(Registrieren)

Landeszeitung Lüneburg: Bewaffnete Geister wieder einfangen / Experte Prof. Steinbach sieht Chancen für Libyen, wenn das Sicherheitsproblem anders als im Irak angepackt wird

Geschrieben am 25-08-2011

Lüneburg (ots) - In Libyen wird weiter gekämpft. Noch immer
leisten Gaddafi-Getreue erbitterten Widerstand. Eine britische
Spezialeinheit sucht zusammen mit den Rebellen nach Gaddafi. Droht
beim Neuanfang ein neuer Sumpf aus Korruption und Bürgerkrieg wie im
Irak? Nahost-Experte Prof. Udo Steinbach schließt das nicht aus, ist
aber vorsichtig optimistisch.

Die arabischen Völker schütteln ihre Herrscher ab. Holt die Region
die Demokratisierungswelle nach, die Osteuropa in den neunziger
Jahren erfasst hatte, oder entsteht etwas Neues?

Prof. Dr. Udo Steinbach: Die Dynamik ist vergleichbar. Aber die
Voraussetzungen sind unendlich viel schlechter als seinerzeit in
Osteuropa. Dort bestanden klare Machtverhältnisse und klare
Herrschaftsstrukturen, die transformiert werden konnten in
Demokratie. Zudem gab es damals -- anders als jetzt in den arabischen
Ländern -- eine enorme auswärtige Hilfestellung. Ein entscheidender
Unterschied ist zudem, dass das Konzept der Demokratie in Osteuropa
nicht fremd war, sondern nur verschüttet. Die aktuelle Dynamik
allerdings erinnert an diese Revolutionsphase. In Arabien suchen die
Völker nach neuen Ordnungen, nach Alternativen zu den autokratischen
Regimen. Es mangelt aber an Strukturen, auf denen eine
Demokratisierung aufbauen könnte. Die kulturellen Traditionen eines
Landes wie Libyen sind derartig demokratiefern, dass man am Ende der
Entwicklung nicht mit einer Demokratie nach Westminster-Standards
rechnen sollte.

Hat Demokratie in einer Stammesgesellschaft, die in 140 Stämme
zerfällt, überhaupt eine Chance?

Prof. Steinbach: Das schließt sich nicht grundsätzlich aus, da
auch ein Stamm demokratieähnlichen Prinzipien folgt. Kein Scheich
kann herrschen ohne ausreichende Legitimation -- also ohne die
Unterstützung durch die Mehrheit des Stammes. Wir haben es im Jemen
erlebt, bevor dieser auch von der arabischen Rebellion erfasst wurde:
Dort wurde eine Synthese geschaffen zwischen Stammeswesen und
Mehrheitsabstimmungen samt politischen Parteien. Das hat im
jemenitischen Parlament über eine Reihe von Jahren gut funktioniert.
Ähnlich wird man auch in Libyen nach einem Kompromiss suchen müssen
zwischen der starken Stellung der Stämme und der Tatsache, dass sie
dennoch nur einer von vielen Faktoren sind -- etwa einer stark
gewachsenen städtischen Bevölkerung. Libyen hat sich sogar unter
Gaddafi in gesellschaftlicher Hinsicht sehr differenziert und
pluralisiert. Ich bin daher nicht pessimistisch, dass ein derartiger
Kompromiss gefunden werden kann. Nur wird am Ende keine Demokratie
nach westlichem Vorbild stehen.

Welche Hindernisse stehen Libyen für eine friedliche Entwicklung
im Weg?

Prof. Steinbach: Das größte Hindernis wird das Sicherheitsproblem
sein. Anders als in den anderen arabischen Rebellionen ist hier die
Opposition erstmals bewaffnet und hat das Regime in einem blutigen
Bürgerkrieg hinweggefegt. Das ist nicht mal im Jemen so abgelaufen,
wo die Opposition waffenlos war. Für Libyen stellt sich die Frage,
wie die bewaffneten Geis"ter wieder eingefangen werden können, die
man aus der Flasche ließ. Wird es zu einer Fortsetzung der Kämpfe mit
Anhängern des alten Regimes im Widerstand kommen? Kommt es zu
Abrechnungen der Rebellen mit den Gaddafi-Gefolgsleuten? Waffen gibt
es in jedem Haushalt. Begründungen, sie sprechen zu lassen, sind
ebenso zahlreich. Deshalb liegt hier die erste große Herausforderung
der neuen Machthaber.

Droht ohne die eiserne Klammer der Diktatur ein Bürgerkrieg wie in
Afghanistan oder im Irak?

Prof. Steinbach: Auszuschließen ist das nicht. Aber ich erwarte
eher, dass dies den Libyern erspart bleibt. Im Irak sind große Teile
der sunnitischen Minderheit gegen die neue schiitische Führung und
natürlich gegen die amerikanische Besatzung aufgestanden. Weder eine
derart historisch belastete konfessionelle Spaltung noch eine
ausländische Besatzung haben wir in Libyen. Zudem muss vermieden
werden, die Fehler, die im Irak gemacht wurden, zu wiederholen. Fatal
war etwa die Auflösung der Sicherheitskräfte im Irak mit dem
Argument, dass sie dem alten Regime zu nahe stünden. Das entstehende
Sicherheitsvakuum spielte denen in die Hände, die auf Terror setzen.
Die Lehre daraus lautet, dass man die Sicherheitskräfte in Libyen so
weit wie möglich intakt lässt -- durchaus auch unter Einbeziehung der
Anhänger Gaddafis.

Gibt es Chancen, dass die Arabisierungspolitik beendet wird?

Prof. Steinbach: Das ist die Voraussetzung für jede Form von
Stabilität. Gaddafis Arabisierungskurs war nackte Repression der
Berber-Stämme. Jede künftige Stabilität wird davon abhängen,
inwieweit die Eigentümlichkeit und die Rechte von ethnischen
Minderheiten gewährleistet werden. Dieser Schutz muss Verfassungsrang
erhalten, anderenfalls wird es bewaffnete Konflikte geben. Neben der
Notwendigkeit, die Unterdrückung der Minderheiten zu beenden, muss
auch die Rolle der Religion in dem neuen Staat festgelegt werden.

Werden die Tuareg für ihren militärischen Anteil am Sturz Gaddafis
Autonomie einfordern?

Prof. Steinbach: Sie werden sicherlich gleiche Rechte in
ethnischer, kultureller und sprachlicher Hinsicht einfordern. Das
würde ich nicht unbedingt schon unter der Rubrik Autonomie fassen.
Und sicherlich werden sie einen angemessenen Anteil an den
Erdöleinkünften Libyens verlangen. Das steht ihnen auch zu -- nicht
nur als Bürger Libyens, sondern auch aufgrund der Tatsache, dass
große Teile der Erdölförderung in ihrem Lebensraum erfolgen. Die
Berber haben eine Reihe von Anliegen, die in der neuen Struktur
berücksichtigt werden müssen, wenn das ganze Gebilde stabil sein
soll.

Kann der Erdölreichtum Libyens zum Fluch werden? Das Konkurrieren
von Konzernen und Staaten -- unter ihnen auch China -- um neue
Lizenzen fördert die Korruption...

Prof. Steinbach: Dieses Szenario ist nicht unrealistisch. Ein
Vorbild dafür ist erneut der Irak. Im Norden des Staates -- in der
Kurdenregion -- erleben wir bei Ölförderung und -verkauf einen wahren
Wildwuchs. Es kam ständig zu Konflikten zwischen dem kurdischen
Norden und der Zentralregierung in Bagdad um die gerechte Verteilung
der Profite. Eine ähnliche Entwicklung könnte auch Libyen nehmen,
wenn es keine Lehre zieht aus der Entwicklung im Irak. Sinnvoll wäre,
wenn die Zentralregierung sofort eine starke Hand auf die Produktion
und den Verkauf des Erdöls legt. Eine Haltung, die den Libyern nicht
fremd ist. Gaddafi war einer der ersten, der Anfang der 70er-Jahre
die Erdölindustrie verstaatlichte. Entscheidend wird sein, ob die
Zentralregierung die wesentlichen Faktoren für Stabilität in den
Griff bekommt: die Verwaltung, das Militär und die Ölwirtschaft. Über
die Verteilung der Ölprofite können gewissermaßen auch demokratische
Effekte erzeugt werden: Künftig ist es nicht mehr die
Stammeszugehörigkeit oder die Nähe zum Despoten, die über die
Verteilung von Einnahmen entscheidet. Künftig sollen alle Libyer vom
Ölreichtum profitieren. Wenn das in der Verteilungspolitik vermittelt
werden kann, ist es ein starkes Werkzeug, um Loyalität zu erzeugen.

Die NATO erzielte einen Erfolg, indem sie sich zur Luftwaffe der
Rebellen machte. Folgt nun eine Intervention in Syrien?

Prof. Steinbach: Nein, das können wir ausschließen. Die
Diskussionen in den Haupstädten sind in dieser Hinsicht eindeutig:
Man sieht, dass die Situation in Syrien sich massiv von der in Libyen
unterscheidet. Zudem war das NATO-Unternehmen alles andere als ein
militärisches Glanzstück. Hier häufte sich im Bündnis eher
Frustration als Triumphgefühl auf. Ganz abgesehen davon lehnen die
syrischen Rebellen eine ausländische militärische Intervention noch
ab, während die libyschen Rebellen die NATO zu Hilfe gerufen hatte.

Das Interview führte Joachim Zießler



Pressekontakt:
Landeszeitung Lüneburg
Werner Kolbe
Telefon: +49 (04131) 740-282
werner.kolbe@landeszeitung.de


Kontaktinformationen:

Leider liegen uns zu diesem Artikel keine separaten Kontaktinformationen gespeichert vor.
Am Ende der Pressemitteilung finden Sie meist die Kontaktdaten des Verfassers.

Neu! Bewerten Sie unsere Artikel in der rechten Navigationsleiste und finden
Sie außerdem den meist aufgerufenen Artikel in dieser Rubrik.

Sie suche nach weiteren Pressenachrichten?
Mehr zu diesem Thema finden Sie auf folgender Übersichtsseite. Desweiteren finden Sie dort auch Nachrichten aus anderen Genres.

http://www.bankkaufmann.com/topics.html

Weitere Informationen erhalten Sie per E-Mail unter der Adresse: info@bankkaufmann.com.

@-symbol Internet Media UG (haftungsbeschränkt)
Schulstr. 18
D-91245 Simmelsdorf

E-Mail: media(at)at-symbol.de

348874

weitere Artikel:
  • Neue Westfälische (Bielefeld): Rücktritt von Steve Jobs Riesige Lücke THOMAS SPANG Bielefeld (ots) - Kneifen Sie für einen Moment die Augen zu. Stellen Sie sich eine Welt vor, in der es keine Computer gibt, die sich einfach mit einer Maus bedienen lassen. In der sie ins Geschäft laufen müssen, um eine CD zu kaufen, statt gezielt den Lieblingssong auf einen mobilen Musikspieler zu laden. Und Telefone, die nicht elegant Emails, Internet und Medien miteinander verknüpfen. All das und sehr viel mehr gäbe es ohne Steve Jobs in dieser Form nicht. Der scheidende Apple-Chef hat nicht jedes einzelne Patent erfunden. Aber mehr...

  • Neue Westfälische (Bielefeld): Berlin und Libyen Im Stich gelassen BERNHARD HÄNEL Bielefeld (ots) - Aus Fehlern kann man lernen; allerdings nur unter der Voraussetzung, dass man sie kennt und als Fehler begreift. Und bereit ist, umzudenken. Zu viele Bedingungen, als dass man glauben könnte, Bundesaußenminister Guido Westerwelle und die Bundesregierung könnten damit klarkommen. Und so lesen sich sämtliche Äußerungen nach dem Zerbrechen des Gaddafi-Regimes wie der peinliche Versuch der Rechthaberei. Deutschlands Beitrag zum Sturz des Diktators ist nicht erkennbar. Spürbar ist dafür der Ansehensverlust der Bundesrepublik mehr...

  • Neue Westfälische (Bielefeld): Microsoft filmt für neuen Kartendienst Bedenkliche Datenbunkerei SAMUEL ACKER Bielefeld (ots) - Als Google für seinen Dienst "Street View" Häuser, Straßen und Menschen abfilmte, war die Skepsis groß. Nicht zu Unrecht, denn die 3D-Karten bieten Einblicke, die manchmal auch die Privatsphäre verletzen. Die derzeitig Kartographie-Aktion von Microsoft ruft hingegen kaum Protest hervor - was verwundert. Denn es scheint sich im Vergleich mit Googles Projekt wenig geändert zu haben: Mit Algorithmen sollen bei Microsofts "Street Side" aufgezeichnete Gesichter und Kennzeichen automatisch unkenntlich gemacht werden. Bei mehr...

  • Berliner Zeitung: Inlandspresse - keine Vorabmeldung Die "Berliner Zeitung" kommentiert Kohls Kritik an Merkel Berlin (ots) - Kohls Kritik an seinen Nachfolgern und vor allem an Merkel ist maßlos und selbstgerecht. Aber sie trifft, vermutlich wohlbedacht, mitten in die Sinnkrise der CDU. Der Altkanzler reiht sich ein in die Front der Gralshüter konservativen Gedankenguts, die den Reformern um Merkel vorwerfen, Werte und Prinzipien der Union verraten zu haben, ohne Kompass zu agieren. Gerade jetzt aber, auf dem Höhepunkt der Eurokrise, die das ganze europäische Bündnis gefährdet, zeigt sie doch Führung und Verantwortung. Sie hat die Stärkung mehr...

  • Berliner Zeitung: Inlandspresse - keine Vorabmeldung Die "Berliner Zeitung" kommentiert die Zerwürfnisse bei den Berliner Grünen Berlin (ots) - Wenn eine grüne Abgeordnete sagt, sie würde in einer grün-schwarzen Koalition Renate Künasts Haushalt ablehnen, heißt das nicht, dass die Spitzenkandidatin gar keinen Rückhalt mehr hat. Es ist ein Warnschuss des linken Flügels an die Führungszirkel der Partei, die Rückkehr der in der Opposition eingeübten Heckenschützen-Mentalität. Die Weise, wie die Drohung übermittelt wurde, öffentlich über eine Abgeordnete aus der zweiten Reihe, lässt Zweifel an der Berechenbarkeit der Grünen aufkommen. Wenn Künast schon vor mehr...

Mehr zu dem Thema Aktuelle Politiknachrichten

Der meistgelesene Artikel zu dem Thema:

LVZ: Leipziger Volkszeitung zur BND-Affäre

durchschnittliche Punktzahl: 0
Stimmen: 0

Bitte nehmen Sie sich einen Augenblick Zeit, diesen Artikel zu bewerten:

Exzellent
Sehr gut
gut
normal
schlecht