall" bezeichnet, dass im Vorjahr 300·000 Menschen
als Migrationsüberschuss in Deutschland geblieben sind. Rund einer
Million Zuwanderern standen 700·000 Auswanderer gegenüber. Noch 2008
hatten wir eine Netto-Abwanderung von Menschen. Flüchtlingspolitik
lässt sich wegen des humanitären Anspruchs nicht in Gänze unter
Migrationsökonomie fassen. Europa sollte etwa denjenigen stärker
helfen, die dem furchtbaren Bürgerkrieg in Syrien entkommen wollen.

Wie verhält sich der Anstieg der Flüchtlingszahlen gegenüber den
Zahlen von Anfang der 90er-Jahre?

Weber: Wir erwarten für dieses Jahr rund 100·000 Flüchtlinge. Auf
dem Höhepunkt 1992 hatten wir 438·000 Flüchtlinge. Es liegt auf der
Hand, dass die Kommunen nicht jahrzehntelang Wohnraum leer stehen
lassen konnten, obwohl sie wissen konnten, dass auch einmal wieder
mehr Flüchtlinge kommen würden. Zudem hatte die alte Landesregierung
signalisiert, alle Flüchtlinge in den landeseigenen Lagern lassen zu
wollen. In der Folge kommt es nun in einigen Städten zu Engpässen,
die nun kurzfristig organisiertes Verwaltungshandeln erfordern, aber
keine grundsätzliche Überforderung darstellen.

Lösen Auffanglager und Einkaufsgutscheine Probleme oder schaffen
sie welche?

Weber: Zig Untersuchungen belegen, dass das Leben im Lager eine
eigenständige Lebensführung verhindert und zu Folgeschäden führt.
Dass Menschen, die widrigsten Umständen trotzten und sich
durchgekämpft haben, todunglücklich sind in Lagern, in denen das
Arbeiten verboten wird und in denen ihnen sogar das Kochen abgenommen
wird, ist klar. Dösen und Warten ist eine Strafe, das dequalifiziert
die Menschen. Die Gutscheine waren seit jeher ein Mittel der
Abschreckung und wir sind froh, dass wir dieses Kapitel so gut wie
beendet haben. Nur Vechta hält noch an den Gutscheinen fest.

Deutschland kann nicht alle Flüchtlinge der Welt schultern. Könnte
es aber mehr Menschen von der Flucht abhalten, indem es in taumelnden
Staaten präventive Sicherheitspolitik betreibt?

Weber: Es wäre schon viel gewonnen, wenn die europäische Außen-
und Wirtschaftspolitik nicht im Ergebnis dazu führt, dass die
Lebensgrundlagen der Menschen in den Herkunftsländern zerstört
werden, wie dies etwa für die industrielle Fischerei in großen
Trawlern vor afrikanischen Küsten nachgewiesen werden kann.
Verschärfend wirken die Wirtschaftsabkommen, mit denen die
Europäische Union (EU) die rohstoffreichen Länder zwingt, ihre
Handelsbedingungen zu liberalisieren und Exportsteuern abzuschaffen.
Eine an der Erhaltung der Subsistenzwirtschaften und Verbesserung der
Lebensbedingungen orientierte Ausgestaltung der
Wirtschaftsbeziehungen zu Ländern, aus denen Flüchtlinge nach Europa
fliehen, wäre insofern langfristig eine sinnvolle Orientierung. Die
Menschen begeben sich auf die Flucht, wenn sie nicht mehr weiter
wissen. Oft bleibt ihnen keine andere Option, und der Bürgerkrieg in
Syrien lässt sich auch nicht kurzfristig beenden. Aber es gibt
Handlungsmöglichkeiten: Wer etwa sieht, wie Roma in Serbien leben,
ohne Bildung, in Slums ohne fließendes Wasser, ohne Heizung, der kann
ihnen keinen Missbrauch vorwerfen, wenn sie hierher kommen. Natürlich
muss man hier Perspektiven zur Teilhabe in der serbischen
Gesellschaft eröffnen. Dies erfordert auch eine kulturelle
Sensibilität im Umgang mit Menschen, die seit Jahrhunderten darin
erprobt sind, sich in der Randständigkeit einzurichten. Um hier etwas
bewirken zu können, bedarf es einer langfristigen Perspektive.

Gibt es die Einwanderung in das deutsche Sozialsystem insbesondere
vom Balkan?

Weber: Das ist von Innenminister Friedrich eine böswillige
Formulierung des richtigen Sachverhalts, dass Menschen Angst haben,
zu erfrieren, dass sich nicht wissen, wovon sie ihre Kinder ernähren
sollen. Auch die meisten Roma wollen arbeiten. Und wenn sie es
könnten, würden sie es tun. So haben wir unter den Gastarbeitern aus
dem ehemaligen Jugoslawien eine Vielzahl von Roma, die sich längst
eingefügt haben.

Europa war Jahrhunderte lang ein Kontinent, der Flüchtlinge
exportierte. Hat die Wohlstandsinsel vergessen, dass Europäer einst
überall Zuflucht fanden?

Weber: Die Erinnerung an Deutschland als Auswanderungsland lebt
nicht mehr. Was aber noch virulent ist bei vielen Menschen, ist die
Erfahrung der Vertreibung. Mindestens in jeder dritten Familie gibt
es Menschen, die aus den deutschen Ostgebieten stammen. Sie haben die
Erfahrung von feindseliger Ablehnung, Missgunst, Aggressivität bis
hin zu Rassismus am eigenen Leibe erfahren. Viele von denen
identifizieren sich heute mit den Betroffenen, haben deshalb Mitleid.
Andere ziehen die Grenze umso strikter. Nach dem Motto: Wir gehören
jetzt dazu und wollen mit den Neuen nicht verwechselt werden.
Ähnliches erleben wir auch bei Migrantenfamilien, die ihren mühsam
erarbeiteten Status durch die Asylbewerber gefährdet wähnen. Hier der
eigenen Verantwortung gerecht zu werden, verlangt, sich der eigenen
Geschichte bewusst zu sein.

Das Interview führte Joachim Zießler



Pressekontakt:
Landeszeitung Lüneburg
Werner Kolbe
Telefon: +49 (04131) 740-282
werner.kolbe@landeszeitung.de


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