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Landeszeitung Lüneburg: ,,Krisenzeiten sind Kanzlerzeiten" -- Interview mit Prof. Dr. Gerd Langguth

Geschrieben am 12-03-2009

Lüneburg (ots) - Der Unmut der konservativen Kräfte in der Union
über den Kurs der Bundeskanzlerin Angela Merkel nimmt zu. Aber auch
die Kritiker wissen, dass ,,die CDU nur mit Merkel die Wahl gewinnen
kann", sagt Prof. Dr. Gerd Langguth im Gespräch mit unserer Zeitung.

Trotz des Appells der CDU-Chefin und Kanzlerin Angela Merkel geht
der Streit in der Union weiter. Bayerns Innenminister Joachim
Herrmann warf Merkel vor, Stammwähler vor den Kopf gestoßen zu haben.
Hat Herrmann recht?
Prof. Dr. Gerd Langguth: Frau Merkel ist mehr in der Lage, neue
Wähler für die Union zu gewinnen als sich um die Stammwähler zu
kümmern. Herrmanns Vorwurf ist insofern prinzipiell nicht falsch,
aber auch nicht neu. Die CSU will sich insgesamt stärker von der CDU
absetzen, weil sich der neue CSU-Vorsitzende Horst Seehofer gerne an
seinem Vorbild Franz Josef Strauß orientiert.

Gibt es den klassischen Stammwähler überhaupt noch?
Langguth: Ja, aber es gibt immer weniger Stammwähler. Das sehen zwar
manche Kritiker von Frau Merkel nicht so. Aber die beiden großen
Volksparteien haben von der gesamten Wählerschaft her jeweils nur
noch zehn bis höchstens 15 Prozent Stammwähler. Wenn sich also Frau
Merkel nur auf die Stammwähler konzentrieren würde, wäre die CDU eine
Partei für die Minderheit. Im Zusammenhang mit der Papst-Äußerung
erhielt Frau Merkel in der Bevölkerung zwar eine enorme Zustimmung
von 71 Prozent. Doch beim kleinen, harten Kern der treuen
katholischen Wähler stieß sie auf heftige Kritik. Genau diese Wähler
waren und sind aber eine wichtige Größe für die CDU. Merkel muss den
Spagat hinbringen: Stammwähler zu integrieren und neue Wähler zu
gewinnen.

Der Göttinger Parteienforscher Franz Walter sagt, dass die
Wählerschaft der Union erodiert. Das Bürgertum, einst Stütze der CDU,
wähle jetzt vornehmlich links. Wirtschaftskonservative setzen
mittlerweile eher auf die FDP. Wen wollen die konservativen Kräfte in
der Union überhaupt noch als Wähler gewinnen?
Langguth: So wichtig es ist, dass sich die Union um konservative
Wähler kümmert, damit diese sich nicht eine neue Heimat suchen, so
sehr führt auch die neue ,,K-Frage" -- also die Frage nach dem
Konservatismus in der Partei -- in die Irre, wenn man sich nur um
Konservative kümmert. Der hohe Beliebtheitsgrad von Frau Merkel
basiert vor allem darauf, dass sie einer breiteren
Bevölkerungsschicht als wählbar gilt. Ich gehe davon aus, dass Frau
Merkel die Union bei der nächsten Wahl mit ihrem Kanzlerbonus eher
nach oben ziehen wird. Denn sie hat ein besseres Image als ihre
Partei. Das war übrigens früher anders: Helmut Kohl hatte ein
schlechteres Image als seine eigene Partei. Insgesamt muss man
feststellen, dass beide Volksparteien erodieren. Das ist ein
natürlicher Prozess, der noch dadurch beschleunigt wird, dass Union
und SPD zusammen regieren. Von dieser Konstellation profitieren die
kleinen Parteien selbst dann, wenn sie sich stärker klientelistisch
ausrichten. Für die weitere Entwicklung von Union und SPD wäre es
besser, wenn es nach der Wahlnacht im September zu einer kleinen
Koalition kommen würde. Noch ist die CDU eine echte Volkspartei, die
sich aber gerade dadurch auszeichnet, Unterstützung bei allen
Schichten der Bevölkerung zu erhalten.

Viele Konservative nehmen Angela Merkel übel, dass sie zusammen
mit Familienministerien Ursula von der Leyen der Union ein neues
Familienprofil bis hin zu Vätermonaten beim Elterngeld verpasst hat.
Merkel reagierte damit eigentlich nur auf längst vollzogene
Veränderungen in der Gesellschaft. Die Union ist jedoch erst seit
einigen Monaten auf Talfahrt in der Wählergunst, da war die
Neuausrichtung in der Familienpolitik längst beschlossen. Woher kommt
dann der Unmut in ihrer Partei?
Langguth: Zunächst einmal muss man festhalten, dass die
Familienpolitik von Frau von der Leyen breiteste Akzeptanz in der
Gesamtbevölkerung findet -- mit Ausnahme eines relativ kleinen Kerns
vor allem katholischer Wähler. Frau von der Leyen und Frau Merkel
haben dafür gesorgt, dass die reale Situation der modernen
Gesellschaft in der CDU angekommen ist. Das gilt auch für andere
Themen wie etwa dem der gleichgeschlechtlichen Beziehungen. Frau von
der Leyen ging es vor allem aber um die Stärkung der Familie. Sie hat
es geschafft, das Thema Familie, das jahrelang die SPD gepachtet
hatte, wieder als christdemokratisches Thema erscheinen zu lassen.

Warum hat dann die CDU in der Wählergunst nicht zulegen können?
Langguth: Weil die Zeiten, in denen man quasi mit den Chromosomen ein
geborener Christ- oder Sozialdemokrat war, längst vorüber sind. Die
Zahl der Stammwähler ist drastisch gesunken, die Milieuorientierung
hat nachgelassen. Wir leben in einer Zeit der Singularisierung und in
einer Zeit der Pluralisierung der Lebensstile. Die Parteien können
nicht mehr auf die gleiche Loyalität in der Bevölkerung bauen wie das
noch vor 20 oder 30 Jahren der Fall war. In den 70er-Jahren hatten
die beiden großen Parteien mehr als 90 Prozent der Wählerstimmen,
jetzt sind es nur noch 65 bis 70 Prozent. Vor allem für die SPD
stellt sich die Frage, ob sie überhaupt noch eine Volkspartei ist. So
ist die SPD in Sachsen nach CDU und Linken nur noch die dritte Kraft.
Der Aderlass der Volksparteien setzte also schon weit vor einer
Parteichefin Merkel ein. Spätestens mit dem Aufkommen der Grünen in
den 80er-Jahren verstärkte sich die Erosion. Die Partei Die Linke
forcierte diese Entwicklung noch. Wir haben damit allerdings auch ein
Stück weit eine europäische Normalisierung, ein Ausfransen des
politischen Spektrums. In Frankreich oder in Italien gibt es mehrere
sozialdemokratische oder konservative Parteien. Früher wurde
Deutschland um die beiden Volksparteien beneidet, weil sie einen
großen Beitrag zur politischen Stabilität unseres Landes geleistet
haben. Heute muss man feststellen: Je mehr Parteien in den Bundestag
einziehen, desto instabiler kann sich die politische Situation
entwickeln.

Das klingt schon fast nach Weimarer Verhältnissen.
Langguth: Nein, so weit gehe ich derzeit nicht. Denn wir haben
demokratisch gefestigte Strukturen. Dennoch werden wir künftig mit
einer bunteren parteipolitischen Situation zu rechnen haben. Weimar
liefert allerdings einen Hinweis darauf, dass es gut sein kann, wenn
wir nicht zu viele Parteien im Bundestag haben.

Die Wirtschaftskrise erfordert Maßnahmen, die keine Partei nur aus
dem Repertoire ihres Programms liefern kann. Glauben Sie, dass die
Union weiteren Boden bei den Wählern verliert, wenn sie Realpolitik
der Parteipolitik unterordnet?
Langguth: Frau Merkel wird aus den eigenen Reihen vorgeworfen, dass
sie zu wenig Parteipolitik und zu viel Politik einer neutralen
Kanzlerin macht. Die Aussage des baden-württembergischen
Ministerpräsidenten Oettinger, die Kanzlerin solle den Uniformrock
des Wahlkämpfers anziehen, halte ich für falsch. Ein Kanzler gehört
zwar immer einer Partei an, aber in der derzeitigen wirtschaftlichen
Krise würden es die Bürgerinnen und Bürger Frau Merkel übel nehmen,
wenn sie parteipolitische Aspekte sichtbar in den Vordergrund stellen
würde. Krisenzeiten sind Kanzlerzeiten und nicht Zeiten von Parteien.

In diesen Krisenzeiten handelt Frau Merkel also richtig?
Langguth: Ja, ich denke schon, dass die Bundesregierung alles in
allem auf die Bank- und Finanzkrise richtig reagiert hat. Merkel hat
nur ein Prob"lem: Sie ist ihrer eigenen Partei fremd geblieben. Sie
wird jedoch auch das Beispiel Gerhard Schröders richtig einzuschätzen
wissen. Schröder war mit Basta-Worten nicht durchgekommen. Und als er
den Parteivorsitz an Franz Müntefering übergab, war dies der Anfang
vom Ende seiner Macht. Frau Merkel wird, so wie ich sie kenne und
einschätze, den Parteivorsitz nicht abgeben. Ihr Fehler war es aber,
nicht alles unternommen zu haben, die Partei voll mitzunehmen. Die
derzeitige Kritik ist daher ein Warnschuss vor den Bug. Das Rumoren
in der Union wird aber bald beendet sein müssen. Denn die Erfahrung
hat gezeigt, dass die Union nur dann stark ist, wenn sie geschlossen
in den Wahlkampf zieht.

Sie haben in ihrer Merkel-Biografie geschrieben, dass sie als
ideologiefreie Naturwissenschaftlerin eine Generalistin ohne
historische Fixierung sei. Ist sie damit auch eine Parteivorsitzende
ohne Partei oder eher nur eine Ost-Kanzlerin ohne Stallgeruch?
Langguth: Eine Ost-Kanzlerin ist Frau Merkel nicht. Ich schätze sie
so ein, dass sie in der Wendezeit ganz schnell zu einer Westdeutschen
mutierte. Ihr Problem war, dass sie von den Ostdeutschen lange Zeit
als Westdeutsche und von den Westdeutschen als Ostdeutsche angesehen
worden ist. Erst mit dem Beginn ihrer Kanzlerschaft wurde sie
sozusagen idealtypisch eine Gesamtdeutsche. Frau Merkel ist eine
Parteivorsitzende, die ihre Partei eigentlich fest im Griff hat. Das
zeigen ihre guten Ergebnisse auf Parteitagen. Ihre Stärke, die bei
vielen Wählern gut ankommt, ist ihr ideologiefreies Handeln. Sie ist
aber im Gegensatz zu Helmut Kohl keine Geschichtsdeuterin. Gerade
konservative Wähler wollen eine historische Einordnung der Politik
der Gegenwart. Frau Merkel ist vom Typ her außerordentlich nüchtern,
emotional nicht mitreißend. Auch dies sorgt in den Reihen der CDU
immer wieder für Naserümpfen. Aber selbst ihre Kritiker wissen, dass
die CDU nur mit Merkel die Wahl gewinnen können.

Das Gespräch führte
Werner Kolbe

Originaltext: Landeszeitung Lüneburg
Digitale Pressemappe: http://www.presseportal.de/pm/65442
Pressemappe via RSS : http://www.presseportal.de/rss/pm_65442.rss2

Pressekontakt:
Landeszeitung Lüneburg
Werner Kolbe
Telefon: +49 (04131) 740-282
werner.kolbe@landeszeitung.de


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