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Landeszeitung Lüneburg: Versuchsballon in Warteschleife Konstantin Kuhle, Generalsekretär der Landes-Liberalen betont: "FDP und Grüne sind keine natürlichen Feinde"

Geschrieben am 30-08-2018

Lüneburg (ots) - Von Joachim Zießler

Lüneburg. Im Parlament ist der 29 Jahre alte Konstantin Kuhle noch
ein liberaler Grünschnabel. Doch obwohl er erst seit 2017 für die FDP
im Bundestag sitzt, hat sich der langjährige Vorsitzende der Jungen
Liberalen nicht versteckt. Im Gegenteil. Vor zwei Tagen widersprach
er Partei-Urgestein Wolfgang Kubicki, als der Angela Merkel eine
Mitverantwortung für die Ausschreitungen in Chemnitz zuschob. Niemand
werde wegen des vor genau drei Jahren gefallenen Spruches - "Wir
schaffen das!" - zum Rassisten, befand der Generalsekretär der
niedersächsischen FDP. Im März konterte er Roman Reusch von der AfD
aus. Als der ehemalige Staatsanwalt das unbefristete Einsperren
ausländischer Gefährder forderte, las ihm der liberale Anwalt die
Leviten: Wer als Jurist Verfassungswidrigkeit ein "Totschlagargument"
nenne, entlarve sich selbst als Verfassungsfeind, sagte Kuhle. Im
Interview der Woche lehnt Kuhle die von der CDU angeregte allgemeine
Dienstpflicht als "Sommerlochthema" ab und begrüßt die Annäherung der
"Diskursparteien" FDP und Grüne. In dem Versuch seiner Partei, mit
der Bewegung "En Marche" des französischen Präsidenten Emmanuel
Macron eine Fraktionsgemeinschaft im Europäischen Parlament zu
bilden, sieht er sogar eine "historische Chance".

Bereuen Sie die liberale Absage an Jamaika? Konstantin Kuhle:
Nein. Wenn ich mir vorstelle, dass die gegenwärtige Diskussion über
die Aufnahme oder Zurückweisung von Flüchtlingen zwischen CSU und
Grünen geführt würden, wären die Konflikte vermutlich deutlich
schärfer verlaufen. Hier wäre einer Jamaika-Koalition auf die Füße
gefallen, dass in den Gesprächen manche Grundsatzentscheidungen
umschifft wurden, beispielsweise die über den Familiennachzug. Eine
Richtungsentscheidung war in diesen Sondierungsgesprächen nicht
möglich. Die von der großen Koalition beschlossene Beschränkung des
Familiennachzugs auf 1000 Personen im Monat bewerten wir kritisch,
weil diese Beschränkung ohne klare Kriterien für die Behörden nicht
umzusetzen ist. Zudem ist klar, dass es auch Monate geben kann, in
denen mehr Menschen Zuflucht gewährt werden muss.

Derzeit profitieren die Grünen vom Jamaika-Aus, während die FDP
stagniert. Nur eine Momentaufnahme? Ich habe immer höchsten Respekt
davor, wenn politische Mitbewerber bei Umfragen und Wahlen
reüssieren. Letztendlich ist es für die FDP ein großer
Vertrauensvorschuss, wieder im Bundestag vertreten zu sein. Und die
Umfragewerte liegen mit etwa zehn Prozent da, wo sie auch vor der
Wahl lagen. Das ist in Ordnung. Ich denke aber schon, dass wir auf
Bundes- wie auf Landesebene lernen müssen, dass Grüne und FDP keine
natürlichen Feinde sind, sondern gute Kollegen und interessante
Gesprächspartner sein müssen. Deswegen begrüße ich es sehr, dass auf
Landesebene diskutiert wird, was es an möglichen gemeinsamen
Projekten gibt. Auf Bundesebene haben wir das bereits mit der
gemeinsamen Initiative zur Abschaffung des Kooperationsverbotes im
Bildungssektor gemacht. Diese Verständigung bei einzelnen Projekten
gab es vor den Jamaika-Gesprächen zu selten. Anderenfalls hätte es
vielleicht funktioniert.

Ein natürlicher Feind schien für die FDP lange auch Emmanuel
Macron zu sein - etwa wegen seiner Forderung eines eigenen Budgets
für die Eurozone. Jetzt liebäugeln die Liberalen damit, mit En Marche
eine gemeinsame Fraktion im Europaparlament zu bilden. Erliegt die
FDP dem Charme des Franzosen? Die FDP muss die historische Chance
nutzen, bei der Europawahl 2019 in eine Fraktion der Mitte mit "En
Marche" aus Frankreich zu gehen. Es wäre eine Dummheit, diese
Gelegenheit vorübergehen zu lassen. Liberaler als mit Macron wird es
in Frankreich nicht. Er reformiert den öffentlichen Dienst, das
Rentensystem, den Arbeitsmarkt und legt den Fokus auf den
Bildungsbereich. Er verkörpert eine Kultur der Innovationsfreude, die
ich mir auch in Deutschland wünschen würde. Das heißt nicht, dass man
in einer Fraktionsgemeinschaft nicht auch mal anderer Meinung sein
kann, etwa über die Notwendigkeit eines eigenen Eurozonen-Budgets.
Aber angesichts der fortwährenden Angriffe Donald Trumps auf den
Multilateralismus, angesichts des Brexits kann man es sich nicht
erlauben, die ausgestreckte Hand der Franzosen nicht zu ergreifen. 

Kann man von Macron auch Siegen lernen? Von der Art, mit einer
neuen Bewegen die arrivierten Parteien auf die Plätze zu verweisen?
Ich denke, das politische System Frankreichs unterscheidet sich dafür
zu stark vom deutschen. In einer Präsidialdemokratie kommt es
zwangsläufig zu einer starken Personalisierung - verstärkt noch durch
das relativ schwache Parlament. Ich bin froh über den starken
Parlamentarismus in Deutschland, würde mir bisweilen sogar einen
stärkeren wünschen - etwa zur Stärkung der Rechte der Opposition im
Niedersächsischen Landtag gegenüber der großen Koalition. Was man
aber von Macron lernen kann, ist, dass man auch mit einer positiven
Botschaft Wahlen gewinnen kann. Bis dahin galt die Aussage, dass man
mit der Europa-Flagge auf seinen Wahlveranstaltungen und der Aussage,
pro-europäisch zu sein, auf jeden Fall die Wahl verlieren wird.
Macron hat damit gewonnen.

Ist es nicht eher bedrohlich, dass sich gewachsene Parteiensysteme
in gestandenen Demokratien wie Frankreich und Österreich so schnell
pulverisiert werden? Scheitert Macron an der Unreformierbarkeit
Frankreichs, wartet Le Pen. Das bekümmert mich in der Tat sehr.
Zugleich ist dieses Phänomen aber auch ein Auftrag, über reale
Reformen nachzudenken. Macron ist mit seinen Reformen zum Erfolg
verdammt. Deshalb sind in Deutschland Regierung und Opposition, also
auch die FDP verpflichtet, ihn bei seinem Vorhaben zu unterstützen.
Tatsächlich erleben wir derzeit in vielen Ländern, wie der Respekt
vor demokratischen Institutionen schwindet. Das liegt auch am Umgang
von Politikern untereinander. Wochenlanger, lähmender Streit, an
dessen Ende ein unpraktikabler Kompromiss steht - wie beim
Familiennachzug - steigert den Unmut nur weiter.

Sie selbst haben als Zivildienstleistender gedient. Warum lehnen
Sie eine allgemeine Dienstpflicht ab, obwohl Umfragen dafür
Mehrheiten suggerieren? Ich selbst habe meinen Zivildienst beim Roten
Kreuz abgeleistet, zum Teil in der Altenbetreuung. Das war eine
bereichernde Erfahrung in der Findungsphase nach der Schule. Ich
glaube aber, dass jeder junge Mensch eine solche Entscheidung über
einen Dienst an der Gesellschaft freiwillig treffen sollte. Mit dem
Bundesfreiwilligendienst haben wir ein Instrument geschaffen, das
Männer und Frauen nutzen können. Die aktuellen Bufdi-Zahlen sind
vergleichbar mit denen des ehemaligen Zivildienstes. Dazu kommen die
Möglichkeiten, ein freiwilliges soziales Jahr oder einen freiwilligen
Wehrdienst anzutreten. Diese Vielfalt charakterisiert unsere
Gesellschaft. Deshalb geht für die FDP Freiwilligkeit vor Zwang.
Damit junge Menschen ein entsprechendes Verantwortungsgefühl
entwickeln können, sollte in der Schule mehr darüber gesprochen
werden, was einem persönlich ein Jahr Dienst an der Gesellschaft
bringt. Denkbar wäre auch, anschließend einen Bonus bei der
Studienplatzvergabe oder einen zusätzlichen Rentenpunkt zu gewähren.
Die Wehrpflicht zu propagieren, nachdem man gerade die
Kreiswehrersatzämter abgewickelt hat, ist hingegen eine Idee für die
Sommerpause.

Wäre eine Dienstpflicht nicht dennoch eine gute Antwort auf eine
zerfallene Gesellschaft, in der sowohl im Hartz-IV-Ghetto als auch
hinter den Mauern um Villen in Parallelgesellschaften gelebt wird?
Wir müssen in dieser Gesellschaft einen verstärkten Austausch
zwischen den Milieus organisieren. Wenn Durchlässigkeit nur auf dem
Papier besteht, leidet auf Dauer unser demokratisches Gemeinwesen.
Der Austausch zwischen den sozialen Schichten muss aber über das
Bildungssystem erfolgen. Dazu bedarf es einer neuen Wertschätzung für
die berufliche Bildung abseits akademischer Grade. Ich glaube aber
nicht, dass die Bundeswehr, die Pflege oder die Betreuung von
Behinderten Reparaturbereiche für anders gelagerte gesellschaftliche
Probleme sein können. Dazu ist die Spezialisierung in diesen
Bereichen mittlerweile viel zu weit fortgeschritten. Junge Menschen
in diese Dienste zu pressen, um Probleme an anderer Stelle zu
beheben, ist nicht mehr zeitgemäß.

Trotz des Attributes "nicht mehr zeitgemäß" starte ich noch einen
Vorstoß: Ist eine Bringschuld gegenüber der Staatsform angesichts
zunehmender Demokratiegleichgültigkeit oder sogar -feindlichkeit
nicht sogar eine sehr aktuelle Idee? Es ist tatsächlich ein Dilemma,
dass ausgerechnet jene Generationen, die das Entstehen demokratischer
Strukturen nicht mehr erlebt haben, sich von den demokratischen
Strukturen entfernen. Die Errungenschaften der Demokratie - Frieden
und Wohlstand - führen dazu, dass die Jüngeren das Alternativmodell
dazu nicht mehr erlebt haben. Ich glaube aber nicht, dass junge
Menschen Gewalt- oder Hungererfahrungen gemacht haben müssen, um gute
Demokraten zu sein. Sie sollten aber Erfahrungen mit offener
Diskussion gemacht haben. Und in diesem Punkt gibt es in den Schulen
eine allzu große Reserviertheit. Ich würde mir wünschen, dass es vor
jeder Wahl in allen Bildungseinrichtungen Podiumsdiskussionen mit
Vertretern der politischen Parteien gibt. Bisher wird die Schule
zumeist gegen politische Diskussionen abgeschottet. Diese falsch
verstandene Neutralität macht keinen Sinn in einem Bundesland wie
Niedersachsen, in dem man mit 16 Jahren bei Kommunalwahlen und mit 18
den nächsten Bundestag wählen darf. Dazu passt, dass die jüngste
Shell-Jugendstudie ein Ansteigen des politischen Interesses
feststellt.

Eingangs sagten Sie, dass FDP und Grüne keine natürlichen Feinde
seien. Noch konsequenter als Christian Lindner gegenüber Jamaika
haben sich allerdings Niedersachsens Liberale nach der Landtagswahl
einer Ampel-Koalition verweigert. Haben Sie mittlerweile eingesehen,
dass angesichts schwächelnder Volksparteien Zweier-Konstellationen
unrealistisch sind? Es ist immer richtig, nach der Wahl zu tun, was
man vorher angekündigt hat. Insofern war die damalige Entscheidung
richtig. Allerdings erleben wir derzeit, wie die politischen Ränder
erstarken - einerseits durch die Linke, aber besonders herausfordernd
durch den Aufstieg der AfD am rechten Rand. Wenn man aber Koalitionen
mit den Parteien an den Flügeln aus voller Überzeugung ablehnt, wie
die FDP, ist es eine Frage der Verantwortung für das Land,
Konstellationen unter Einschluss zweier diskursorientierter Parteien,
wie es Grüne und FDP sind, auszuloten. Wir müssen miteinander reden,
damit sich das Auseinanderdriften der sozialen Milieus nicht unter
den Parteien fortsetzt.

Zur Person:

Konstantin Kuhle (29) ist seit dem April Generalsekretär der
niedersächsischen FDP. Er ist seit 2017 Mitglied des Deutschen
Bundestages, sitzt im EU- und im Innenausschuss. Der gebürtige
Wolfenbüttler ist Rechtsanwalt und vier Jahre von 2014 an
Bundesvorsitzender der Jungen Liberalen.



Pressekontakt:
Landeszeitung Lüneburg
Werner Kolbe
Telefon: +49 (04131) 740-282
werner.kolbe@landeszeitung.de

Original-Content von: Landeszeitung Lüneburg, übermittelt durch news aktuell


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