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Landeszeitung Lüneburg: Ohne linke Antworten droht ein Schwenk nach rechts Grünen-Urgestein Hans-Christian Ströbele findet den Ruf der CSU nach einer "Konservativen Revolution" absurd

Geschrieben am 23-08-2018

Lüneburg (ots) - Von Joachim Zießler

Wie bewerten Sie das Vermächtnis der 68er-Revolte? Hans-Christian
Ströbele: Die Außerparlamentarische Opposition (APO) hat Ende der
60er-Jahre den Anstoß für radikale, ja, revolutionäre Veränderungen
der Gesellschaft gegeben - die ich auch heute nicht missen möchte.
Betrachtet man etwa den Wandel in der Einstellung zu Familien, zur
Liebe oder zur Erziehung, ist kaum noch vorstellbar, was in den 50er-
und 60er-Jahren im Gesetz stand und als richtig galt. Hätte mir
damals jemand gesagt, dass es mal möglich sein würde, seinen schwulen
Partner zum Standesamt und vor den Altar zu führen, hätte ich ihn für
irre gehalten. Selbst die heute so alltäglichen Wohngemeinschaften
waren damals ebenso wenig akzeptiert wie uneheliche Kinder oder die
Berufstätigkeit alleinerziehender Mütter. So gab es Modernisierungen,
bei denen man gar nicht an die 68er denkt - weil deren Anstoß
fortwirkte - zum Beispiel in der Frauenbewegung. Die 68er waren
dominiert von Männern und hatten wenig mit der Gleichberechtigung am
Hut. Das Aufbegehren, das der Emanzipation zum Durchbruch verhalf,
begann damals. Vieles, was später von den Grünen vertreten wurde, kam
aus der 68er-Bewegung.

Ist ein grüner Ministerpräsident ein Triumph der 68-er-Bewegung
oder deren Verrat? Ein grüner Ministerpräsident ist eine Chance zu
weiterer Modernisierung, die noch zu wenig genutzt wird. Könnte
Winfried Kretschmann im Daimler-Land Baden-Württemberg eine grünere
Agenda verfolgen? Mir ist die Nähe zur Großindustrie zu groß.
Sicherlich braucht man sie, um Jobs und Wohlstand zu sichern. Aber
ein wenig mehr persönliche Distanz, macht zuweilen notwendige
radikale Veränderungen sowie deren Durchsetzung und Vermittlung
einfacher.

Der einst starke linke Flügel der Grünen schwächelt, geht der Zug
trotz des Scheiterns von Jamaika zur Schwarz-Grünen Koalition? Das
ist leider unübersehbar. Ich war gegen Jamaika und entsprechend froh,
als die geplante Koalition von Union, FDP und Grünen geplatzt war.
Und wenn man etwa die derzeitige Flüchtlingspolitik von Innenminister
Seehofer nimmt, ist schwer vollstellbar, dass Grüne und CSU da einen
Konsens gefunden hätten. Die Rückweisung von Flüchtlingen an der
Grenze zu Lasten deren Rechte als bloße Symbolpolitik, um im
bayerischen Landtagswahlkampf punkten zu können, wäre für die Grünen
nicht tragbar gewesen. Die Liste der Unvereinbarkeiten zieht sich hin
bis zu den Kriegseinsätzen. Ich bin kein Pazifist, habe etwa in den
80ern Geld für Waffen gesammelt, als das Volk von El Salvador gegen
seine Militärdiktatur aufstand, aber dass die Koalition (Union/SPD)
die Bundeswehr immer häufiger zu Kampfeinsätzen ins Ausland schickt,
habe ich stets abgelehnt und bekämpft.

Wieso brauchten ausgerechnet die Grünen, die es sich hoch
anrechneten, alles in Frage zu stellen, Jahrzehnte, um das
Verharmlosen von Sex mit Kindern in den eigenen Reihen zu
verurteilen? In Bund und Ländern haben die Grünen das schwieriges
Kapitel doch schneller aufgearbeitet. Wenn gesellschaftliche Gruppen
die Verhältnisse radikal in Frage stellen, zieht das Leute an, die
noch weiter gehen wollen auch aus persönlichen Interessen. Als die
Grünen in Fortführung der Ideale der 68er gegen überholte und
verklemmte Einstellungen zur Sexualität angingen, grenzen sie sich
nicht deutlich genug von denen ab, die dies noch weiterdrehen
wollten. Viele berücksichtigten zu wenig das Kindeswohl.

Die Partei hatte Straffreiheit für "einvernehmliche Sexualität
zwischen Erwachsenen und Kindern" gefordert... Nee. So weit ging es
denn doch nicht. Unserer Debattenkultur ließ auch nicht zu, nach der
Polizei zu rufen, als das Podium des Parteitages in Nürnberg, von
einer "Indianerkommune" gestürmt wurde, um uns zu zwingen, über die
Freigabe der Sexualität mit Kindern zu debattieren. Die Tagesordnung
wurde unterbrochen, um über den Abzug zu diskutieren. Man versuchte,
sie ruhigzustellen. Es gab durchaus heftige Diskussionen. Nach zwei
Stunden ging es mit der Tagesordnung weiter. Es gab keine Mehrheit
für Pädophilie und die Befassung mit dem Thema.

Inwieweit war die 68er-Revolte eine deutsche, weil sie das
bleierne Schweigen zu den Verbrechen in der NS-Zeit aufbrach und
inwieweit bloß internationaler Widerhall, weil in West und Ost die
Zeichen auf Aufbegehren standen? Wir sahen uns international als Teil
der weltweiten APO-Bewegung. In jedem Land, in dem es 1968 gärte, gab
es andere Hauptprobleme. In den USA stand der Kampf der Schwarzen um
volle Bürgerrechte im Vordergrund. Italien litt schon damals unter
extrem verkrusteten Parteien. Hinzu kam eine militante Rechte, die
einen quasi-faschistischen Staat herbeibomben wollte. In Frankreich
war die APO so stark, daß sie den Präsident fast zum Rücktritt zwang,
weil sie die Gewerkschaften auf ihrer Seite hatte. Gleich war
allerdings in allen Ländern der Kampf gegen den Vietnamkrieg und der
Antrieb, die Freiheits- und Selbstbestimmungsrechte voranzubringen.
Und natürlich der Sound der Musik die allen gemeinsam war. Von Bob
Dylan, Joan Baez, den Beatles bis The Who gab es eine Musik, die das
Lebensgefühl traf und ausdrückte. Erinnert sei etwa an "Respekt" von
Aretha Franklin, "Revolution" von den Beatles oder "Street Fighting
Man" von den Stones.

Sind die 68er beim Kampf gegen Geschichtsvergessenheit
gescheitert, wenn Alexander Dobrindt ausgerechnet mit dem Namen einer
antidemokratischen Bewegung der Weimarer Republik, der "Konservativen
Revolution" noch mal gegen 68 antreten will? Das kann ich nicht ernst
nehmen. Die CSU soll doch mal konkret sagen, welche Errungenschaften
der damaligen Zeit sie zurückdrehen will. Sollen künftig Frauen
wieder ihre Männer um Erlaubnis fragen müssen, ob sie arbeiten
dürfen? Sollen Eltern und Lehrer Kinder wieder züchtigen dürfen? Soll
der Zuhälterei angeklagt werden können, wer als Vermieter zulässt,
dass erwachsene Mieter Damenbesuch haben? Das ist doch absurd. Dieser
Vorstoß ist offensichtlich geboren aus dem konservativen Gefühl, es
gäbe in den Medien eine Dominanz linker Meinungen. So richtig ich es
finde, alles zu hinterfragen und gerade heute auch wieder eine
radikale Änderung der Politik zu fordern. Die Regierungen scheinen
unfähig, die Probleme bei uns, in Europa und der Welt zu lösen.

Welche Umbruchzeit hat Sie stärker geprägt, die Jahre als
RAF-Anwalt von Andreas Baader oder die 21 Jahre im Deutschen
Bundestag? Das kann man nicht vergleichen. Ich war gerne
Abgeordneter, denke auch, dass ich einiges angestoßen habe. Ich hätte
auch gern weitergemacht. Aber jetzt ist es an der Zeit, dem Körper
Respekt zu zollen und kürzer zu treten. Die APO-Phase hat meine
Tätigkeiten über Jahre sehr stark bestimmt - allerdings nicht so, wie
es in der Öffentlichkeit dargestellt wurde. Ich war keineswegs nur
Verteidiger von RAF-Leuten, war vielmehr auch Mitglied einer
Anwaltskanzlei mit normalen Mandanten. Von RAF-Mandaten konnten wir
nicht leben. Zudem hatte ich mich damals stark für die
südamerikanischen Befreiungsbewegungen engagiert. Würden Sie meine
Familie befragen, bekämen Sie wahrscheinlich zu hören, dass ich
damals keinen Kopf hatte für Dinge, die nichts mit meinem Leben als
linker Anwalt zu tun hatten.

Der RAF-Terror kam damals aus der Mitte der Gesellschaft, ausgeübt
von den Söhnen und Töchtern des Bürgertums. Heute sagt man das auch
vom Terror von rechts, etwa der NSU. Befürchten Sie angesichts einer
zunehmenden Polarisierung in der Gesellschaft eine neue Terrorwelle,
diesmal von rechts? Nein, das befürchte ich derzeit nicht. Zwar habe
ich als Mitglied des parlamentarischen Untersuchungsausschusses zu
den NSU-Morden in einen Abgrund völligen staatlichen Versagens
geblickt. Diese Mordserie war nur möglich, weil bis zuletzt die
Gefahr eines Rechts-Terrorismus geleugnet wurde. Von der Polizei, dem
Verfassungsschutz bis hoch zur Regierung wollte man diese Gefahr
nicht wahrhaben. Es herrschte in den Strafverfolgungsbehörden eine
Art struktureller Rassismus vor, der dazu verleitete, bei Morden an
Türken reflexartig in Richtung türkische Mafia zu recherchieren.
Derzeit ist beinahe täglich rechte terroristische Gewalt zu erleben.
Gelingt es nicht, eine linke Alternative zur Lösung all der Probleme
zu definieren, an denen sich die Politik derzeit die Zähne ausbeißt,
droht uns in Europa ein massiver Rechtsschwenk.

Zur Person

Hans-Christian Ströbele ist der einzige Grüne, der in seinem
Bundestagswahlkreis ein Direktmandat erringen konnte. Durchaus auch
gegen die eigene Partei: "Ich habe Plakate mit dem Spruch drucken
lassen - "Ströbele wählen, heißt Fischer quälen". Aber das habe der
Parteichef dem Parteilinken nicht übel genommen. 2017 trat Ströbele
nach 21 Jahren im Bundestag nicht mehr an. Aus gutbürgerlichem Hause
stammend, wurde Ströbele in der 68er-Bewegung politisiert. Ab 1970
verteidigte er RAF-Terroristen. Weil er mithalf, ein
Informationssystem unter den in Einzelhaft isolierten Gefangenen
aufzubauen, wurde er 1975 von der Verteidigung ausgeschlossen und
1980 wegen Unterstützung einer kriminellen Vereinigung zu einer
Bewährungsstrafe verurteilt.



Pressekontakt:
Landeszeitung Lüneburg
Werner Kolbe
Telefon: +49 (04131) 740-282
werner.kolbe@landeszeitung.de

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