(Registrieren)

Westfalen-Blatt: Das WESTFALEN-BLATT (Bielefeld) zur Türkei

Geschrieben am 04-06-2013

Bielefeld (ots) - Am vorletzten Wochenende sah alles noch nach
einem Happening aus. Vor einer U-Bahn-Station in Ankara hatten sich
300 junge Leute zum öffentlichen Küssen verabredet. Aber bevor der
Protest gegen, wie sie fanden, nervende Moralappelle begann, gab es
schon Schläge. Erst von den Sittenwächtern der Regierungspartei AKP,
dann von der vorgewarnten Polizei. Die landesweite Erhebung
liberaler, meist politisch ungebundener Bürger der formal
laizistischen Republik Türkei sieben Tage später ist der
Kulminations-punkt seit langem schwelender Ängste vor einer immer
deutlicher spürbaren Islamisierung. Die Aktivisten vom Gezi-Park in
Istanbul, das Bildungsbürgertum aller großen Städte, selbst die
Auslandstürken in Bielefeld und Paderborn treibt es in diesen Tagen
auf die Straße. Sie wollen den Staat nicht weiter in das Privatleben
seiner Bürger reinregieren lassen. Ob Selbstzensur eingeschüchterter
Medien, U-Bahn-Durchsagen »sich der Moral entsprechend zu verhalten«
oder Alkoholverbote: Alle spüren, die Knute des Kalifen kommt näher.
Aus gegenseitig geübter Toleranz ist die Vormacht der Religiösen über
die weltoffenen Milieus geworden. Anders als im scheiternden
Arabischen Frühling geht es bei den Nacht für Nacht anhaltenden
Auseinandersetzungen mit der Polizei zwar nicht gegen einen korrupten
Autokraten. Aber Ministerpräsident Recep Tayyip Er-dogan geriert sich
derzeit als ein nicht weniger selbstgerechter Pharao beziehungsweise
Sultan. Mit wüsten Beschimpfungen der Demonstranten als Banditen und
Agenten hat Erdogan zusätzlich Öl ins Feuer gegossen. Weder die
Entschuldigung seines Stellvertreters noch die Kritik von
Staatspräsident Abdullah Gül können kitten, was der Ministerpräsident
vor seiner kalt lächelnden Abreise nach Marokko am Montag an
Porzellan zerschlagen hat. Der Einbruch der türkischen Börse, die
Schwäche der Lira und der Streikaufruf im öffentlichen Dienst sollten
zeigen, was auf dem Spiel steht. Ob sich Erdogan davon beeindrucken
lässt, bleibt abzuwarten. Er setzt darauf, dass er seinem Land einen
beispiellosen Aufschwung gebracht hat. Zudem stützt er sich auf eine
legitime absolute Mehrheit im Parlament. Dennoch muss Erdogan endlich
Maß und Mitte finden. Freie Geister wie der große Pianist Fazil Say
wissen, dass ihr gesellschaftlicher Einfluss gering bleiben wird.
Viele Fortschrittliche denken über Emigration nach - ein Weg, den
Teile des Volkes schon immer gewählt haben. Auslandsgemeinden wie
Berlin-Kreuzberg zeugen weltweit von dieser Absetzbewegung wahlweise
aus wirtschaftlichen, sozialen oder auch politischen Erwägungen. Auch
diesmal steht zu befürchten, dass ein Sultan siegt und die anderen
kuschen oder kaltgestellt werden.



Pressekontakt:
Westfalen-Blatt
Nachrichtenleiter
Andreas Kolesch
Telefon: 0521 - 585261


Kontaktinformationen:

Leider liegen uns zu diesem Artikel keine separaten Kontaktinformationen gespeichert vor.
Am Ende der Pressemitteilung finden Sie meist die Kontaktdaten des Verfassers.

Neu! Bewerten Sie unsere Artikel in der rechten Navigationsleiste und finden
Sie außerdem den meist aufgerufenen Artikel in dieser Rubrik.

Sie suche nach weiteren Pressenachrichten?
Mehr zu diesem Thema finden Sie auf folgender Übersichtsseite. Desweiteren finden Sie dort auch Nachrichten aus anderen Genres.

http://www.bankkaufmann.com/topics.html

Weitere Informationen erhalten Sie per E-Mail unter der Adresse: info@bankkaufmann.com.

@-symbol Internet Media UG (haftungsbeschränkt)
Schulstr. 18
D-91245 Simmelsdorf

E-Mail: media(at)at-symbol.de

467603

weitere Artikel:
  • Neue Westfälische (Bielefeld): Kommentar: Russland will Fluggastdaten Patentes Druckmittel KNUT PRIES, BRÜSSEL Bielefeld (ots) - Es ist einigermaßen dreist, was Russland alles über Reisende zu wissen wünscht, die in zehn Kilometer Höhe eine Weile durch den Luftraum des Riesenstaates fliegen, und vor allem, wie es diesen Anspruch erhebt. Das zuständige Ministerium macht einen Erlass, und dann sollen die Airlines gefälligst spuren. Als ob man in Moskau nicht wüsste, dass die Fluggesellschaften die Informationen gar nicht liefern können, weil es dafür derzeit keine Rechtsgrundlage gibt. Natürlich weiß man das sehr wohl. Was also soll das? Es markiert mehr...

  • Neue Westfälische (Bielefeld): Kommentar: Haftstrafen gegen Mitarbeiter der Adenauer-Stiftung Schaden für Ägypten BERNHARD HÄNEL Bielefeld (ots) - Arabischer Frühling? Das war einmal. In den Staaten der arabischen Revolutionen herrscht politische Eiszeit. Die Hoffnungen der Revolutionäre von Tunesien über Libyen und Ägypten bis nach Bahrain wurden bitter enttäuscht. Dank ausländischen Geldes von Saudi-Arabien und anderen Golfstaaten siegten Fundamentalisten, denen die Träume der vornehmlich jungen Demonstranten vom Tahrirplatz fremd waren und blieben. Nur so lässt sich das Urteil gegen Mitarbeiter der Konrad-Adenauer-Stiftung und anderer ausländischer Organisationen mehr...

  • Neue Westfälische (Bielefeld): Kommentar: Merkel besucht Hochwassergebiete Die Chefkümmerin ALEXANDRA JACOBSON, BERLIN Bielefeld (ots) - Es ist für die Regierenden wieder Zeit, das wasserfeste Schuhwerk aus dem Schrank zu holen. Wie SPD-Kanzler Gerhard Schröder im Jahr 2002 hat auch Angela Merkel nicht lange gezögert und ist in die Hochwassergebiete gefahren, um Mitgefühl zu zeigen und Geld zu versprechen. Die Lektion von 2002 war eindeutig: Weil Unions-Kanzlerkandidat Edmund Stoiber zauderte und seinen Sommerurlaub auf Juist nicht abbrechen wollte, geriet er ins Hintertreffen. Auch deshalb landete die SPD bei der Bundestagswahl 2002 knapp vor der mehr...

  • Neue OZ: Kommentar zu Verteidigung/Bundeswehr/Rüstungsindustrie Osnabrück (ots) - In der Zwickmühle Mit Spannung wird seit Tagen der heutige Auftritt von Thomas de Maizière im Bundestag erwartet. Der Verteidigungsminister steht gewaltig unter Druck. Es ist nur schwer vorstellbar, dass dem nüchternen und besonnenen Ressortchef ein Befreiungsschlag gelingt und dann die Debatte über den Umgang mit der Aufklärungsdrohne Euro Hawk abrupt endet. Fest steht, dass sich die Versäumnisse nicht allein an seiner Person festmachen lassen. Schließlich waren an dem Großprojekt nicht weniger als drei mehr...

  • Neue OZ: Kommentar zu Wetter/Hochwasser/Deutschland Osnabrück (ots) - Mehr als Katastrophentourismus Das Wasser geht, die Politiker kommen: Eine wahre Flut von Regierungsvertretern hat sich in den vergangenen Tagen ein Bild von den verheerenden Auswirkungen des Hochwassers gemacht. Gestern der Höhepunkt mit der Rundreise von Kanzlerin Angela Merkel. Politischer Katastrophentourismus im Wahljahr oder Pflichtaufgabe eines Regierungschefs? Seit der Bundestagswahl 2002 ist die Antwort eindeutig. Damals nämlich gewann Gerhard Schröder die Wahl nicht etwa deswegen, weil er in mehr...

Mehr zu dem Thema Aktuelle Politiknachrichten

Der meistgelesene Artikel zu dem Thema:

LVZ: Leipziger Volkszeitung zur BND-Affäre

durchschnittliche Punktzahl: 0
Stimmen: 0

Bitte nehmen Sie sich einen Augenblick Zeit, diesen Artikel zu bewerten:

Exzellent
Sehr gut
gut
normal
schlecht