(Registrieren)

Mittelbayerische Zeitung: Leitartikel zum Tag der deutschen Einheit: Unrundes Jubiläum von Reinhard Zweigler

Geschrieben am 01-10-2018

Regensburg (ots) - Eine freudetrunkene Gemeinschaft von Tausenden
vor dem Reichstag in der Nacht zum 3. Oktober 1990. Wehende Fahnen,
Hymne, Feuerwerk. Und Helmut Kohl, der Kanzler der Einheit, der von
der glücklichsten Stunde in der deutschen Geschichte sprach. Und er
hatte recht. In einer friedlichen Revolution, ohne einen Tropfen Blut
zu vergießen, ohne dass ein Schuss fiel, wurde die staatliche Einheit
der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg wieder hergestellt. Erst war
die Mauer von Wir-sind-das-Volk-Ostdeutschen zum Einsturz gebracht
worden. Ein knappes Jahr später wurde auf der Grundlage des
deutsch-deutschen Einigungsvertrages sowie der Zustimmung der
einstigen Siegermächte - im Zwei-plus-Viervertrag - die Einheit
vollzogen. Fortan konnte zusammen wachsen, was zusammen gehört, wie
es Willy Brandt kurz nach dem Mauerfall prophezeit hatte. Der Aufbau
Ost ist seitdem wirklich eine Erfolgsgeschichte. Eine marode
Infrastruktur, Autobahnen, Brücken, Telekommunikation, Schienenwege,
wurden mit einem Milliardenaufwand modern aufgebaut. In Teilen der
"alten" Länder kann man davon nur träumen. In 40 Jahren
Staatssozialismus herunter gekommene Städte wie Dresden, Erfurt,
Leipzig oder Potsdam erstrahlen in altem, neuem Glanz. Blühende
Landschaften gibt es im Osten tatsächlich. Das haben die Steuerzahler
in West und Ost auch mit dem Solidarzuschlag bezahlt. Eine gewaltige
Leistung. Allerdings gehört zur ungeschminkten Bestandsaufnahme des
Aufbaus Ost auch, dass nicht alle Blütenträume reiften. Der
diesjährige 29. Tag der Einheit markiert ein unrundes Jubiläum. Auch
die Entwicklung in "Neufünfland" verlief nicht ganz rund. Nicht nur
von den harten Fakten her. Das ostdeutsche Durchschnittseinkommen
erreicht nicht einmal drei Viertel des westdeutschen Wertes. Die
Wirtschaft im Osten ist kleinteiliger, nicht so leistungsstark,
exportorientiert und innovativ wie die im Westen. Die Schere zwischen
West und Ost ist zuletzt sogar wieder auseinandergegangen. Hinzu
kommt, dass die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse, wie es
im Politsprech heißt, auch eine kulturelle, eine politische, eine
emotionale Seite hat. Und das ist vielleicht sogar die schwierigere.
Ostdeutsche schauen etwas neidisch gen Westen. Und hier werden
Ostdeutsche zum Teil immer noch als undankbar, mit der Demokratie
unzufrieden und obendrein anfällig für Rechtspopulisten und
-Extremisten betrachtet. Pegida und eine große AfD-Anhängerschaft
stehen dafür, dass viele - beileibe nicht alle - Ostdeutschen auch 29
Jahre nach der staatlichen Einheit nicht im vereinten Deutschland
angekommen sind, sich nicht heimisch fühlen, fremdeln. Kritik an der
Flüchtlingspolitik der ostdeutschen Kanzlerin wird besonders
aggressiv im Osten geübt. Dahinter steckt offenbar auch die Furcht,
den mühsam erworbenen Wohlstand nun wieder verlieren zu können. Hinzu
mag das Gefühl kommen, immer noch Bürger zweiter Klasse zu sein und
"von denen da oben" nicht ernst genommen zu werden. Ein Gefühl, dass
sich auch bei vielen Westdeutschen einzustellen scheint. Es ist
seltsam: Die deutsche Einheit ist, objektiv betrachtet, gewaltig
vorangekommen. Doch viele Menschen fühlen sich unwohl, haben wenig
Vertrauen in die Politik und den Staat - oder gar keines mehr. Es
herrscht eine Art November-Blues, und zwar in Ost und West.
Vielleicht hilft die Erinnerung an jene unbändige "Wahnsinns"-Freude,
die ganz Deutschland vor drei Jahrzehnten erfasst hatte, um das
Feuer, die Leidenschaft, die Emotionen wieder zu entfachen, die nach
29 Jahren Einheit nur noch zu glimmen scheinen. Die deutsche Einheit
ist im grauen Alltag, in den Mühen der Ebene angekommen, wie Brecht
sagen würde. Andere Länder übrigens beneiden die Deutschen um ihre
Probleme.



Pressekontakt:
Mittelbayerische Zeitung
Redaktion
Telefon: +49 941 / 207 6023
nachrichten@mittelbayerische.de

Original-Content von: Mittelbayerische Zeitung, übermittelt durch news aktuell


Kontaktinformationen:

Leider liegen uns zu diesem Artikel keine separaten Kontaktinformationen gespeichert vor.
Am Ende der Pressemitteilung finden Sie meist die Kontaktdaten des Verfassers.

Neu! Bewerten Sie unsere Artikel in der rechten Navigationsleiste und finden
Sie außerdem den meist aufgerufenen Artikel in dieser Rubrik.

Sie suche nach weiteren Pressenachrichten?
Mehr zu diesem Thema finden Sie auf folgender Übersichtsseite. Desweiteren finden Sie dort auch Nachrichten aus anderen Genres.

http://www.bankkaufmann.com/topics.html

Weitere Informationen erhalten Sie per E-Mail unter der Adresse: info@bankkaufmann.com.

@-symbol Internet Media UG (haftungsbeschränkt)
Schulstr. 18
D-91245 Simmelsdorf

E-Mail: media(at)at-symbol.de

656689

weitere Artikel:
  • Frankfurter Rundschau: Vorteil Trump Frankfurt (ots) - Und der Gewinner ist: Donald Trump. Der US-Präsident hat im Streit mit seinen Nachbarn seinen Willen bekommen. Zwar konnte er sich in den Handelsauseinandersetzungen mit Kanada und Mexiko nicht in allen Punkten durchsetzen, wie man das bei Verhandlungen übrigens nie kann, aber er hat genug eingeheimst, um damit bei seinen Wählern zu punkten. Gerade rechtzeitig, um in den im November anstehenden sogenannten Midterm-Elections, bei denen das Repräsentantenhaus und ein Drittel des Senats neu gewählt werden, zusätzliche mehr...

  • Birgit Bessin: "Woidkes Jubelzahlen zur Arbeitslosenstatistik sind nichts als Augenwischerei" (FOTO) Potsdam (ots) - Rot-Rot in Potsdam bejubelt die Arbeitslosenzahlen für den September. Erstmals seit der Wende sei die Arbeitslosenquote unter 6 % gesunken. Doch genauerer Betrachtung halten diese roten Zahlen in der Realität nicht stand. Zum einen gibt es riesige Unterschiede: In berlinfernen Regionen wie der Uckermark liegt die Arbeitslosigkeit mit fast 11 % unvermindert hoch, in Teilen des Speckgürtels ist sie mit 3,7 % (Landkreis LDS) sehr niedrig. Außerdem werden - wie immer bei den Zahlen der Agentur für Arbeit - Arbeitslose mehr...

  • Thomas Jung: "Rot-Rot bildet viel zu wenig Polizisten aus. Schlechte Bedingungen lassen junge Polizisten aus Brandenburg abwandern." (FOTO) Potsdam (ots) - Die Polizei im Land Brandenburg hat rund 8100 Bedienstete. Um die Abgänge auszugleichen und die Mitarbeiterzahl auf 8250 zu erhöhen, müssten mehr als dreimal so viele wie die derzeit 127 Absolventen der Fachhochschule in Oranienburg dort ihre Zeugnisse erhalten. Der innenpolitische Sprecher der AfD-Fraktion im Landtag Brandenburg, Thomas Jung, meint dazu: "Als finanzielle Schlussleuchte neben Berlin bietet Brandenburg vielen jungen Menschen einfach nicht genügend Attraktivität im Polizeiberuf. Immer mehr...

  • Straubinger Tagblatt: Die deutsche Einheit, ein unvollendeter Prozess Straubing (ots) - Für diesen Prozess ist der Tag der Deutschen Einheit ein starkes Symbol. Steht er doch für die Überwindung eines Überwachungs- und Unrechtsstaats durch friedlichen Bürgerprotest. Für den unbändigen Freiheitswillen des Menschen, der Mauern und Zäune überwindet. So ist die deutsche Einheit nicht nur ein vollendetes historisches Ereignis oder ein Datum aus den Geschichtsbüchern. Sondern die Verpflichtung, Trennendes zu überwinden, ein gemeinsames Ziel, ein Prozess , der nie zu Ende ist. Pressekontakt: Straubinger mehr...

  • Andreas Kalbitz: "Braunkohle-Kraftwerk Jänschwalde geht vom Netz - Region verliert 1500 Arbeitsplätze" (FOTO) Potsdam (ots) - Andreas Kalbitz, Vorsitzender der AfD-Fraktion im Landtag Brandenburg, erklärt zum Kohleausstieg in der Lausitz und dem damit verbundenen Arbeitsplatzabbau: "Jetzt kommt der GroKo-Kohleausstieg - und die Arbeitsplätze in der Lausitz gehen verloren. Bei der Durchsetzung der schwarz-rot-dunkelrot-grünen sogenannten Energiewende können sich die Ideologen der Altparteien feiern, während die Menschen verlieren. Laut WELT verlieren 600 Arbeitnehmer ihren Job allein bei der LEAG - und in der Region um Jänschwalde mehr...

Mehr zu dem Thema Aktuelle Politiknachrichten

Der meistgelesene Artikel zu dem Thema:

LVZ: Leipziger Volkszeitung zur BND-Affäre

durchschnittliche Punktzahl: 0
Stimmen: 0

Bitte nehmen Sie sich einen Augenblick Zeit, diesen Artikel zu bewerten:

Exzellent
Sehr gut
gut
normal
schlecht