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Mittelbayerische Zeitung: Leitartikel zu Maaßen: Schleichendes Gift von Christian Kucznierz

Geschrieben am 11-09-2018

Regensburg (ots) - Es hat ein paar Stunden gedauert, bis
verschiedene Redaktionen das umstrittene Video, das einen Übergriff
auf einen Migranten zeigt, verifizierten. Wetter, Szenerie, Umfeld,
das alles deutete klar auf Chemnitz am Tag der Demonstration von
Rechtsextremen hin. Es ist eine Szene, die sich nirgendwo abspielen
darf, vor allem nicht in Deutschland; sie zeigt eine rassistisch
motivierte Tat, Hass und Gewalt gegen eine Minderheit auf offener
Straße. Die Debatte darüber, welcher Begriff dafür zu verwenden ist,
ist aber nicht eine rein semantische. Es geht sehr wohl darum, welche
Worte wir verwenden, um Dinge zu benennen. Denn, wie in diesen Tagen
deutlich wird: Unklarheiten, das vorschnelle Verbreiten von
Gerüchten, die Entrüstung ohne die Kenntnis der Fakten oder das
bewusste Verdrehen von Tatsachen treiben einen Keil in unsere
Gesellschaft. Sie untergraben den Zusammenhalt. Sie unterminieren den
grundlegenden Glauben daran, dass es Institutionen gibt, denen man
vertrauen kann. Sie sind ein schleichendes Gift. Hans-Georg Maaßen
mag vielleicht wirklich einen berechtigten Zweifel gehegt haben, ob
in der öffentlichen Debatte um die Vorfälle in Chemnitz nicht
zumindest in Teilen vorschnell geurteilt wurde. Denn es stimmt ja: Es
waren voreilige Behauptungen über die Hintergründe des tödlichen
Vorfalls in der Stadt, die sich über die Netzwerke verbreiteten und
Hooligans und Neonazis auf die Straße brachten. Die Frage aber, die
Maaßen bislang nicht beantwortet hat, ist, wie er die Echtheit
anzweifeln konnte, wenn es technisch heute selbst
Nicht-Geheimdienstlern möglich ist, Fotos und Videos zu verifizieren.
Dass Maaßen nun offenbar zurückrudert und angibt, nur gesagt haben zu
wollen, dass das Video keinen Beleg für Hetzjagden liefere, ist eine
faule Ausrede. Aber auch hier gilt: Ob er das gesagt hat, wissen
bislang nur einige Mitglieder des Innenministeriums und der
Bundesregierung - und offenbar einige Journalisten, die Maaßens
Bericht in den Händen halten. Maaßen ist aber mutmaßlich nur das
jüngste Beispiel für ein Vorgehen, das sich in unserer Gesellschaft
verfestigt: das vorschnelle und oft reflexartige Reagieren auf
Nachrichten, ohne deren Wahrheitsgehalt geprüft oder gar angezweifelt
zu haben. Wir mögen in einer postfaktischen Welt leben, in der die
Wahrheit immer nur eine Annäherung ist, eine mögliche Betrachtung der
Realität. Und es mag wahr sein, dass es absolute Wahrheiten nur in
Diktaturen gibt, weil dort Sichtweise auf Dinge vorgegeben wird. Aber
wir wissen spätestens seit Donald Trump um die Macht der bewussten
Verdrehung von Tatsachen und das Ausblenden von Grautönen in der
öffentlichen Diskussion. Die Debatte etwa um Hetzjagden in Chemnitz
verstellt den Blick darauf, dass es Übergriffe gab: auf Ausländer,
auf Journalisten, auf Polizisten. Es gibt Anzeigen, es gibt Videos,
die nicht angezweifelt werden. Die Tatsache, dass früh von Hetzjagden
gesprochen und geschrieben wurde, hat aber Mitschuld daran, dass die
Taten von Chemnitz in den Hintergrund getreten sind, zumindest eine
Zeit lang. Wer nicht klar benennt, was passiert und was nicht
passiert ist, erzeugt eine Unschärfe, in der Wahrheit verschwinden
kann. Er gibt den Rechtsextremen in Chemnitz die Chance, ihre Taten
zu relativieren. Er liefert eine Steilvorlage für Fake-News- und
Lügenpresse-Vorwürfe. Und er liefert den Feinden der Demokratie einen
Vorwand, demokratische Institutionen als unglaubwürdig darzustellen.
Wenn diese Institution dem Schutz der Verfassung dient und das
Misstrauen durch seinen Leiter oder dessen Verhalten gesät wird, muss
er gehen. Wenn wir alle aber bereitwillig immer öfter durch laute,
vorschnelle Reaktionen Gerüchte zu Wahrheiten machen oder umgekehrt,
entfaltet das schleichende Gift seine Wirkung.



Pressekontakt:
Mittelbayerische Zeitung
Redaktion
Telefon: +49 941 / 207 6023
nachrichten@mittelbayerische.de

Original-Content von: Mittelbayerische Zeitung, übermittelt durch news aktuell


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