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Landeszeitung Lüneburg: ,,Die Tür zur Freiheit muss von innen geöffnet werden": Interview mit dem Ex-Schachweltmeister und Putin-Gegner Garri Kasparow

Geschrieben am 27-09-2012

Lüneburg (ots) - Er wurde mit 22 Jahren der jüngste
Schachweltmeister aller Zeiten -- nicht zuletzt wegen seiner
unbändigen Angriffslust am Brett: Garri Kasparow. Der heute
49-Jährige attackiert nun schon seit Jahren seinen wohl mächtigsten
Gegner: Wladimir Putin. Ein Kampf mit ungleichen Waffen. Beim
jüngsten Protest gegen die Haftstrafe für die Punkband Pussy Riot
wurde Kasparow verhaftet. Im Kreml regiert Paranoia, sagt er. Das
System Putin -- für das Schachgenie ein Mix aus Feudalismus und Mafia
-- will er durch ein demokratisches System nach deutschem Vorbild
ersetzen.

Wer das System Putin herausfordert, landet schnell hinter Gitter.
Treten Sie gegen einen Gegner an, der über drei Damen verfügt?

Garri Kasparow: Es könnte sogar noch schlimmer sein. Denn egal, ob
eine Dame oder drei Damen -- im Schach bleiben zumindest die Regeln
bestehen. Aber in der russischen Politik trete ich gegen jemanden an,
der die Regeln ständig verändert. Das heißt, dass die Analogie
einfach hinkt. Weil wir im Schach feste Regeln und offene Ergebnisse
haben. In Russland ist es umgekehrt: Das Ergebnis steht fest, die
Regeln ändern sich ständig. Daher sollte diese Auseinandersetzung im
Westen nicht als meine politische Schachpartie begriffen werden, bei
der ich auf Sieg spiele. Es ist vielmehr eine moralische Pflicht, die
man erfüllen muss, wenn man in seinem Land leben will.

Ihnen drohen bis zu fünf Jahren Haft, weil Sie einen Polizisten
gebissen haben sollen. Wie können Sie sich verteidigen?

Kasparow: Dank meines Bekanntheitsgrades ist jede Sekunde dieser
Festnahme von unterschiedlichen Blickwinkeln aus gefilmt worden.
Dabei wird absolut klar, dass die Gewalt ausschließlich von den
Polizis"ten ausging. Inzwischen versucht man bereits, diesen
angeblichen Biss herunterzuspielen. Aber ich werde meinerseits die
Polizeioffiziere wegen illegaler Festnahme, Gewalt und Verleumdung
anzeigen. Nicht, dass ich erwarten würde, damit irgendeinen Erfolg
erzielen zu können, aber ich will ein Zeichen setzen. Hat den Kreml
die Wucht der Kritik am Pussy Riot-Urteil sowohl in Russland als auch
im Westen überrascht? Kasparow: Absolut. Putin war regelrecht
geschockt, sieht er die Welt doch ausschließlich durch seine eigenen
Augen. Wenn irgendetwas passiert, das ihn stört, vermutet er dahinter
eine Verschwörung. Bringt etwa CNN einen kritischen Bericht über
Putin, glaubt er, dass ein Anruf von Hillary Clinton dies bewirkt
hat. Die Kritik am Pussy-Riot-Urteil löste daher einen Schock aus,
weil der Kreml keine Idee hatte, wer in dieser Sache gegen ihn
konspirieren könnte.

Grassiert im Kreml eine Paranoia wie zu Stalins Zeiten?

Kasparow: Sie haben das richtige Wort benutzt: Paranoia. Das
betrifft aber eher Putin als seine Umgebung. Putin hat jeden Sinn für
das Leben um ihn herum verloren. Man kann zwar gewisse Pa"rallelen
zur Stalin-Zeit ziehen, muss dabei aber vorsichtig sein: Stalin
regierte in einer Ära echter Konflikte. Seine Paranoia wurde geschürt
durch wirkliche Bedrohungen für die Sowjetunion. Heute ist dagegen
die Elite hinter Putin voll integriert in die Welt außerhalb
Russlands. Ihre Kinder gehen auf westliche Schulen, ihr Geld liegt
auf westlichen Banken. Wenn es heute eine nennenswerte Bedrohung
Russlands gibt, kommt sie nicht aus dem Westen, sondern aus dem Osten
durch Chinas Aufstieg und aus dem Süden, wo der radikale Islam
Anhänger gewinnt. Also spiegelt die gesamte antiamerikanische
Propaganda Moskaus eigentlich Putins Verfolgungswahn wider.

Das Versammlungsrecht wurde eingeschränkt. Wer Geld aus dem
Ausland erhält, gilt als Agent. Ist Russland auf dem Weg zur
Tyrannei?

Kasparow: Hier muss man wieder vorsichtig sein. Putins Regime
lässt sich nicht eins zu eins mit den klassischen Diktaturen
gleichsetzen. Putins Sys"tem ist eher ein Mix aus Feudalismus und
Mafia. Und in der Mafia gibt es eine Hauptregel: Du musst loyal sein
gegenüber dem Paten. Zeigst du dich loyal, hast du freie Hand für
jegliche Verbrechen. Der größte Unterschied zwischen Putins Regime
und denen von Hitler, Stalin oder Mao ist, dass die klassischen
Diktatoren ihre Eliten ausgelöscht haben. Sie nutzten den frei
werdenden Platz, um eine Art sozialen Fahrstuhl in Gang zu setzen und
eine neue, auf den Diktator eingeschworene Elite in die Ämter zu
bringen. Putins Hauptproblem ist, dass man in einer Oligarchie die
Elite nicht einfach auslöschen kann. Zudem ist Putins Elite zu sehr
in der Welt vernetzt. Das, was wir nun sehen, ist eine potenzielle
Verschiebung in Richtung einer klassischen Diktatur. Putin versucht,
eine Art Wagenburgmentalität durchzusetzen: Russland rückt unter
einer vermeintlichen Belagerung zusammen. Aber in diesem Punkt kommt
Putin in Konflikt mit der Bürokratie, die immer Basis seiner Macht
gewesen ist.

Stichwort Konflikt: Spielten Medwedew und Putin nur good guy gegen
bad guy oder sind sie wirklich uneins darüber, ob Russland reformiert
werden muss?

Kasparow: Ich bin überrascht, dass sie nach so vielen tiefsinnigen
Fragen jetzt nach etwas von größter Unwichtigkeit fragen. Denn das
Verhältnis von Putin und Medwedew ist das zwischen einem Mann und
seinem Schatten. Medwedew war nur Teil des Projektes von Putin, die
Illusion zu erzeugen, dass es zu einem Wandel in Russland kommt.

Widerlegen die Zehntausenden, die in Russland auf der Straße
protestieren, das Bild vom allzu duldsamen russischen Volk? Kasparow:
Ich glaube nicht, dass wir die Wurzeln von Diktaturen in der Genetik
suchen müssen. Die Betonung der "russischen Seele" ist ein populärer
Versuch, die Erfolgsaussichten einer Demokratisierung Russlands
herunterzuspielen. Wir haben genug Beispiele in der Welt, die die
Theorie vorgeblicher Nationalcharaktere widerlegen. Beginnend mit
Deutschland, das zwei Diktaturen hinter sich ließ und zu einer
Demokratie wurde. Noch beeindruckender für mich ist aber das
koreanische Beispiel: Betrachtet man Nordkorea, denkt man, dass alle
Koreaner dazu verurteilt sind, Sklaven zu sein. Wenige Kilometer
südlich wird man durch Südkorea widerlegt, wo das selbe Volk eine
sehr erfolgreiche Demokratie geschaffen hat. Das Gleiche gilt für
China und Taiwan. Bei den Demonstrationen gegen Putin stehen
Kommunis"ten, Nationalisten, Liberale und Anarchisten zusammen. Kann
eine derart gespaltene Opposition Putin gefährden? Kasparow: Der
gemeinsame Nenner der Opposition ist nicht nur, gegen Putin zu sein.
In der Opposition gibt es vielmehr ein gemeinsames Verständnis
da"rüber, dass Russland den politischen Wandel braucht. Und dieser
Wandel schließt ein, dass sich die Regierung vor dem Volk
verantworten muss. Einig ist sich die Opposition ebenfalls darüber,
dass die extrem starke Machtposition des russischen Präsidenten gegen
die Interessen des russischen Volkes gerichtet ist. Falls ein frei
gewähltes Parlament die Zukunft Russlands bestimmen kann, wird die
Struktur so aussehen, dass es neben einem starken Parlament einen
schwachen Präsidenten geben wird -- ähnlich wie in Deutschland oder
Polen. Findet Europa als wichtiger Handelspartner in Russland noch
Gehör oder muss Europa schweigen, um Gas geliefert zu bekommen?

Kasparow: Es gibt keinen Zweifel darüber, dass Europa mit Russland
klar kommen muss -- egal, wer im Kreml regiert. Das Problem ist
nicht, dass Europa mit Russland normale Handelsbeziehungen unterhält
-- wobei China als Handelspartner längst Russland den Rang abgelaufen
hat. Das Problem ist nicht, dass Europa bisweilen schweigt oder
indifferent agiert. Das Problem ist, dass europäische Politiker über
Jahre Putin unterstützt haben und ihn mit demokratischen Weihen
versahen. In diesem Land kennen Sie die Person -- und Sie lächeln
bereits --, die noch heute für Putin arbeitet und dessen Botschaft in
der Welt verbreitet. Ich glaube, der richtige Weg für Europa ist,
keine unterschiedlichen Maßstäbe anzulegen. Wenn Putin agiert wie der
weißrussische Diktator Lukaschenko, muss dies gesagt werden. Europa
ist ein wichtiger Partner Russlands, ist zugleich abhängig von
Russlands Gas. Aber ebenso ist Putin abhängig davon, dass Europa ihm
das Gas abkauft. Letztlich gilt aber das russische Sprichwort: Die
Tür zur Freiheit kann nur von innen aufgemacht werden.

Das Interview führte Joachim Zießler



Pressekontakt:
Landeszeitung Lüneburg
Werner Kolbe
Telefon: +49 (04131) 740-282
werner.kolbe@landeszeitung.de


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