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Landeszeitung Lüneburg: "Ordnung in die Fluchtwellen bringen" - Grünen-Chef Robert Habeck will, dass seine Partei bald Antworten auf die großen Fragen der Zukunft liefert

Geschrieben am 01-03-2018

Lüneburg (ots) - Ist es Augenwischerei, die Verbannung älterer
Diesel aus den Städten zu ermöglichen, weil man das Weniger an
Stickoxiden mit einem Mehr an CO2'' erkauft?

Robert Habeck: Fahrverbote für Diesel-Pkw werden die deutsche
Klimabilanz in der Tat nicht verbessern, weil mehr Benziner in den
Innenstädten den Ausstoß des Klimakillers Kohlendioxid erhöhen.
Deshalb braucht es eine umfassendere Verkehrswende. Letztlich wird
sich Mobilität in Zukunft weit jenseits der Frage "Diesel oder
Benziner?" entwickeln. Sie muss sehr bald emissionsarm und absehbar
emissionsfrei sein. Und die Art, wie wir uns von A nach B bewegen,
wird sich ändern: Öffentlicher Nahverkehr und Individualverkehr
werden enger verzahnt. Statt zehntausende Euro für ein neues Auto
auszugeben, teilen sich jetzt schon immer mehr Leute Autos und werden
dadurch unabhängiger und flexibler. Eines Tages wird man vielleicht
monatliche Beiträge zahlen, um Busse, Bahnen, Pkw und E-Bikes nutzen
zu können. Letztlich kann das die Kosten für die Gesellschaft und die
Bürger senken.

Woran wird die Einführung einer blauen Plakette und die
Nachrüstung alter Diesel mit Katalysatoren dieses Mal scheitern?

Habeck: Im Augenblick scheitert beides an der Ängstlichkeit und
der Lobbyismus-Empfänglichkeit der Bundesregierung. Dabei hat sie es
in der Hand, die Autohersteller zu verpflichten, Diesel nachzurüsten,
und zwar auf deren Kosten, nicht auf die von Autofahrern. Das ist
kein Vodoo. Geschieht nichts, ist das falsche Rücksichtnahme auf
Konzerne, die wissentlich betrogen haben. Genauso die Blaue Plakette:
Sie muss kommen, denn die Bundesregierung kann es nicht zulassen,
dass in den Städten eine vielfarbige Plakettenarmada entsteht und
jeder Autofahrer für jede Innenstadt neu eine Einfahrtserlaubnis
beantragen muss.

Würden die Tricksereien der Konzerne mit Steuergeldern
ausgeglichen, wäre das für die Grünen wohl die Kirsche auf der Torte?

Habeck: Das wäre ein dicker Hund. Die Autokonzerne dürfen für
ihren Betrug nicht mit Steuergeld belohnt werden. Ein solcher Gedanke
ist angesichts der Milliardengewinne der Konzerne mehr als
befremdlich.

Was hatte Jamaika in Sachen Verkehrswende geplant?

Habeck: Ehrlicherweise muss ich sagen: Die Verhandlungen waren da
sehr schwergängig. Die CSU hatte uns damals keine Bretter zum Bohren
gegeben, sondern Bahnschwellen. Der damalige Verkehrsminister
Alexander Dobrindt und der designierte neue, Andreas Scheuer, haben
sich als auf der Seite der Automobil-Lobbyisten stehend erwiesen.

Sie haben bei den GroKo-Verhandlungen eine Leitidee vermisst.
Reicht Ihnen die Verankerung des Heimatschutzes in einem Ministerium
nicht?

Habeck: Nein, überhaupt nicht. Die Menschen in Deutschland und
Europa spüren offenbar, dass sich die Welt gerade derart schnell
wandelt, dass die alten Ordnungssysteme ins Trudeln geraten. Und
viele haben das Gefühl, dass die Politik nicht mehr die Kontrolle
hat. Das hat in der Flüchtlingskrise 2015 ein Bild gefunden, aber die
Ursachen liegen ja viel tiefer. So stand die Politik in der
Finanzkrise ohnmächtig daneben, während die Banken ihre Deals
abwickelten. Ähnliches gilt für die Kriege der Welt. Wird gefragt,
wie befrieden wir Syrien, zuckt die Politik mit den Achseln. Und
gleichzeitig fühlen sich viele Menschen abgehängt. Ich glaube, wir
müssen die Institutionen und die öffentliche Infrastruktur stärken:
also Universitäten, Altenheime, Kitas, den öffentlicher Nahverkehr im
Innern sowie die internationale Zusammenarbeit nach außen. Wenn man
so drauf schaut, hat das durchaus etwas mit dem Begriff Heimat zu tun
gehabt, verstanden als Wunsch nach Halt. Diesen Wunsch aber in eine
neue Abteilung im Innenministerium zu übersetzen, veralbert das
Bedürfnis der Menschen nach Orientierung.

Wie hätten die Grünen in einer Jamaika-Konstellation Orientierung
gegeben über die Stärkung der Institutionen hinaus?

Habeck: Wir brauchen ein neues Garantieversprechen für den
Sozialstaat. Ein gutes Beispiel ist die Kinderarmut. Viele nehmen
nicht mal ihre Rechte wahr und beantragen die Kinderzulage. In
Jamaika hätten wir es immerhin geschafft, dass diese automatisch
ausgezahlt werden sollte. Aber das ist nur ein Schritt. Menschen in
besonders sensiblen Lebenslagen - im Alter, während der Ausbildung
oder der Kinderzeit - sollten das, was man fürs Leben wirklich
braucht, als Garantieleistung direkt ausgezahlt bekommen - etwa eine
Kindergrundsicherung. Das schafft eine Grundsicherheit - bei allen
Unwägbarkeiten des Lebens - und wahrt die Würde. Dazu ist es unsere
Aufgabe, gerade als eine Partei, die sich stark der Humanität
verpflichtet fühlt, Ordnung in die Fluchtwellen zu bringen. Damit
Kommunen planen können, wie viele Kita-Plätze sie bereithalten
müssen. Wir können es hinkriegen, eine weltoffene Gesellschaft mit
einer geregelten Zuwanderung und einer gesteuerten Integration zu
versöhnen.

Union und SPD gehen mit deutlichem Überdruss in die GroKo. Sollten
sie dies nach außen deutlicher machen, um das Murren ihrer Anhänger
zu dämpfen?

Habeck: Viel deutlicher können Union und SPD nicht machen, dass
sie eigentlich miteinander fertig sind. In einem gewissen Sinne tun
mir beide leid. Sie haben keinen Bock mehr aufeinander. Die Flucht
der SPD in die Opposition war mehr als verständlich. Nun muten sie
sich diesen Tort zu. Da habe ich durchaus Respekt davor. Dennoch ist
es kläglich, große Verhandlungserfolge zu behaupten, obwohl man weder
Familiennachzug - also die Zusammenführung von durch Krieg und Flucht
zerrissenen Familien - noch die Abschaffung der sachgrundlosen
Befristung noch die Bürgerversicherung erreichen konnte.

Am Wochenende wählt Italien, ein Rechtsruck wird befürchtet. Haben
Jamaika und GroKo das schmale Zeitfenster bereits geschlossen, das
Macron mit seinem EU-Reform-Vorstoß aufgestoßen hat?

Habeck: Das hoffe ich nicht. Macron hat Recht damit, dass nur
Veränderung Sicherheit bringt. Europa muss solidarischer werden, wenn
es zusammenhalten soll. Weg von den nationalen Egoismen, hin zu einer
wirklichen europäischen Gemeinschaft. Zu einem Europa, das seine
Bürger schützt. Dahin zu kommen ist gerade alles andere als leicht.
Aber die Europawahl nächstes Jahr ist die Chance dafür.

In den wenigen Wochen unter dem Duo Baerbock/Habeck haben die
Grünen bereits die alten Zöpfe Trennung von Amt und Mandat sowie
Flügelproporz in der Spitze gekappt. Was steht als Nächstes an?

Habeck: Das waren bisher nur Formalien. Im April starten wir mit
unserem auf zwei Jahre angelegten Prozess für ein neues
Grundsatzprogramm. Wir wollen die Zeit nutzen, um die wirklich großen
Fragen zu stellen, ohne dass wir jetzt wissen, in welche Welt unsere
Antworten in zwei Jahren fallen werden. Fragen wären etwa: Wo sollen
die ethischen Grenzen für künstliche Intelligenz liegen? Wie ähnlich
dürfen Roboter uns sein? Wo ziehen wir angesichts der Möglichkeiten
und der Gefahren der Gentechnik und der Reproduktionstechnologien die
Grenzen? Wenn der Druck der Robotik auf die Arbeit anhält, muss dann
nicht die Abgabenlast von der Arbeit weg? Brauchen wir eine
Robotersteuer? Wie können umweltschädliche Industrien für die
Umweltschäden zahlen statt subventioniert zu werden?

Bisher ist der Erfolg der Grünen eng an den Wohlstand der Bürger
gekoppelt. Je gesicherter die Menschen leben, desto höher der
Stimmenanteil. Warum wird die Partei nicht von denen gehört, die sich
abgehängt fühlen?

Habeck: Das liegt vor allem an unserem Image. Also: irgendwie
kulturell anders zu sein, anders zu sprechen, anders zu essen,
veganen Milchschaum zu bevorzugen. Dabei sind wir vom Programm schon
jetzt keine klassische Klientelpartei, die die egoistischen Ansprüche
ihrer Mitglieder befriedigt. Wir haben in vielem - bei Steuern,
Kindergrundsicherung, Pflege, unseren Ideen für eine starke
öffentliche Infrastruktur - Antworten für die Breite der
Gesellschaft. Und auch die ökologische Frage ist eine soziale. Wer
wohnt denn an den Straßen mit schlechter Luft? Wohl nicht die
SUV-Fahrer mit Villa. Aber unsere Aufgabe ist es, noch stärker in die
Gesellschaft hineinzuwirken. Aus meinen fast sechs Jahren als
Minister im auch ländlichen Schleswig-Holstein ziehe ich dafür
Optimismus. In den Jahren ist auf Seiten derer, die von unserer
Politik betroffen sind, die Wertschätzung gewachsen. Weil wir
rausgegangen sind, die Probleme ernst genommen und nach Lösungen
gesucht haben. Ich hoffe, die Fischer, deren Fanggebiete, Netzlängen
und Fangquoten ich reduziert habe, werden sagen, mit dem Habeck
konnte man trotzdem reden, der hat Wort gehalten. Ähnliches gilt
hoffentlich für Landwirte, Jäger und Küstenschützer. Die Chance
besteht darin, nahbar zu sein, indem man aus dem Elfenbeinturm
Politik herauskommt. Wahrscheinlich bringt es für uns in
Ostdeutschland nichts, mit Lautsprechern von der Marktplatzbühne
runterzurufen. Stattdessen sollten wir im Wahlkampf über die Dörfer
tingeln, um am Gartenzaun zu schnacken. So könnte gegenseitiger
Respekt entstehen. Das Interview führte Joachim Zießler



Pressekontakt:
Landeszeitung Lüneburg
Werner Kolbe
Telefon: +49 (04131) 740-282
werner.kolbe@landeszeitung.de

Original-Content von: Landeszeitung Lüneburg, übermittelt durch news aktuell


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