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Landeszeitung Lüneburg: Mehr als nur eine Wahrheit in Syrien/ Orient-Experte Professor Meyer kritisiert Verurteilung des Assad-Regimes im vom Ausland geschürten Bürgerkrieg

Geschrieben am 12-07-2012

Lüneburg (ots) - Der oppositionelle Syrische Nationalrat vertrat
in Moskau die Position, in Syrien laufe eine Revolution ab; der Kreml
hingegen erkennt nur Interessengegensätze. Wer hat recht?

Prof. Dr. Günter Meyer: Beide, da es auf die Perspektive ankommt,
die man einnimmt. Ursprünglich gab es in Syrien einen friedlichen
Protest, der vom Regime mit brutaler Gewalt niedergeschlagen wurde.
Inzwischen eskaliert die Gewalt in einen innersyrischen Bürgerkrieg,
der vom Ausland angeheizt wird. Auf der einen Seite steht ein Regime,
das mit seinen übermächtigen Streitkräften und seinem Geheimdienst um
die Machterhaltung kämpft. Und dabei nach wie vor von einem sehr
großen Teil der Bevölkerung unterstützt wird. Auf der anderen Seite
finden wir ein breites Spektrum der Gegner Assads, das von gemäßigten
Oppositionellen über Deserteure der syrischen Streitkräfte bis hin zu
kriminellen Banden und islamistischen Terroristen reicht. Diese
Aufständischen sind heillos zerstritten, werden aber aus dem Ausland
massiv mit Waffen, Geld und durch militärische Ausbildung
unterstützt.

Erlebt Syrien den Endkampf eines blutrünstigen Diktators gegen
sein Volk oder einen religiösen Konflikt?

Prof. Meyer: Es geht sowohl um die Machterhaltung von Baschar
al-Assad als auch um einen sich zunehmend an religiösen Linien
entwickelnden Bürgerkrieg. Wobei das religiöse Element vor allem aus
dem Ausland in den säkularen Staat getragen wird.

Welche Rolle spielen Katar und Saudi-Arabien bei der Unterstützung
sunnitischer Aufständischer?

Prof. Meyer: Die beiden konservativen sunnitischen Regime nehmen
mit ihren Petrodollars eine Schlüsselrolle ein. Sie liefern nicht nur
über die Türkei die Waffen für die Kämpfer, sondern auch das Geld,
mit dem einerseits die Aufständischen finanziert werden, andererseits
Angehörige der syrischen Streitkräfte zum Desertieren bewegt werden.
Dahinter steckt die geostrategische Zielsetzung, die sunnitische
Achse gegenüber den Schiiten zu stärken. Letztendlich läuft dies auf
einen Stellvertreterkrieg gegen den Iran hinaus. Teheran ist der
wichtigste Verbündete der schiitischen Alawiten in Syrien, der
schiitischen Bevölkerungsmehrheit im Irak und der Hisbollah im
Libanon. Gelingt es, das Assad-Regime zu stürzen, wird die
schiitische Achse in der Region mit dem Iran als Mentor geschwächt.

Ist die Aussage der schiitisch dominierten Regierung in Bagdad
glaubwürdig, dass El-Kaida-Gruppen in Syrien Anschläge verüben?

Prof. Meyer: Dies wird durch vielfache Berichte aus Syrien und
anderen arabischen Ländern belegt. Nach der US-Invasion im Irak hatte
Damaskus den Transit von El-Kaida-Kämpfern in den Irak unterstützt.
Diese folgen jetzt dem Aufruf von El-Kaida und kämpfen nach dem Abzug
der US-Truppen gegen das "nicht-islamische" Regime, wie sie die
Alawiten verunglimpfen. Unterstützt werden sie dabei durch radikale
sunnitische Islamisten aus dem Libanon, Libyen, Algerien und anderen
arabischen Ländern.

Welche Rolle spielen in dem Konflikt die geostrategischen
Interessen der USA, der Türkei und Russlands?

Prof. Meyer: Den USA geht es darum, einen alten Gegner
loszuwerden. Dahinter stecken auch Interessen des israelischen
Verbündeten: Da der Iran über Syrien Waffen an die Hisbollah im
Libanon liefert, könnte ein Sturz Assads den Nachschub unterbinden.
Bisher ist Washington aber nur bereit, Kommunikationsmittel an die
Aufständischen zu liefern, keine Waffen. Und dies aus gutem Grund:
Die Sorge ist groß, dass Waffen letztlich in die Hände von
Dschihadisten und El-Kaida-Kämpfern fallen. Die konservative
sunnitische Regierung in Ankara ist ebenfalls daran interessiert,
diesen schiitisch alawitischen Fremdkörper zu beseitigen. Die
säkulare, linke Opposition wirft der Regierung Erdogan sogar vor, die
beiden Piloten des abgeschossenen Kampfjets, dessen Mission
offensichtlich die Austestung der syrischen Reaktionsfähigkeit war,
für seine pan-islamischen Träume geopfert zu haben. Ein türkischer
Einmarsch in Syrien ist allerdings extrem unwahrscheinlich. Dagegen
sprechen innenpolitische Widerstände, die hohe Kampfkraft der
syrischen Streitkräfte und die kurdische Drohung, in diesem Fall
Anschläge in Ostanatolien zu verüben. Zwar ist der syrische Hafen
Tartus Russlands einziger Flottenstützpunkt im Mittelmeer, aber seine
strategische Bedeutung ist begrenzt, weil dort mitnichten eine ganze
Flotte stationiert ist. Entscheidend ist die über 40 Jahre währende
Partnerschaft des Kreml mit der sozialistischen Baath-Partei und die
Milliarden Rubel, die Moskau mit Waffenverkäufen verdient hat.
Russland sperrt sich vehement gegen eine ausländische Intervention
bei seinem wichtigsten Verbündeten in der Region. Die russische
Regierung verweist auf den großen Rückhalt des Regimes in der
Bevölkerung. Rund 50 Prozent der Syrer dürften noch zu Assad stehen
-- natürlich die Alawiten, die die Führungsschicht bilden, aber auch
die Christen, die fürchten, nach einer Machtübernahme durch radikale
Sunniten verfolgt zu werden. Ebenso sind breite Teile der
sunnitischen Händlerschichten in Aleppo und Damaskus gegen den Sturz
Assads, wie sich aus den jüngsten -- im Westen nahezu
totgeschwiegenen -- Wahlergebnissen herauslesen lässt. Sie
profitierten von der neoliberalen Politik der letzten zwölf Jahre in
Damaskus und fürchten das Chaos eines gesellschaftlichen
Zusammenbruchs.

Erstmals desertierte ein General, der ein langjähriger Vertrauter
Assads war, dazu der Botschafter im Irak. Gibt es Absetzbewegungen in
der Elite?

Prof. Meyer: Nach türkischen Angaben sind bereits 20 Generäle und
weitere 100 hochrangige Offiziere desertiert. Doch der Fall von
Brigadegeneral Manaf Tlass ist etwas Besonderes: Der General war der
Einzige aus dem Führungszirkel, der Assad mit Vornamen ansprechen
durfte. Er entstammt einer der einflussreichs"ten sunnitischen
Familien in Mittelsyrien. Sein Vater war 30 Jahre
Verteidigungsminister unter Hafiz al-Assad. Das besondere
Vertrauensverhältnis zerbrach allerdings, als Tlass zu Beginn der
Aufstände versuchte, zwischen Rebellen und Regierungstruppen zu
vermitteln. Von Assad kaltgestellt, nutzte er nun die Chance zur
Flucht. Der abtrünnige syrische Top-Diplomat in Bagdad ist ebenfalls
Sunnit. Es wird die Gefahr eines Bruchs der bisher paktierenden
sunnitischen und alawitischen Eliten sichtbar. Das Misstrauen
zwischen beiden Schichten wächst -- und dies schwächt das Regime
signifikant.

Warum werden Massaker wie die in Homs oder Hula im Westen
reflexartig dem Regime zugeschrieben?

Prof. Meyer: Anfangs ging die Gewalt ausschließlich vom Regime
aus. Die Medien konzentrierten sich zu Recht auf die ungeheure
Brutalität des Regimes. Leider haben sie diese Position -- parallel
zur Politik der NATO-Staaten -- beibehalten, obwohl die von radikalen
Aufständischen ausgeübte Gewalt inzwischen dem Regime in nichts
nachsteht. Eine wichtige Rolle bei der Verbreitung verzerrter und
gefälschter Informationen spielt das bei London ansässige ,,Syrian
Observatory for Human Rights". Von dort werden einseitige, oft
gefälschte und übertriebene Berichte sowie zum Teil auch Videos aus
früheren Kämpfen im Libanon, Irak und Iran als vermeintliche
Gräueltaten des Assad-Regimes verbreitet. Eine ganz besondere Rolle
spielt in diesem Zusammenhang der in Katar ansässige TV-Sender
Al-Dschasira. Dieser hat sich mit objektiven Berichten aus den
Aufständen in Tunesien, Ägypten und Libyen im Westen großes Renommee
erworben. Aber in dem Moment, in dem sich Katar gegen Syrien
positionierte, wandelte sich die Berichterstattung: Es wird so massiv
gefälscht, dass Al-Dschasira-Mitarbeiter in Beirut ihre Rücktritte
erklärt haben. Hier wie auch in den meisten westlichen Medien wurde
bei der Bombardierung von Homs unterschlagen, dass sich dort viele
El-Kaida-Kämpfer verschanzt hatten, die Zivilisten als Schutzschilde
missbrauchten sowie alawitische Einwohner kidnappten, folterten und
töteten. Jürgen Todenhöfer hat dies sehr treffend als
"Massaker-Marketing" charakterisiert. So wurde vor Wochen von
Islamisten ein Bus gestoppt, die alawitischen Passagiere aussortiert
und ermordet -- die Leichen wurden im Video als Opfer des Regimes
präsentiert. Auch das Massaker von Al-Hula mit mehr als 100 Opfern,
unter ihnen viele Kinder, wurde von Anfang an Assads marodierenden
Schabiha-Milizen in die Schuhe geschoben. Inzwischen klassifiziert
die UNO das Blutbad als ungeklärt. Tatsächlich wurden dort aber die
Mitglieder zweier regimetreuer, alawitischer Großfamilien von
Isla-mis"ten ermordet -- worüber in Deutschland fast nur die FAZ
berichtete.

Droht nach dem Sturz Assads der Zerfall des Vielvölkerstaates an
konfessionellen Linien?

Prof. Meyer: Syrien ist mit arabischen und kurdischen Bewohnern
kein Vielvölkerstaat, gleichwohl aber religiös zersplittert. Deshalb
ist die Gefahr groß, dass es in der Nach-Assad-Ära zu ethnischen
Säuberungen und Konflikten wie im Irak kommt.

Die UN-Beobachterkommission ist gescheitert. Macht sich Kofi Annan
zum Komplizen der Bürgerkriegsgegner, wenn er erneut Zeit
verschwendet in Damaskus?

Prof. Meyer: Der Plan von Annan war hervorragend. Er ist nur
systematisch von den Golfstaaten und den USA torpediert worden. Er
ist in erster Linie an der fehlenden Kompromissbereitschaft der
Aufständischen gescheitert, die von ihrer Forderung des Sturzes von
Assad nicht ablassen. Eine Lösung mit relativ wenig Blutvergießen
wird es nur geben, wenn unter Einbeziehung des Iran verhandelt wird,
wie das Annan jetzt nachdrücklich fordert.

Wenn in Syrien ein sunnitisch-schiitischer Stellvertreterkrieg
tobt, ist es nicht noch zwingender, dass der Westen sich einmischt,
um den Einfluss der wahhabitischen Golf-Monarchien zurückzudrängen?

Prof. Meyer: Die USA und die Golf-Monarchien ziehen in Syrien an
einem Strang. Von daher würde eine stärkere Intervention des Westens
den ultra-konservativen Wahhabiten vor allem helfen, ihren Einfluss
in Syrien zu stärken. Lediglich Washingtons Widerstreben, die
Aufständischen mit Waffen zu versorgen, um nicht indirekt El-Kaida
aufzurüsten, wird in Saudi-Arabien und Katar nicht geteilt. Die
Frage, was nach Assad kommt, wird zurückgestellt. Die Konsequenzen
eines Sturzes von Assad werden nicht zu Ende gedacht. Man hofft, den
Zusicherungen der Islamisten glauben zu können, dass Alawiten und
Christen auch nach Assads Sturz friedlich in Syrien leben können.
Berücksichtigt man aber die Erfahrungen aus dem Irak und Ägypten,
muss man davon ausgehen, dass die Islamisten nach der ganzen Macht
greifen werden, wenn sie die Chance dazu haben. Das Interview führte
Joachim Zießler



Pressekontakt:
Landeszeitung Lüneburg
Werner Kolbe
Telefon: +49 (04131) 740-282
werner.kolbe@landeszeitung.de


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