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"Politische Effekthascherei und eklatante Recherchedefizite" - Erste empirische Studie zum Berliner Hauptstadtjournalismus / Netzwerk Recherche: "Studie mahnt erheblichen journalistischen Reformbedarf

Geschrieben am 12-06-2008

Wiesbaden/ Berlin (ots) - Die politische Kommunikation und die
Recherchebedingungen in Berlin haben sich unter dem enormen
Berichterstattungstempo, dem Zwang zur Exklusivität und neuen
Kommunikationsmitteln wie SMS und Video-Podcasts von Politikern
gravierend verändert. Zu diesem Befund kommt die erste empirische
Studie über den aktuellen Zustand des Hauptstadtjournalismus, die die
Journalistenvereinigung Netzwerk Recherche e. V. heute
veröffentlicht. Unter dem Titel "Journalismus in der Berliner
Republik - Wer prägt die politische Agenda in der Bundeshauptstadt"
legen die beiden Autoren, der Medienforscher Leif Kramp und der
Kommunikationswissenschaftler Dr. Stephan Weichert vom Berliner
Institut für Medien und Kommunikationspolitik zentrale Mängel der
Politikberichterstattung offen. Im Fokus der 33 Expertengespräche mit
Büroleitern und leitenden Korrespondenten der wichtigsten Medien,
politischen Sprechern, Beratern, Lobbyisten stehen vor allem die
Wechselwirkungen zwischen medialer und politischer Macht sowie deren
Eigendynamik unter den extremen Arbeitsbedingungen der Berliner
Republik.

"Unsere empirischen Ergebnisse bestätigen, dass besonders das
politische Agenda Setting von hohen Verfallsraten und schnelllebigen
Themenkarrieren geprägt ist", erklärt Dr. Stephan Weichert. Nach wie
vor seien zwar noch gedruckte und elektronische Qualitätsmedien wie
FAZ, Süddeutsche Zeitung, Der Spiegel, Tagesschau oder
Deutschlandfunk zuverlässige Leitmedien im politischen Tagesgeschäft,
an denen sich auch die Konkurrenz orientiere. Jedoch mache die
qualitative Befragung deutlich, dass journalistische Online-Angebote
und Boulevardpresse immer stärker den Medientakt in der Hauptstadt
vorgeben: "Während vor allem Spiegel Online von der stündlichen
Weiterdrehe im Nachrichtengeschäft profitiert und allmählich sogar
die Agenturen verdrängt, treibt Bild die Effekthascherei des
politischen Betriebs voran - zum großen Leidwesen vieler seriöser
Hauptstadtjournalisten", sagt Weichert.

Ein überraschender Befund der Studie ist auch, dass die
Parlamentsberichterstattung durch neue Kommunikationsformen
beschleunigt und zugleich unterminiert wird: "Der rege SMS-Verkehr
zwischen Politikern und Journalisten verändert die
Reaktionsbereitschaft der Hauptstadtmedien immens - das erhöht
zusätzlich den Druck", sagt Leif Kramp. Auch der im Juni 2006
gestartete Video-Podcast von Bundeskanzlerin Angela Merkel
verdeutlicht, wie sich politische Sphäre und Mediensystem zunehmend
überlagern: "Solche von Parteien und Regierungen lancierten
Botschaften im Internet untergraben nach Meinung der Befragten die
Gatekeeper-Funktion des Journalismus", so Kramp.

Unter Berliner Bedingungen, so ein weiteres ernüchterndes Ergebnis
der Untersuchung, kommen zudem intensive und nachhaltige Recherchen
zu kurz - was einerseits an dem beinahe freundschaftlichen Kontakt
mit den Mitarbeitern der Pressestellen von Bundesregierung,
Ministerien und Parteien liegt, andererseits auch dem Mangel an
redaktionellen und finanziellen Ressourcen in den Redaktionen
geschuldet ist. Einen hohen Stellenwert in der informellen Recherche
nehmen dagegen Hintergrundkreise ein, die viele Befragte wegen der
zunehmenden Unübersichtlichkeit bei der Informationsbeschaffung für
unverzichtbar halten. Besonders für die meisten der auflagen- und
quotenschwachen (Regional-)Medien ergeben sich bei der Recherche
jedoch erhebliche Zugangsprobleme: Sie sind nicht nur in den
Hintergrundkreisen unterrepräsentiert, sondern werden auch bei
Exklusivinterviews mit Politikern oder auf Kanzlerreisen
benachteiligt. Auch wenn nur schwer auszumachen ist, wer für solche
eklatanten Missstände verantwortlich ist, lassen die
Analyseergebnisse darauf schließen, dass ökonomische,
medienpolitische und individuell motivierte Einflüsse eine immer
größere Rolle spielen.

"Die Studie ist das argumentative Fundament für eine längst
überfällige Diskussion über das gespannte Wechselverhältnis von
Politik und Medien. Die ungewöhnlich selbstkritischen Analysen
führender Journalisten sind das Startsignal für eine Verbesserung der
Qualitätsstandards und eine Reduktion der dokumentierten Defizite",
sagte der Vorsitzende von Netzwerk Recherche, Dr. Thomas Leif, bei
der Vorstellung der Studie am Donnerstag in Wiesbaden. Auf der
NR-Jahreskonferenz am kommenden Wochenende in Hamburg stehen alle
Themen der "Hauptstadtstudie" auf der Tagesordnung.

Zentrale Ergebnisse

Die Schwerpunkte der Studie - Selbstverständnis, Agenda Setting,
Politische Kommunikation und Recherche-Netzwerke - dokumentieren
insgesamt einen Korrekturbedarf im Hauptstadtjournalismus, auf den
sich auch die praktischen Handlungsempfehlungen stützen. Die
teilweise alarmierenden Mängel und deren Auswirkungen auf die
politische Kommunikation setzen an folgenden Kritikpunkten an:

* Die Befragten lassen eine grundsätzliche kritische, in Teilen
auch selbstkritische Haltung zur Arbeitssituation in der Hauptstadt
erkennen - ohne konkrete Verbesserungsideen und -ansätze im eigenen
Berufsalltag präsentieren zu können.

* Die Hauptstadtjournalisten fordern einerseits mehr
Selbstreflexion und medienjournalistische Berichterstattung, sind
selbst aber nicht bereit oder fähig, die notwendigen Freiräume dafür
zu schaffen, obwohl sie in den geeigneten Führungspositionen
innerhalb der Redaktionen sitzen.

* Wettbewerbs- und Beschleunigungsdruck durch Online-Angebote und
Agenturen zwingen Journalisten wie Politiker in ein Hamsterrad, das
es beiden Seiten erschwert, den Überblick zu behalten. Die Folge u.a.
Häppchenjournalismus und eine problematische Kurzatmigkeit in der
Behandlung von Sachthemen.

* Die Boulevardisierung sorgt im gesamten Medienfeld dafür, dass
der Pressekodex weiter ausgehöhlt wird: Das Privatleben von
Politikern ist selbst für traditionelle Qualitätsmedien kein Tabu
mehr, wenn es durch das aggressive Vorgehen der Boulevardpresse auf
die Agenda gehoben wird und so zwangsläufig politische Relevanz
erhält.

* Die Recherchesituation der Hauptstadtjournalisten ist
ambivalent: Die Informationsbeschaffung ist gekennzeichnet durch das
prekäre Verhältnis von Medien und Politik, das sich im Zusammenspiel
von Nähe und Distanz, Ausnutzung und Anfreundung manifestiert.

* Hintergrundkreise stellen nach wie vor eine der wichtigsten
Recherchequellen für Hauptstadtjournalisten dar, drohen aber durch
Indiskretionen nutzlos zu werden. Das (professionelle) Vertrauen
zwischen dem politischen und dem journalistischen Personal wurde in
der Vergangenheit bereits nachhaltig erschüttert.

* Für die Recherche gilt, dass aktualitätsgebundene Redaktionen
weniger recherchieren als andere, Zentralredaktionen eine umfassende
Recherche gar nicht erst erwarten, Recherchen - im ökonomischen und
ideellen Sinn - nicht angemessen honoriert werden und das Miteinander
von Journalisten und Politikern generell einen
'Zuckerbrot-und-Peitsche-Prinzip' folgt.

Für die vom Netzwerk Recherche e. V. in Auftrag gegebene Studie,
erschienen ist, wurden im Zeitraum November 2007 bis März 2008
insgesamt 33 Vertreter unterschiedlicher Medien, Sprecher
ausgewählter Ministerien sowie Lobbyisten und Berater befragt, u. a.
Dr. Thomas Steg (Stellvertretender Regierungssprecher), Günter Bannas
(FAZ), Nico Fried (Süddeutsche Zeitung), Martin Bialecki (dpa),
Sabine Adler (Deutschlandfunk), Tissy Bruns (Tagesspiegel), Iris
Bethge (Pressesprecherin BMG), Ulrike Hinrichs (Pressesprecherin
BMELV), Michael Spreng (Berater), Lars Kühn (Fraktionssprecher SPD),
Christoph Schmitz (Fraktionssprecher Bündnis 90/ Die Grünen), Jürgen
Hogrefe (EnBW), Christoph Schwennicke (Der Spiegel), Michael
Donnermeyer (IZ Klima), Dr. Richard Meng (Berliner Senatssprecher),
Margret Heckel (Die Welt), Peter Frey (ZDF), Ulrich Deppendorf (ARD),
Holger Schmale (Berliner Zeitung), Dr. Gunter Hofmann (Die Zeit) und
Mainhardt Graf von Nayhauß-Cormons (Bild, Bunte).

Die Studie kann unter www.netzwerkrecherche.de herunter geladen
werden, oder gegen einen adressierten und frankierten A4-Umschlag
kostenfrei bei: Netzwerk Recherche e. V. Walkmühltalanlagen 25 65195
Wiesbaden bestellt werden.

Autoren:
Dr. Stephan Weichert
Leif Kramp
Institut für Medien- und Kommunikationspolitik gGmbH
Fasanenstraße 73, 10719 Berlin
Tel 030 / 88 00 13 90 -0
Fax 030 / 88 00 13 90-30
Mobil 0170/ 310 51 38 (Weichert)
http://www.medienpolitik.eu

Originaltext: netzwerk recherche
Digitale Pressemappe: http://www.presseportal.de/pm/50273
Pressemappe via RSS : http://www.presseportal.de/rss/pm_50273.rss2

Pressekontakt:
Kontakt Netzwerk Recherche (nr): Dr. Thomas Leif 0171/ 9321891


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