(Registrieren)

Berliner Morgenpost: Man darf Sarrazin nicht den Mund verbieten - Leitartikel

Geschrieben am 15-03-2010

Berlin (ots) - Die Volkspartei SPD muss auch provokante Thesen
aushalten können. Das ist die entscheidende Begründung für den
Freispruch erster Klasse, den Thilo Sarrazin gestern von Berlins
SPD-Parteirichtern entgegennehmen durfte. Der ehemalige Finanzsenator
ist eben kein Rassist, das hat das Schiedsgericht festgestellt. Seine
Beschreibung der unproduktiven Bevölkerungsteile bezieht eben nicht
nur türkische und arabische Zuwanderer, sondern explizit auch
deutsche Unterschichten ein. Und anders als seine Gegner
suggerierten, schließt es Sarrazin eben keineswegs aus, dass auch
Einwanderer mit harter Arbeit in Deutschland den Aufstieg schaffen
können. Insofern argumentiert er durchaus sozialdemokratisch.
Die Wortwahl des Bundesbank-Vorstandes mag viele verletzten. Auch
sind Thesen, wonach osteuropäische Juden intelligenter seien als
andere Menschen, sicherlich kritisch zu hinterfragen. Bisweilen reißt
Sarrazin auch die Freude an einer pointierten Formulierung fort. Dann
erfindet er die "Kopftuchmädchen", die bestimmte Einwanderer
produzierten oder behauptet, sie hätten "keine produktive Funktion
außer im Obst- und Gemüsehandel".
Merkwürdig ist, dass sich durch seine Analyse eines der wichtigsten
Probleme Berlins und Deutschlands offenbar auch viele hart arbeitende
Zuwanderer diffamiert fühlen, wie es seine parteiinternen Gegner ihm
vorwerfen. Kein türkischer Gemüsehändler oder arabischer Unternehmer
oder vietnamesischer Angestellter muss sich angesprochen fühlen, wenn
Sarrazin die unbestreitbaren Defizite anderer Zuwanderer auf seine
drastische Weise beschreibt. Genauso wie sich kein Ur-Deutscher
angegriffen fühlen muss, wenn das Treiben von Neonazis oder das
antriebslose Rumhängen anderer Deutscher bemängelt wird.
Sarrazin hat mit seinen harten Thesen der Integrationsdebatte neuen
Schwung verliehen. Das hat das Parteigericht ausdrücklich
festgestellt. Dabei reduziert er eine komplexe Fachdebatte über
Integration auf ein paar aus Sicht einer großen Anzahl von Bürgern
entscheidende Fragen: Wie kann es gelingen, den vielleicht 20 Prozent
abgehängten Unterschichten gleich welcher Herkunft eine Existenz in
Würde zu ermöglichen? Was muss geschehen, damit auch in 20, 30 Jahren
in Stadtteilen wie Neukölln noch westliche Werte gelebt werden
können?
Dass vor allem Linke in der SPD in der Integrationspolitik eine
andere Strategie verfolgen und weniger auf Druck denn auf Verständnis
und Toleranz setzen, ist legitim. Aber eine Partei, die nicht in der
20-Prozent-Ecke verharren möchte, muss zur Kenntnis nehmen, dass auch
die andere Richtung viele und ernst zu nehmende Anhänger hat. Denk-
und Redeverbote sind für eine Volkspartei ein unwürdiger Ansatz. Eine
Politik, die klare Worte verbieten und aussperren will, kann keinen
Erfolg haben. Die Bürger wünschen sich eine Sprache, die Probleme
klar benennt und unterschiedliche Positionen deutlich herausarbeitet.
Man darf sich an Sarrazin reiben. Aber man sollte ihm nicht den Mund
verbieten.

Originaltext: Berliner Morgenpost
Digitale Pressemappe: http://www.presseportal.de/pm/53614
Pressemappe via RSS : http://www.presseportal.de/rss/pm_53614.rss2

Pressekontakt:
Berliner Morgenpost
Chef vom Dienst
Telefon: 030/2591-73650
bmcvd@axelspringer.de


Kontaktinformationen:

Leider liegen uns zu diesem Artikel keine separaten Kontaktinformationen gespeichert vor.
Am Ende der Pressemitteilung finden Sie meist die Kontaktdaten des Verfassers.

Neu! Bewerten Sie unsere Artikel in der rechten Navigationsleiste und finden
Sie außerdem den meist aufgerufenen Artikel in dieser Rubrik.

Sie suche nach weiteren Pressenachrichten?
Mehr zu diesem Thema finden Sie auf folgender Übersichtsseite. Desweiteren finden Sie dort auch Nachrichten aus anderen Genres.

http://www.bankkaufmann.com/topics.html

Weitere Informationen erhalten Sie per E-Mail unter der Adresse: info@bankkaufmann.com.

@-symbol Internet Media UG (haftungsbeschränkt)
Schulstr. 18
D-91245 Simmelsdorf

E-Mail: media(at)at-symbol.de

257223

weitere Artikel:
  • Rheinische Post: Sarkozys Schlappe Düsseldorf (ots) - Die einzige Wahl, die in Frankreich wirklich zählt, ist die Wahl des Präsidenten. Weil die aber nur alle fünf Jahre stattfindet, nutzen die Franzosen ersatzweise auch jeden anderen Urnengang dazu, über ihr Staatsoberhaupt und seine Politik abzustimmen. Das weiß auch Nicolas Sarkozy, trotz seiner Bemühungen, die erste Runde der Regionalwahlen jetzt zum belanglosen Lokalereignis klein zu reden. Die Franzosen haben über Sarkozy abgestimmt und das Ergebnis ist verheerend. Es war kein Votum für die blasse französische Linksopposition. mehr...

  • Westfalen-Blatt: Das WESTFALEN-BLATT (Bielefeld) zur Hartz-Reform der SPD: Bielefeld (ots) - Sind die gestern vorgestellten Arbeitsmarktideen nun der Befreiungsschlag, auf den die SPD gewartet hat? Wohl kaum. Wieder liefert die Opposition keine plausiblen Finanzierungsvorschläge mit. Sinkende Arbeitslosenzahlen wären zwar schön, aber wer auf dieser Hoffnung aufbauend Milliardenausgaben verspricht, handelt unseriös. Man darf auch unterstellen, dass das Ändern der ungeliebten Hartz-Regeln der SPD-Spitze um Sigmar Gabriel wichtiger ist als das Gestalten. Bloß hinter sich lassen, was die Partei in den Abgrund zu mehr...

  • Westfalen-Blatt: Das WESTFALEN-BLATT (Bielefeld) zu Gorleben: Bielefeld (ots) - Ein totes Pferd kann man nicht reiten. Gorleben ist so ein totes Pferd. Wissenschaftler sind sich einig, dass der Salzstock nicht als sicheres Atommüllendlager taugt. Warum setzt Bundesumweltminister Norbert Röttgen nach zehn Jahren Pause trotzdem die Erkundung fort? Weil eine ergebnisoffene Suche nach einer Standortalternative innerhalb der schwarz-gelben Bundesregierung nicht erwünscht ist. Bayern wehrt sich mit Händen und Füßen gegen eine Suche im Freistaat. »Nicht in unserem Vorgarten« lautet das Motto. Ein Atommüllendlager mehr...

  • Rheinische Post: Kommentar: Weg von Schröder Düsseldorf (ots) - Der 15. März 2010 wird in die Geschichte der Sozialdemokratie eingehen. Als Tag des Abschieds von der Regierungsfähigkeit. Der neue Parteichef Sigmar Gabriel hatte es ja angedroht: Erst die Partei, dann das Land, gelte in der Opposition. Seine Vorschläge zur neuen Hartz-IV-Reform sind so gesehen nur konsequent. Die einst von Gerhard Schröder als Jahrhundertreform gepriesenen Hartz-Gesetze sind auf dem Steinbruch der sozialpolitischen Klientelpolitiker gelandet. Das Arbeitslosengeldx0fI soll verlängert werden, die Vermögensprüfung mehr...

  • Neue OZ: Kommentar zu EU / Konjunktur / Frankreich / Deutschland Osnabrück (ots) - Das geopferte Ziel Erst Athen mit der Forderung nach Rückgabe von Kriegsbeute, jetzt Paris mit der Kritik am exportstarken Nachbarn: So macht das Wort vom Deutschland-Bashing in der EU die Runde. Dabei hat Frankreichs Finanzministerin Christine Lagarde nichts anderes getan, als ihre Berliner Regierungskollegen an die geltende Gesetzeslage zu erinnern. Danach ist die deutsche Wirtschaftspolitik verpflichtet, neben Wachstum, Preisstabilität und hoher Beschäftigung auch außenwirtschaftliches Gleichgewicht herbeizuführen. mehr...

Mehr zu dem Thema Aktuelle Politiknachrichten

Der meistgelesene Artikel zu dem Thema:

LVZ: Leipziger Volkszeitung zur BND-Affäre

durchschnittliche Punktzahl: 0
Stimmen: 0

Bitte nehmen Sie sich einen Augenblick Zeit, diesen Artikel zu bewerten:

Exzellent
Sehr gut
gut
normal
schlecht