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Landeszeitung Lüneburg: Europa droht ein neues Wettrüsten Der sicherheitspolitische Experte Dr. Ulrich Kühn sieht in uneiniger EU einen Spielball im Ringen der Großmächte

Geschrieben am 12-08-2019

Lüneburg (ots) - Von Joachim Zießler

Mit dem INF-Vertrag kollabierte das Herzstück der Abrüstung im
Kalten Krieg. Steht nun die Sicherheit Europas auf dem Spiel, wie
NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg meint? Dr. Ulrich Kühn: Das
klingt zwar alarmistisch, aber leider muss man sagen, dass durch das
Wegbrechen des INF-Vertrages eine der Säulen der kooperativen
Sicherheit zwischen Russland und dem Westen verschwindet. Es gibt
nicht mehr viele Verträge, die uns bleiben. Zerbröselt die
Rüstungskontrolle weiter in dem Maße, fallen wir auf einen Zustand
zurück, wie wir ihn zuletzt vor Ausbruch der Kuba-Krise hatten.

Wenn die USA Beweise dafür haben, dass die russische Rakete 9M729
wie eine Mittelstreckenwaffe eine Reichweite von über 500 Kilometern
hat - was Moskau bestreitet -, warum legen sie diese nicht vor? Ich
gehe schon davon aus, dass die USA Beweise für diese Behauptung
haben. Wir dürfen nicht vergessen, dass der Vorwurf eines Bruchs des
INF-Vertrages nicht von der Regierung Trump erhoben wurde, sondern
erstmals von der Obama-Administration. Und unter Barack Obama war die
US-Regierung nicht nur pro Rüstungskontrolle, sie stand sogar für
Abrüstungsinitiativen. Obama hatte das Ziel einer "globalen Null"
ausgegeben. Deswegen ziehe ich diese Aussage über den von der NATO
SSC-8 genannten Flugkörper nicht in Zweifel. Ich denke, dass die
Amerikaner Geheimdienstinformationen haben. Und hier liegt die Crux:
Präsentiert man diese Informationen Moskau, kompromittiert man seine
Quelle.

Inwieweit verstoßen die in Rumänien stationierten US-Startgeräte
der Raketenabwehr gegen den INF-Vertrag, wie der Kreml behauptet? Ich
kenne die technischen Spezifikationen der MK-41-Abschussrampen in
Rumänien nicht. Aber es braucht nach Angaben von Experten aus den USA
nicht sehr viel, um ein solches defensives System in ein offensives
umzurüsten - konkret müsse man nur eine andere Software auf das
System laden. Wenn das stimmt, verstehe ich die russischen
Befürchtungen.

Der INF-Vertrag gilt als erfolgreich, weil er als einziger eine
ganze Waffengattung verbot. Wurde er ausgehöhlt, weil seegestützte
Marschflugkörper mittlerweile die Funktionen bodengestützter
Mittelstreckenraketen übernommen haben? Man kann schon sagen, dass
wir in den vergangenen 25 Jahren eine Proliferation, also eine
Weiterverbreitung von INF-Waffen erlebt haben. Nämlich horizontal,
indem sich neue Länder Mittelstreckenraketen zugelegt haben. Vor
allem in Asien sind neue Player aufgetaucht: Iran, Pakistan, Indien,
Südkorea, Japan und China haben massiv in diese Waffensysteme
investiert. Aber auch vertikal wurden diese Waffen weiterverbreitet,
weil die Systeme besser geworden sind. Marschflugkörper werden von
Schiffen und Flugzeugen abgeschossen, verfügen zum Teil über
Tarnkappen-Technologie und sind extrem zielgenau. Heutzutage bedarf
es gar nicht mehr nuklearbestückter Marschflugkörper, auch
konventionell ausgerüstete können - in der entsprechenden Anzahl -
destabilisierend auf die Sicherheitslage wirken.

Als klassische Landmacht verfügt China vor allem über viele
bodengestützte Mittelstreckenraketen. Die USA wollen dagegenhalten.
War der INF ohnehin todgeweiht? Man sollte nicht vergessen, dass die
USA noch immer die mit Abstand stärkste Militärmacht sind. Wenn also
nun in Washington argumentiert wird, man müsse aus dem INF-Vertrag
raus, um mit landgestützten Systemen nachrüsten und Peking zeigen zu
können, wo der geopolitische Hammer hängt, halte ich das nicht für
nachvollziehbar. Aber tatsächlich ist es so, dass die USA China als
den großen geopolitischen Konkurrenten des 21. Jahrhunderts
ausgemacht haben. Also macht man das, was man in der Vergangenheit
schon im Ringen mit der Sowjetunion gemacht hat: Man versucht dort zu
punkten, wo man stark ist - also vor allem im militärischen Bereich.
Und bei einem derartigen Denken ist ein ausgewiesener
Abrüstungsvertrag natürlich im Weg.

Im Weg war zuletzt einiges: 2001 kippte George W. Bush den
ABM-Vertrag über die Begrenzung der Raketenabwehr, 2007 suspendierte
Russland den KSE-Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa,
nun starb der INF-Vertrag. Haben wir nach dem zu erwartenden
Auslaufen des New-START-Vertrages über die Verringerung strategischer
Atomwaffen im Nuklearbereich bald gar keine vertraglichen Grenzen
mehr? Ich teile die Befürchtung hinsichtlich des New-START-Vertrages.
Der läuft im Februar 2021 aus. Die Trump-Regierung hat gesagt, dass
sie wenig Interesse hat, diesen Vertrag zu verlängern, geschweige
denn durch einen neuen und vielleicht restriktiveren Vertrag zu
ersetzen. Wenn aber New START wegfällt, ist die bilaterale
Rüstungskontrolle tot. Was dann noch der Staatengemeinschaft zur
Verfügung steht, sind zwei extrem wichtige, multilaterale Verträge.
Zum einen der Nichtverbreitungsvertrag und der nukleare
Teststopp-Vertrag. Und beide Verträge stehen unter massivem Druck.
Washington hat in den vergangenen Wochen bereits gegen den
Teststopp-Vertrag polemisiert. Und beim Nichtverbreitungsvertrag
besteht die Gefahr, dass die anderen Staaten sich ein schlechtes
Beispiel an den USA und Russland nehmen. Nach dem Motto: Wenn die
sich nicht mehr an das Abkommen halten, brauchen wir das auch nicht
mehr tun. Und dann gibt es nichts mehr, das uns vor einem globalen
Rüstungswettlauf schützt.

Drohen US-Mittelstreckenwaffen im Baltikum und russische in
Venezuela? Die Spekulationen über eine mögliche Stationierung in
Venezuela halte ich für eine Ente. Gleichwohl droht uns in Europa
innerhalb der nächsten fünf Jahre ein neues Wettrüsten mit
Mittelstreckenraketen. Das wird wahrscheinlich nicht das Ausmaß wie
während des Kalten Krieges erreichen, als wir tausende SS-20- und
Pershing-Raketen zählten. Es muss noch nicht mal zwangsläufig auf
nukleare Systeme hinauslaufen. Aber auch konventionelle
Marschflugkörper und ballistische Raketen sind inzwischen extrem
destabilisierend. Ich denke, dass die NATO hier in den nächsten
Jahren auf Druck der USA nachziehen wird. Es wird nicht mehr lange
dauern, bis eine Anfrage aus Washington kommt, neue, bodengestützte
Marschflugkörper in Europa zu stationieren. Dann stellen sich für uns
die Fragen: Quo vadis, Europa? Quo vadis, Deutschland?

Quo vadis, Europa - diese Frage stellt sich beim geopolitischen
Ringen der USA mit China und Russland. Ist das notorisch uneinige,
zerbröselnde Europa nur noch Verfügungsmasse? Es besteht die Gefahr,
dass der "schwache Mann Europa" von den Großmächten noch weiter
geschwächt wird, weil wir weit von einer einigen Position entfernt
sind. Russland zerrt von Osten mithilfe neuer Mittelstreckenraketen.
Die USA werden die Osteuropäer gegen die Westeuropäer ausspielen. Die
Südeuropäer sind ohnehin der Auffassung, dass nicht Russland das
wesentliche Sicherheitsproblem Europas ist, sondern vielmehr die Lage
in Nordafrika und im Nahen Osten. So gesehen ist Europa tatsächlich
nur Verhandlungsmasse bei einem Thema, das genuin europäische
Sicherheitsinteressen berührt.

Als Mitglied im UN-Sicherheitsrat hat Deutschland das Thema
Rüstungskontrolle auf die Agenda gehoben. Hätte ein Vorstoß in
Richtung auf ein Mittelstreckenraketen-Verbot in Europa bei
gleichzeitiger Freigabe der Waffe generell Erfolgsaussichten? Das
Problem ist, dass Europa nicht mit einer Stimme spricht. Eine
mittelstreckenwaffenfreie Zone Europa klingt aus deutscher Sicht sehr
verlockend. Balten und Polen dürften dieser Vision aber skeptisch
gegenüberstehen weil sie Russland nicht vertrauen. Deshalb ist es so
wichtig, mit der russischen Seite auch über das Thema Verifikation zu
sprechen, also über die Frage, wie sich eine solche Zone denn
überhaupt überprüfen ließe, damit der Kreml nicht heimlich Raketen
westlich des Urals stationiert. Das ist nicht einfach, aber auch
nicht unmöglich. Hier muss die Bundesregierung dranbleiben.

Ist das der einzige Weg, die Spaltung in stationierungswillige und
-unwillige Staaten zu verhindern? Deutschland muss daran gelegen
sein, dass die NATO eine ausbalancierte Position zwischen Stärke und
Dialogbereitschaft einnimmt. Stärke heißt in diesem Fall, dass man
Wladimir Putin die Stationierung von Mittelstreckenwaffen nicht
durchgehen lassen darf. Hier sind eventuell auch militärische
Gegenmaßnahmen nötig. Aber das müssen nicht zwangsläufig neue,
konventionelle Mittelstreckenwaffen in Europa sein. Das können
Maßnahmen bei der Raketenabwehr oder rotierenden Bomber-Verlegungen
sein - also konventionelle Systeme. Gleichzeitig - und hier ist
Deutschland besonders gefordert - muss man an einem neuen
Rüstungskontroll-angebot an Russland stricken. Und da ist die NATO im
Moment eher schwach aufgestellt.

Was müsste dies Angebot beinhalten, damit es für den Kreml
attraktiv ist? Es müsste die Amerikaner mit an Bord bringen,
ansonsten wäre es für Putin irrelevant.

Zur Person

Dr. Ulrich Kühn ist stellvertretender Leiter des
Forschungsbereichs "Rüstungskontrolle und Neue Technologien" am
Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der
Universität Hamburg. Er ist außerdem ein Non-Resident Scholar des
Nuclear Policy Program, Carnegie Endowment for International Peace,
sowie Gründer und Ständiges Mitglied der trilateralen
Deep-Cuts-Kommission. Letztere setzt sich aus russischen,
amerikanischen und deutschen Experten zusammen, die bei ihrer
Gründung 2013 tiefe Schnitte in die Nukleararsenale vordenken sollte
und nun versucht, den Niedergang der Rüstungskontrolle zu verhindern.
Zuvor arbeitete Ulrich Kühn für das Vienna Center for Disarmament and
Non-Proliferation, die Helmut-Schmidt-Uni und das Auswärtige Amt.



Pressekontakt:
Landeszeitung Lüneburg
Werner Kolbe
Telefon: +49 (04131) 740-282
werner.kolbe@landeszeitung.de

Original-Content von: Landeszeitung Lüneburg, übermittelt durch news aktuell


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