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Debatte über Denkverbote / Der Streit um die "Cancel Culture"in den USA schafft einen künstlichen Gegensatz. Rechenschaft und Meinungsfreiheit schließen sich nicht aus, sondern bedingen einander.

Geschrieben am 22-07-2020

Regensburg (ots) - Eine alte Debatte kommt in neuem Gewande. Im Jahr 1991 beklagte der damalige Präsident George H. W. Bush in einer Feierstunde für die Absolventen der "University of Michigan" zu viel "politische Korrektheit" in den USA. Die "PC"-Kultur werde von dem Wunsch getrieben, die Überbleibsel von Rassismus, Sexismus und Hass zu beseitigen. Tatsächlich aber schaffe sie neue Ungerechtigkeiten, indem sie bestimmte Themen, Begriffe und Gesetze verbiete. Bush unterschlug den Kontext der Reagan-Jahre, die zunächst in akademischen Zirkeln das Bewusstsein für die in Sprache, Kultur und Alltag tief verankerten Vorurteile schärfte. Das Pendel schwang in die Gegenrichtung und schlug dabei manchmal grotesk über das Ziel hinaus. In dem seit dem amerikanischen Bürgerkrieg nie zu Ende gegangenen Kulturkampf setzte sich "Politische Korrektheit" als Schimpfwort der amerikanischen Rechten durch, um Forderungen nach gesellschaftlich längst überfälligen Reformen zu neutralisieren. Der "PC"-Begriff hat über die Jahre Patina angesetzt. An seine Stelle tritt nun der Begriff "Cancel Culture" (dt. Streichkultur). US-Präsident Donald Trump klagte in seiner Rede von Mount Rushmore unter Bezug auf den Aktivismus der "Black Lives Matter"-Bewegung, dies sei "die eigentliche Definition von Totalitarismus". Dafür gebe es in den USA keinen Platz. Was er mit "Streichkultur" meinte, blieb so schwammig wie der Gebrauch von "Cancel Culture" in der öffentlichen Debatte. Der gemeinsame Nenner besteht darin, dass auf gesellschaftlichen Druck kulturelle Symbole fallen oder Personen über ihr Tun und Sagen Reputation, Arbeit oder Aufgaben verlieren. Entstanden als Reaktion auf die von Trump geschürte weiße Opferkultur mit ihrem unverblümten Rassismus und Sexismus schlägt das Pendel diesmal mit der vollen Wucht der elektronischen Netzwerke als Antrieb einmal mehr zurück. Getragen von einer neuen Generation, die sich als "Erwachte" oder "wokes" versteht, und die von alten weißen Männern geprägten Machtstrukturen in Frage stellt. Frauen bringen in der #MeToo-Bewegung nicht nur Harvey Weinstein, sondern Hunderte andere zu Fall. "Black Lives Matter" zieht Polizisten zur Verantwortung. Und stürzt Denkmäler, die für nicht aufgearbeitete Geschichte und strukturellen Rassismus stehen. Latinos rufen zum Boykott des Konservenherstellers "Goya" auf, weil dessen Chef einen Präsidenten überschwänglich lobt, der Kinderflüchtlinge in Käfige sperrt. Problematischer wird es, wenn die verantwortlichen Redakteure bei der "New York Times" ihren Job verlieren, weil sie auf der Meinungsseite den Abdruck des polemischen Beitrags eines republikanischen US-Senators erlaubten. Oder wenn der Unternehmenssprecher von Boeing gehen muss, weil er sich vor 30 Jahren gegen Frauen im Militär ausgesprochen hatte. Dass Trump am lautesten über Denkverbote klagt, zeigt, wie absurd die Debatte ist. Der "König der Cancel Culture" versuchte gerade erst, die Bücher seiner Nichte Mary und seines ehemaligen nationalen Sicherheitsberaters John Bolton streichen zu lassen. Der Reality-TV-Star, der sich mit den Worten "You are fired" einen Namen gemacht hat, hat schon so viele Mitarbeiter seiner Regierung "gecancelt" wie kein anderer Präsident vor ihm. Und seine Boykottaufrufe reichen von A wie Apple bis Z wie Zentralamerika. Der Begriff der "Cancel Culture" suggeriert eine falsche Alternative. Rechenschaft und freie Rede sind kein Widerspruch, sondern bedingen einander. Denn aus der öffentlichen Kritik wächst die Kraft der dringend nötigen Veränderung.

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