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Landeszeitung Lüneburg: ,,Die Fliehkräfte in der NATO sind enorm" -- Interview mit dem sicherheitspolitischen Experten Prof. Johannes Varwick

Geschrieben am 15-04-2010

Lüneburg (ots) - Vier Jahrzehnte bewahrte die NATO den Frieden.
Das Kollabieren ihres Gegners stürzte sie in eine Identitätskrise.
Die USA wollen die NATO im Kampf gegen den islamistischen Terror
weltweit agieren lassen. Ein Plan, der das Bündnis zu spalten droht,
wie Prof. Johannes Varwick im Interview sagt.

Ist die NATO 61 Jahre nach ihrer Gründung auf dem Weg zum
Weltpolizisten oder auf dem Weg in die Bedeutungslosigkeit?

Prof. Johannes Varwick: Ich fürchte, dass sie im Moment zumindest
in schwierigem Fahrwasser ist. Die Interessenunterschiede zwischen
den NATO-Mitgliedern sind so enorm, dass man zwar noch nicht von
drohender Bedeutungslosigkeit sprechen kann, aber von einer
tiefgreifenden Krise.

Sie unterteilen die Geschichte der NATO in drei Perioden. Wodurch
sind diese gekennzeichnet?

Prof. Varwick: Wir haben die klassische NATO-I-Phase, die
definiert wurde durch einen klaren Feind im Osten. Das waren die
ersten vier Jahrzehnte der NATO von 1949 bis 1989. In der Phase der
NATO II stand nicht mehr der Verteidigungsgedanke im Vordergrund,
sondern der, Stabilität zu exportieren. Zunächst über
Kooperationsangebote an ehemalige Warschauer-Pakt-Staaten bis hin
schließlich zum Angebot der Mitgliedschaft. Dann hat sich die NATO um
Polen, Ungarn, Tschechien sowie ehemalige Sowjetrepubliken erweitert.
Die Phase des Stabilitätstransfers endete ungefähr 1999 mit dem
Kosovo-Krieg. Damals begann die Phase NATO III: Jetzt versucht die
NATO, umfassend Sicherheit auch außerhalb ihres Bündnisgebietes zu
gewährleisten. Seit dieser Zeit steht die NATO in der Kritik, sich
zum Weltpolizisten zu wandeln. Zumindest aber steht das Bündnis vor
Herausforderungen. Denn die Organisation ist im Vergleich zur
Gründung völlig neuartig, nur der Name blieb. Als klassisches
Verteidigungsbündnis umfasste die NATO nur zehn Staaten.

Muss sich ein Pakt von bald 29 Mitgliedern von dem Leitbild
verabschieden, so homogen sein zu können, dass er als Ordnungsmacht
agieren kann?

Prof. Varwick: Dem würde ich voll zustimmen. Die Fliehkräfte in
dem Bündnis sind mittlerweile enorm, weil die Programmatik
umfassender und anspruchsvoller geworden ist. Im Kalten Krieg war die
Welt einfacher. Man hatte einen Feind, das schweißte zusammen. Heute
sehen die Mitgliedsstaaten die jeweiligen Bedrohungen sehr
unterschiedlich -- und reagieren entsprechend unterschiedlich. Der
Kitt eines gemeinsamen äußeren Feindes ist weg. Diese eigentlich
positive Entwicklung hat die negative Folge, dass die Verbündeten
angesichts von neuartigen Bedrohungen, die eigentlich Einigkeit
erfordern, nicht zu einer gemeinsamen Linie finden.

In der Georgien-Krise zeigte sich ein besonders starker Dissens
zwischen alten und neuen Mitgliedern. Wird das Verhältnis zu Russland
zum Stolperstein für das Bündnis?

Prof. Varwick: Das ist bereits ein Stolperstein. Insbesondere die
neuen Mitglieder, die baltischen Staaten, Ungarn, Tschechien und
Polen sind der NATO beigetreten, weil sie Schutz vor Russland
wollten. Die westeuropäischen Staaten und auch die USA sehen das
mittlerweile völlig anders. Die Amerikaner sehen sogar in der
Einbindung der Russen eine der zentralen künftigen Aufgaben der NATO.
Die europäische Welt ist für die Amerikaner uninteressant geworden.
Eine Einbindung Russlands würde das Gewicht der NATO in Asien
erhöhen. Hier sträuben sich die neuen Mitglieder aber vehement.

Ist die NATO von Ausbildung und Material her überhaupt gerüstet
für den Sprung von einer eurozentrischen Abschreckungs- zu einer
globalen Interventionsallianz?

Prof. Varwick: Sie ist im Moment nicht sonderlich gut dafür
geeignet. Zwar versucht sie sich an den neuen Aufgaben in vielen
Einsätzen vom Kosovo bis Afghanistan. Aber dort zeigen sich genau die
geschilderten Schwierigkeiten. Einzelne Staaten mobilisieren nur sehr
zögerlich ihre Ressourcen, weil eine gemeinsame Sicht der
Bedrohungslage kaum noch gegeben ist. In Afghanistan etwa engagieren
sich die USA sehr intensiv, andere Staaten agieren dagegen nur mit
angezogener Handbremse. Im Resultat geht die NATO den Einsatz nur mit
halber Kraft an -- ein Grund dafür, dass das Bündnis an Bedeutung
verliert.

In Afghanistan zerbrach das Selbstbewusstsein der Roten Armee.
Wird sich die NATO noch einmal zu einer Wiederaufbaumission aufraffen
können, falls der Einsatz in Afghanistan scheitert?

Prof. Varwick: Ich fürchte, nein. Wenn die NATO in Afghanistan
scheitert, ist sie in größten Schwierigkeiten. Denn eine solche
Niederlage wäre das Signal, kontrovers wahrgenommene Einsätze, bei
denen nicht alle an einem Strang ziehen, künftig zu unterlassen. Dann
würde sich das Bündnis vermutlich auf die alte Funktion zurückziehen,
äußere Feinde abzuschrecken. Da dieser Feind aber nicht in Sicht ist,
würde sich der NATO die Existenzfrage stellen.

Werden die Europäer den USA in der Vorstellung folgen, dass die
NATO eine global agierende Allianz sein soll?

Prof. Varwick: DIE Europäer gibt es nicht mehr. Es wäre schön,
denn wenn es eine europäische Stimme gäbe, würde sie in Washington
auch Gehör finden. Solange Europa aber uneinig ist, fällt es den
Amerikanern leicht, sich immer den Partner herauszupicken, der am
ehesten den eigenen Interessen dient.

Wird die NATO der Zukunft von ad-hoc-Bündnissen von Demokratien
gekennzeichnet sein in Konkurrenz zu den UN?

Prof. Varwick: Das wollen einige Strategen in den USA. Nach ihren
Vorstellungen soll die NATO eine Art Kern für ein Netzwerk
demokratischer Staaten werden, die sich in der Sicherheitspolitik
enger zusammenschließen. Kritiker entgegnen, diese Rolle werde
bereits von den Vereinten Nationen ausgefüllt. Und es wäre eine
schlechte Entwicklung, wenn der atlantische Pakt in Konkurrenz zu den
UN treten würde. Diese Entwicklung ist noch nicht zu Ende
buchstabiert. Der Druck aus Washington wächst, die NATO zu einem
globalen Bündnis zu entwickeln -- nicht zwangsläufig als Konkurrenz
zur UNO, aber in Abkehr von der bisherigen Begrenzung auf den eigenen
Bündnisraum.

Zerbricht über diesem Konflikt der transatlantische Wes"ten als
politische Einheit?

Prof. Varwick: Das würde ich nicht so sehen. Denn die Interessen
zwischen Europa und den USA sind sehr viel leichter in
Übereinstimmung zu bringen als mit anderen Mächten. Europa und die
USA sind quasi natürliche Partner. Einen besseren werden die USA
nicht finden. Die westliche Wertegemeinschaft miteinander
kooperierender Demokratien ist mehr als eine Floskel, nämlich eine
solide Basis für gemeinsame Ziele.

Stört es die Harmonie in der Wertegemeinschaft, wenn sich die
Europäer verstärkt bemühen, militärische Muskeln anzusetzen oder
begrüßen die USA das, weil sie dann Aufgaben abgeben können?

Prof. Varwick: In diesem Punkt ist die Haltung Washingtons sehr
widersprüchlich. Auf der einen Seite wollen die USA eine Entlastung,
auf der anderen Seite wollen sie keine Entmachtung, die mit einer
Aufrüs"tung Europas zwingend einhergeht. Derzeit haben wir die ungute
Situation, eine Konkurrenz zwischen EU und NATO in der
Sicherheitspolitik vorzufinden. Das bindet Ressourcen, die man an
anderer Stelle sinnvoller einsetzen könnte. Man müsste stärker über
eine Arbeitsteilung nachdenken. Europa bleibt auf absehbare Zeit so
etwas wie eine Zivilmacht mit Zähnen, weil ihnen wegen feh"lender
Ressourcen die Fähigkeit fehlt, harte Militäreinsätze durchzuführen.
Würde Europa sich auf kleinere, zivil geprägte Einsätze beschränken
und der NATO die größeren Kampfeinsätze überlassen, würden sich beide
ergänzen, statt in Konkurrenz zu treten.

Das letzte strategische Konzept verabschiedete die NATO 1999. Wann
kommt ein neues?

Prof. Varwick: Der Auftrag, ein neues strategisches Konzept zu
erarbeiten, ist im April 2009 vergeben worden. Ziel ist, im November
ein Konzept vorzulegen. Es hapert daran, dass es noch keine
gemeinsame Sicht auf die Probleme gibt. Eine solche muss erst
erarbeitet werden. Die Gefahr besteht, dass dieses Auseinanderklaffen
mit Formelkompromissen überdeckt wird. Wichtig wäre aber, Klarheit
über den künftigen Kurs zu gewinnen.

Aber ist es nicht per se gut, dass überhaupt über eine Strategie
diskutiert wird, gerade auch in Deutschland, wo derartiges eher
verpönt ist?

Prof. Varwick: Ja, das halte ich für eine gute Entwicklung. Vor
allem, weil auch die Öffentlichkeit stärker über derartige Dinge
diskutiert. Im Moment ist es eher so, dass es bei den Bürgern an
Rückhalt fehlt für die veränderte Rolle der NATO in einer Welt, die
durch asymmetrische Konflikte gekennzeichnet ist. Für Demokratien ist
es aber unabdingbar, dass Mehrheiten gesucht und gefunden werden, um
die Grundsätze beim Einsatz bewaffneter Macht festzulegen.

Das Interview führte Joachim Zießler

Originaltext: Landeszeitung Lüneburg
Digitale Pressemappe: http://www.presseportal.de/pm/65442
Pressemappe via RSS : http://www.presseportal.de/rss/pm_65442.rss2

Pressekontakt:
Landeszeitung Lüneburg
Werner Kolbe
Telefon: +49 (04131) 740-282
werner.kolbe@landeszeitung.de


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